„Die Zukunft ist die Konsequenz der Gegenwart“

Foto: ÖGB-Archiv

Zum 30. Todestag des Gewerkschafters und Sozialministers Alfred Dallinger (1926 bis 1989).

23. Februar 1989, später Nachmittag. Ich befand mich mit vielen anderen ÖsterreicherInnen auf dem Rückflug von Gran Canaria, als es für einige Minuten sehr still wurde. Es hatte sich die Nachricht vom Absturz einer Maschine der „Rheintal“ über dem Bodensee verbreitet. An Bord waren führende Repräsentanten der Angestelltengewerkschaft gewesen, auch der GPA-Vorsitzende und Sozialminister Alfred Dallinger, es gab keine Überlebenden. Ich erinnerte mich in diesen Momenten an meine persönlichen Begegnungen mit dem außergewöhnlichen Gewerkschafter und Politiker Alfred Dallinger.

Zuletzt hatten wir uns 1988 bei einer Gedenkveranstaltung der GPA aus Anlass der Machtübernahme Hitler-Deutschland in Österreich fünfzig Jahre zuvor getroffen. Das Erinnern an den nationalsozialistischen Terror und seine Folgen war ihm ein besonderes Anliegen. Er, der die Jahre des Faschismus schon bewusst erlebt hatte, sah darin eine selbstverständliche Aufgabe eines demokratischen Politikers. Wie diese Erfahrungen seine Überzeugung prägten, dass nur eine solidarische, sozial gerechte Gesellschaft eine neuerliche Gefährdung der Demokratie verhindern könne, schilderte er mir ein einem Gespräch, das 1985 im „Privatangestellten“ (wie die KOMPETENZ damals hieß) veröffentlicht wurde. Hier seien einige Auszüge daraus wiedergegeben.

Bigitte Pellar: Kollege Dallinger, du warst 19 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, du gehörst zu der Generation, die seit 1934 nur Krieg und Faschismus erlebte … Wie war es möglich, dass ein junger Mensch, dem die demokratische Arbeiterbewegung ja ganz fremd sein musste, so bald zur Gewerkschaftsbewegung gefunden hat?

Alfred Dallinger: Das hat daran gelegen, dass ich aus einer sozialistischen Arbeiterfamilie stammte und man mich 1945 nicht erst gedanklich und ideologisch zur Arbeiterbewegung hinführen musste … Meine Lehre habe ich in den Heilmittelwerken gemacht …, dann bin ich mit 17 Jahren zum Militär einberufen worden. Die Heilmittelstelle ist der erste gemeinwirtschaftliche Betrieb in der Ersten Republik gewesen und blieb eine sozialistische Hochburg, während meiner Lehrzeit ist dort sehr viel illegal gearbeitet worden. So war es für mich eine Selbstverständlichkeit, mit dem ersten Tag meiner Arbeit der Gewerkschaft und kurz darauf der Sozialistischen Partei* beizutreten, nachdem ich im November 1945 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war … Ich habe eine Betriebsjugendgruppe in der Heilmittelstelle gegründet und kam dann in die Gewerkschaftsjugend als Jugendfunktionär.

„So war es für mich eine Selbstverständlichkeit, mit dem ersten Tag meiner Arbeit der Gewerkschaft und kurz darauf der Sozialistischen Partei beizutreten.“

Alfred Dallinger, 1985 im Interview mit dem „Privatangestellten“

Brigitte Pellar: Du hast vom aktiven Widerstand gegen den Faschismus in deinem Lehrbetrieb berichtet. Widerstand in einem Betrieb zu leisten, war das überhaupt möglich? …

Alfred Dallinger: Es war auch für einige nicht nur mit Lebensgefahr, sondern mit Beendigung des Lebens verbunden. Im Frühjahr 1943 sind einige „Illegale“ … aus dem Betrieb verhaftet worden, man hat sie füssiliert**. Mir ist nichts passiert, ich war zu jung. …

Brigitte Pellar: Mit 17 Jahren in einen grausamen Krieg geschickt zu werden, in einen besonders grausamen Krieg, soweit man hier steigern kann, wie erlebt das so ein halbes Kind?

Alfred Dallinger: Sehr schlimm in meinem speziellen Fall, denn zweieinhalb Monate vor meiner Einberufung zum Militär ist mein Bruder mit 18 Jahren in Russland gefallen und auch mein Vater war eingerückt. Ich selbst war noch nicht ganz 17, als ich die Einberufung bekam, und ein dreiviertel Jahr später bin ich schwer verwundet worden. Sicher hat uns diese Zeit geprägt: Wir waren ernster, viel ernster, als das junge Menschen heute sind, als sie zum Glück heute sein müssen, und wir waren auch nie jung im Sinne des heutigen Jungseins. Das hat viele Jahre meines Lebens geprägt und wird vielleicht noch immer im Unterbewusstsein seine Auswirkungen haben. Aber andererseits ist der gewaltige Unterschied zwischen unserer Jugend und der Jugend von heute auch ein Motor für uns selber, alles zu tun, dass es nie mehr zu einer Entwicklung kommen kann, wie wir sie in unserer Jugend gehabt haben.

Brigitte Pellar: Bei deiner Rückkehr bist du wohl auf sehr viele junge Leute getroffen, die ähnliche Schicksale erlebt haben … konnte man unter diesen Bedingungen überhaupt Menschen finden, die bereit waren mitzutun?

Alfred Dallinger: Es ging zunächst einmal um die Befriedigung der primitivsten Bedürfnisse: nach Essen, nach Arbeit, nach Bekleidung und einfach auch um jugendbewegte Dinge … Wenn man einmal Kontakte hatte, dann war es wahrscheinlich weitaus leichter als heute, auch grundsätzliche Diskussionen zu führen. Es war ja eine ungeheure Motivation da, in dem Bekenntnis zur wiedergegründeten Republik und in dem Wollen, am Aufbau mitzuwirken … Die Quintessenz: Wenn man nichts hat, wenn alle die gleiche Ausgangsposition haben, dann gibt es Gemeinsamkeit, dann gibt es Solidarität … Wenn man aber mehr oder weniger am Gipfelpunkt der Erfolge steht, dann gibt es vieles von dem, was damals vorhanden war – zumindest in der Quantität – nicht mehr. Und das müsste uns eigentlich zum Nachdenken anregen. Daher beklage ich es ja bei sehr vielen Gelegenheiten, dass wir jetzt an dem wichtigsten Element der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaftsbewegung Mangel haben, nämlich an der Solidarität.

Als Alfred Dallinger die Rückkehr zur Solidarität einforderte, lief der „Zeitgeist“ in die entgegengesetzte Richtung – auch in Österreich bestimmte der neue Turbokapitalismus mit seiner Ideologie der Marktfreiheit und mit seinem Privatisierungswahn immer mehr die Politik. Dallinger warnte vor der Verantwortungslosigkeit einer solchen Politik, die mittel- und langfristige Folgen ihrer Entscheidungen ignoriert, denn, so schrieb er im Vorwort zu einer GPA-Broschüre, „die Zukunft ist nicht mehr die Fortsetzung der Gegenwart, sondern ihre Konsequenz“.

*Die SPÖ wurde erst 1991 in „Sozialdemokratische Partei“ umbenannt.

**standrechtlich erschossen

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