Das Prinzip „arbeite, wann du willst und wo du willst“ wird bei Unternehmen, aber auch bei Beschäftigten aus unterschiedlichen Gründen immer beliebter. Dabei haben beide Seiten einiges zu beachten.
Der funkelnagelneue Schnellbahnzug in Richtung Flughafen Wien-Schwechat lässt sicherlich all jene Fahrgäste erblassen vor Neid, die aus ihrem Land nur veraltete, dreckige, rumpelnde Züge eines seit der Privatisierung sich selbst und dem eigenen Verfall überlassenen Bahnbetriebs kennen. Die moderne Flughafenschnellbahn hingegen ist angenehm klimatisiert, mit WLAN, Sonnenblenden, Klapptischchen und an jedem Sitzplatz mit einer Steckdose und einer Deckenleuchte ausgestattet. Und sie bietet gleichzeitig einen Vorgeschmack auf unser Fahrtziel: den neu errichteten Erste Campus, einen Steinwurf vom neuen Hauptbahnhof entfernt, im Arbeiterbezirk Favoriten, aber mit Ausblick auf das Schloss Belvedere im 4. Bezirk. Zur Freude nicht nur des Vorstands der als bürgerlich geltenden Bank – schließlich wurde die Unternehmenszentrale am noblen Graben im 1. Bezirk hierher verlegt.
Der Erste Campus, der von 2013 bis 2016 bezogen wurde, vereint jetzt sämtliche Abteilungen der international tätigen Bank – einzige Ausnahmen: das Call Center und die IT-Abteilung. Rund 5.000 MitarbeiterInnen tauschten ihre alten, renovierungsbedürftigen Büros in mehreren, oft denkmalgeschützten Gebäuden mit einem Hightech-Glaspalast, der eigentlich aus mehreren „Kipferl“ besteht. Die Gebäudeteile glänzen, nach einem architektonisch ausgeklügelten Konzept, durch gebogene Glasfronten, die ermöglichen sollen, dass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter bei der Arbeit auch ins Grüne blicken kann. In einen der begrünten Innenhöfe, zum Schweizer Garten oder Belvedere-Garten. Zwar kommt man zum Arbeiten her, betritt man jedoch das Hauptgebäude, könnte man sich genauso gut in einer riesigen, aber betont ruhigen Lobby eines Hotels der gehobenen Kategorie – Rezeption inklusive – mit Kunstinstallationen wähnen. Mehrere Cafés, die öffentlich zugänglich sind, laden zum Trinken, Essen, Tratschen oder eben auch zum Arbeiten ein. Selbstverständlich gibt es eine Bankfiliale und einen Betriebskindergarten.
Herzstück des Bürokonzepts nach dem letzten Schrei ist die Möglichkeit, (fast) überall am Campus den tragbaren Firmencomputer aufklappen und arbeiten zu können – „working anywhere“. Im Prinzip können die Angestellten überall dort arbeiten, wo gerade ein Platz frei ist. Das soll maximale Flexibilität in örtlicher Hinsicht erlauben, Hierarchien verflachen. Bis auf kleinere und größere Besprechungszimmer hinter Türen gibt es keine verschließbaren Büroräume. Das gilt natürlich für den Vorstand ebenso. Denn die Devise war: entweder alle oder niemand.
Den Arbeitstag treten die Angestellten beim „Meeting Point“ in der eigenen „Homebase“ an: Der „Meeting Point“ ist ein gemütlicher Eingangsbereich, wo Fauteils, Kaffee und Tee bereitstehen. Die „Homebase“ ist jener Gebäudetrakt, dem die MitarbeiterInnen zugeordnet sind, wo sie einen „Locker“, einen verschließbaren Spind, zur Verfügung haben, und wo sie sich einen Arbeitsplatz suchen können. Je nach anstehenden Aufgaben setzen sie sich mit ihrem Laptop an einen „Hot desk“, in einen Besprechungsraum, in eine Zone mit sechs bis acht gemeinschaftlichen Arbeitsplätzen oder in den Bereich der Einzelarbeitsplätze im Großraumbüro. So haben alle einen persönlichen Bereich von etwa einem Meter Regalbreite; die Regale sind genauso wie die Deckenverkleidung mit Lärm schluckendem Material (etwa aus der Automobilindustrie) versehen.
„Ein erfolgreiches Konzept für eine neue Arbeitswelt muss umfassend sein und alle Aspekte, von Möblierung und IT bis zur MitarbeiterInnenverpflegung, berücksichtigen und darauf abstimmen“, unterstreicht denn auch die Betriebsratsvorsitzende der Erste Group, Barbara Pichler. „Es wird nur dann funktionieren, wenn sie gemeinsam mit den MitarbeiterInnen eingeführt wird“, erklärt sie gegenüber der KOMPETENZ. Notwendig sei ein sinnvolles Changemanagement, das die MitarbeiterInnen von Beginn an konsequent einbeziehe. „Neue Arbeitsformen passieren nicht automatisch nur wegen neuer Gegebenheiten, sondern müssen lange vorher und laufend gelernt, geübt und begleitet werden.“
Ein Großraumbüro mit erweitertem „desk sharing“, das täglich freie Platzwahl erlaubt, ist nicht automatisch das Gelbe vom Ei. Beispielsweise hat die Allianz Versicherung vor mehr als zehn Jahren bereits eine Art „free seating“ eingeführt. Dazu wurden die MitarbeiterInnen auch mit Trolleys etwa für den Laptop etc. ausgestattet. Diese Neuorganisation des Büroalltags habe anfangs gut funktioniert, sich im Laufe der Zeit aber als ineffizient herausgestellt – außer bei einzelnen Projekten, erzählt ein langjähriger Mitarbeiter, der lieber anonym bleiben möchte. Er zieht einen Küchenvergleich heran: „Wie ein Gericht, das nicht so schlecht war, das man andererseits auch nicht noch einmal gekocht haben möchte.“
Auch am Erste Campus fallen die Reaktionen der Beschäftigten unterschiedlich aus. Die einen sind froh, sich innerhalb ihrer zugeteilten Zone unterschiedliche Arbeitsorte, sogar im Garten oder in der Cafeteria, wählen zu können. Die anderen fühlen sich nicht mehr als Individuum und kommen mit der ständig wechselnden sozialen Umgebung weniger gut zurecht. Schwierig ist es zudem, fixe emotionale Anker wie Familienfotos am Arbeitsplatz zu platzieren. Ein derart progressives Arbeitsmodell des Technologiezeitalters scheint „für die Seele mitunter anstrengend“, meint Clara Fritsch vom Beirat für Arbeit und Technik (BAT) in der GPA-djp. Dislozierte Arbeit hat etwa eine langjährige Tradition in den Heimarbeiterinnen der Textilbranche. Heute plädiert die Gewerkschaftsvertreterin insbesondere für die Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen und Arbeitszeit bei Teleworking.
Im 21. Jahrhundert ist ständige Präsenz nicht unbedingt erforderlich, um berufstätig zu sein. Andererseits steht die Option zu Telearbeit, Homeoffice, Desk Sharing, Free Seating oder Großraumbüro nicht jeder Branche offen. Dennoch entwickelt sich die Arbeitswelt generell permanent weiter: Die innerbetrieblichen Abläufe, Kommunikation, wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen, technische Möglichkeiten und damit die Arbeitsbedingungen und letztlich die Menschen selbst verändern sich. Im Beirat für Arbeit und Technik der GPA-djp arbeiten daher BetriebsrätInnen privatwirtschaftlicher Unternehmen aus verschiedenen Branchen gemeinsam mit ExpertInnen aus Theorie und Praxis an Lösungen und Gestaltungsvorschlägen.
Irene Krenn, Betriebsratsvorsitzende von Novartis, ist ebenfalls Mitglied des BAT. Der Schweizer Pharmakonzern mit weltweiten Niederlassungen, darunter auch in Wien, möchte klarerweise ebenfalls „zu einer ausgeglichenen Lebens- und Arbeitsqualität seiner Mitarbeitenden beitragen und attraktive Arbeitsbedingungen anbieten. Dazu gehört vor allem Freiraum bei der Gestaltung und Organisation der eigenen Arbeitsaufgaben. Dies betrifft nicht nur Flexibilität bei der Arbeitszeit, sondern auch den Arbeitsort“. Teleworking von zu Hause aus wird seit Jahren bei Novartis Pharma ermöglicht. Mit der Zunahme von Beschäftigten und der vorgegebenen eingeschränkten Arbeitsplatzsituation nehme seit kurzem „Desk Sharing“ zu, erklärt Ingrid Krenn auf Anfrage. Sie sieht dieses Platzproblem durchaus als kritisch: Obwohl Beschäftigte arbeiten von zu Hause als Option schätzen, besteht auch die Gefahr der sozialen Isolation und der Vermischung beruflicher und privater Belange.
„Die Arbeitssituation in Großraumbüros wäre für uns im Sozial- und Gesundheitsbereich absolut inakzeptabel“, meint Axel Magnus von der Sucht- und Drogenkoordination Wien, Vorsitzender der Interessengruppe IG Social Wien in der GPA-djp. Bei den Beratungen sei Vertraulichkeit erforderlich, die KlientInnen müssten Sicherheit in vertrauten Räumen, nicht in wechselnden Besprechungszimmern, empfinden – „das verunsichert sogar sehr stabile Persönlichkeiten“. Und er gibt zu bedenken: „Die Auflösung aller sozialen Bindungen, der gewohnten zwischenmenschlichen Kontakte, der menschlichen Nähe und Wärme passen nicht zum Wesen der meisten Menschen.“ Umfragen und Studien belegen tatsächlich, dass Arbeitsmodelle wie „Desk Sharing“ tendenziell unbeliebt und schädlich für die ArbeitnehmerInnen sind.
Dass sich ein Betrieb, sofern er groß genug ist, zu einer Gesamtumstellung der Unternehmenskultur und zu einer mehr oder weniger ausgeprägten „anywhere working“-Flexibilität entschließt, argumentieren die Unternehmensvorstände offiziell meist mit Einsparungen. Weitere Ziele, mutmaßt Axel Magnus, könnten sein: „Entsolidarisierung und Spaltung der Beschäftigten. Das macht es ihnen leichter, Widerstand zu verhindern.“
Damit das nicht passiert, haben sich längst nicht nur ArbeitnehmervertreterInnen, sondern auch WissenschaftlerInnen des Themas „arbeite, wann du willst und wo du willst“ angenommen. Zu ihnen zählt die australische Wirtschaftswissenschaftlerin Yvette Blount von der Macquarie University. Sie nimmt die ManagerInnen in die Pflicht: Diese müssten über die richtigen Fähigkeiten verfügen, um sämtliche Beschäftigte, von den Büroangestellten bis zu den zuarbeitenden Freelancern, führen zu können. Neben Kostenersparnis bringen die flexiblen Arbeitsmodelle etwa Vorteile für die Umwelt (weniger Staus, weniger CO2-Emissionen) und neue Job-Perspektiven für die Bevölkerung aus entlegenen ländlichen Gebieten, betont die Expertin. Sie hebt auch die soziale Perspektive hervor, wonach die Beschäftigungsquote von Frauen und insbesondere Behinderten auf diese Art gefördert werden kann.
Bleibt die Frage, ob Ergebnisse von jahrelangen Forschungen – zumal im Wirtschafts- und im Sozialbereich – tatsächlich in Politik und Wirtschaft Eingang finden.