Laut dem Arbeitswissenschaftler Johannes Gärtner sollte die Arbeitszeit von vier Dimensionen abhängen: von den rechtlichen und den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, den Wünschen der MitarbeiterInnen und der Gesundheit.
KOMPETENZ: Herr Gärtner, wie viele Stunden arbeiten Sie?
GÄRTNER: Zehn bis 12 Stunden pro Tag, hochgerechnet etwa 50 Stunden pro Woche.
KOMPETENZ: Ist das noch gesund?
GÄRTNER: Ich selbst halte das für grenzwertig. Allerdings macht mir ein Großteil meiner Arbeitszeit sehr viel Freude, wo ich forsche, schreibe und programmiere. Es ist eine Frage der Abgrenzung, was dabei Arbeit ist und was nicht – wenn ich mich mit einem Fachkollegen treffe und mich mit ihm austausche, ist das eine Grauzone. Schwierig ist auch die ökonomische Abgrenzung zwischen Beratung und Forschung sowie verrückten Ideen, denen ich gerne nachgehe.
KOMPETENZ: Wenn das für Sie grenzwertig ist, muss es trotzdem einen Grund geben, warum Sie es machen, da Sie ja Ihr eigener Herr sind.
GÄRTNER: Weil es für mich sehr belohnend ist und eine sehr freudvolle, energetisierende, sinnvolle Arbeit. Es geht nicht nur um die absolute Zahl, wie viele Stunden man arbeitet, sondern auch unter welchen Rahmenbedingungen. Ob es eine anerkennende, vielfältige Arbeit ist und andere Faktoren. Manchmal kommen Dinge wie Sport zu kurz, auch Schlaf, was mir gar nicht gefällt. Und in vielen Phasen habe ich das Gefühl, dass es passt.
KOMPETENZ: Wie haben Sie von der Technik die Brücke zur Arbeitswissenschaft geschlagen?
GÄRTNER: (lacht) Ich habe in der Gewerkschaft gearbeitet und wollte irgendwann wieder etwas anderes machen. Ich habe mich am freien Arbeitsmarkt beworben, hatte aber als Gewerkschaftssekretär damals keine Chance. Also beschloss ich, eine Doktorarbeit zu machen, um diese Zeit im Lebenslauf zu kaschieren. Ich habe mich für das Thema Arbeitszeit entschieden, weil es eine Kombination ist aus Technik, von der ich glaube einiges zu wissen, und aus Recht, wo ich gute Betriebszugänge in der GPA hatte. Ich habe an der TU mit Glück eine Assistentenstelle bekommen und mich weiter in das Thema Arbeitszeit verliebt. Dahinter steht wahrscheinlich der Traum, mit Mathematik irgendetwas sinnvoll zur Welt beizutragen. Dann habe ich mich habilitiert. Schlussendlich habe ich mich entschlossen, meine unbefristete Beamtenstelle an der TU nicht anzutreten und mich in die Selbstständigkeit zu werfen.
KOMPETENZ: Ihre Idee war es, mit Algorithmen die ideale Arbeitszeit zu ermitteln?
GÄRTNER: Dass man mit Algorithmen einen Beitrag zu besseren Arbeitszeiten liefert. Indem man Lösungen findet und Zusammenhänge präsent macht, die vorher vielleicht unzugänglich waren. Ein zentrales Ergebnis meiner Dissertation war, dass es nicht möglich ist, Prioritäten ganz abstrakt zu beschreiben, sondern dass man eine Software braucht, die diesen Diskussionsprozess gut unterstützt. In diese Richtung haben wir unsere Software entwickelt: Dass man in der Gruppe zusammensitzt und sozialpartnerschaftlich versucht, Lösungen zu finden, die für alle Vorteile bringen können.
„Generell ist mein Eindruck, dass viele Arbeitgeber Wünsche haben im Hinblick auf Produktivität und Ähnliches, aber auch Soziales und Gesundheit ernst nehmen und sich bemühen, zumindest eine gut vertretbare Lösung zu finden.“
Johannes Gärtner
KOMPETENZ: Also dass nicht nur betriebswirtschaftliche Kennzahlen zählen…
GÄRTNER: …auch Präferenzen der Menschen, Gesundheit und was sonst noch alles dazugehört. Das Thema hat viele Seiten und die versuche ich immer mitzudenken.
KOMPETENZ: Wie sieht demnach das ideale Arbeitszeitmodell aus?
GÄRTNER: Das gibt es nicht. Es gibt Schritte mit dem Bemühen zu verbessern, was manchmal falsch läuft. Die Basisdimensionen, die wir betrachten, sind das Recht, die Ökonomie, die Wünsche der MitarbeiterInnen und die Gesundheit. Diese vier Bausteine sind nicht deckungsgleich, es sind auch nicht nur drei, sondern vier, dessen bin ich mir sicher.
KOMPETENZ: Wird nicht in der Praxis oft die Arbeitszeit vom Arbeitgeber vorgegeben?
GÄRTNER: Generell ist mein Eindruck, dass viele Arbeitgeber Wünsche haben im Hinblick auf Produktivität und Ähnliches, aber auch Soziales und Gesundheit ernst nehmen und sich bemühen, zumindest eine gut vertretbare Lösung zu finden. Sicherlich gibt es auch Arbeitgeber, die sich nicht darum kümmern, das ist aber in meiner Welt absolut unüblich. Sie unterliegen natürlich eigenen Zwängen und Drucken, aber sehr viele Unternehmen – besonders in Österreich, Deutschland und im nordischen Raum, stärker als in den USA – bemühen sich, diese Dinge mit zu berücksichtigen.
KOMPETENZ: Haben Sie auch die gescheiterte Bundesregierung beraten, die den 12-Stunden-Tag in Österreich eingeführt hat?
GÄRTNER: Nein.
KOMPETENZ: Hätten Sie es besser gemacht?
GÄRTNER: Prinzipiell stehen wir beratend jedem zur Verfügung, der über den Stand der Wissenschaft Bescheid wissen möchte, egal welcher Couleur. Wir haben die Pläne zur 12-Stunden-Regelung aus unserer Sicht bewertet und in tausend Beratungsprojekten gesagt, dass uns Gesundheitsschutz ein wichtiges Thema ist – und wir haben bei dieser Gesetzesnovelle erhebliche Gesundheitsgefahren gesehen. Das haben wir in einer kritischen Stellungnahme großflächig ausgesendet. Es wird nicht immer gerne gehört, dass es gegen den 12-Stunden-Tag gesundheitliche Bedenken gibt, so wie die Gewerkschaften nicht gerne hören, dass sie für Geld Gesundheitsthemen opfern. Wir sind der Ansicht: Euros helfen nur sehr begrenzt gesundheitlich. Die Gesundheits-, die Sozial- und die Unfallthemen bleiben ja.
KOMPETENZ: Derzeit laufen die Verhandlungen über den Kollektivvertrag für den Sozialbereich (SWÖ). Kernforderung der ArbeitnehmerInnen ist die 35-Stunden-Woche. Ist das berechtigt?
„Ich glaube sehr wohl, dass viele bei 32 bis 35 Stunden um einiges produktiver sind.“
Johannes Gärtner
GÄRTNER: Wir haben uns als Beraterteam mit der Frage beschäftigt, welche die beste Arbeitszeit ist. Und das ist Gleitzeit Montag bis Freitag untertags. Daher sollten Personen, die nicht die Möglichkeit haben, so zu arbeiten, Zeitzuschläge bekommen, um eine ähnliche Arbeitszeitqualität zu haben. Das ist speziell bei der mobilen Pflege der Fall aufgrund der sehr frühen und sehr späten Arbeitszeiten und zum Teil zerstückelten Zeiten. Sie sollten ganz klar Zeitzuschläge erhalten, die so in der industriellen Welt und Krankenhauswelt nicht abgebildet wird, um auf ein vergleichbares Belastungsniveau zu kommen. In der Realität wäre das zum Teil zwar „nur“ eine Gehaltserhöhung, aber wahrscheinlich oft ein Mix aus Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und Gehaltserhöhung. Ich verstehe zwar die Gewerkschaft, aber für die Büroarbeit im Sozialbereich besteht für Arbeitszeitverkürzung aus meiner Sicht kein besonderer Grund. Warum sollte sich die Büroarbeit im SWÖ von Büroarbeit irgendwo anders unterscheiden?
KOMPETENZ: Aufgrund von Automatisierung und Digitalisierung wird die Arbeit verdichtet, der Druck steigt. Was halten Sie daher von einer allgemeinen Reduktion der Wochenarbeitszeit auf 30, 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich?
GÄRTNER: Ich weiß nicht, ob ich den Lohnausgleich unterschreiben würde. Ich glaube sehr wohl, dass viele bei 32 bis 35 Stunden um einiges produktiver sind – dass man dabei die gesamte Differenz herausholt, kann ich mir nicht vorstellen. Wenn Menschen die Erfahrung gemacht haben, wie sehr ihnen das hilft, gesünder zu sein, weniger Fehler zu machen und mehr Freizeit zu haben, sind sie auch mit weniger Geld glücklich, solche Optionen zu haben. Vermutlich ist das auch langfristig ein sehr tragfähiges Modell, um viele Jahre eine sehr belastende Arbeit machen zu können und dabei gesund zu bleiben.
ZUR PERSON:
Johannes Gärtner (Jahrgang 1962) studierte mathematische Informatik an der Technischen Universität (TU) Wien. Nach dem Credo, dass sich Wirtschaftlichkeit und gute Arbeitsbedingungen verbinden lassen, gründete der gebürtige Tiroler das Beratungsunternehmen XIMES in Wien, das nach anfänglichen finanziellen Schwierigkeiten seit mehr als 20 Jahren besteht. Gärtner ist zudem Vorstand der von ihm mit begründeten Arbeitszeitgesellschaft: Sie möchte die Arbeitszeitforschung in Deutschland, Österreich und der Schweiz besser vernetzen und einen fächerübergreifenden Austausch und Dialog zwischen Forschung und Praxis fördern.