Kann ein Kollektivvertrag in einer Branche, die kaum Angestellte kennt, ein wirksames Mittel gegen Lohndumping und prekäre Arbeitsverhältnisse sein? Eine Gewerkschafterin und ein Arbeitssoziologe geben Antworten.
Mit 1. Jänner 2020 greift in Österreich der neue Kollektivvertrag für FahrradzustellerInnen, weltweit der Erste seiner Art. Doch längst nicht für alle, die tagtäglich Pizza, Burger und Pakete an die Frau oder an den Mann bringen, muss das ein Grund zum Feiern sein. Denn längst nicht alle von ihnen sind bei ihrem Auftraggeber angestellt, sondern arbeiten als Selbstständige auf Auftragsbasis. Das stellt nicht nur ZustellerInnen selbst vor große Herausforderungen, sondern auch Gewerkschaften und ArbeitnehmervertreterInnen: Wie Beschäftigte fördern und organisieren in einer Branche, die oftmals kaum Angestellte kennt? Und kann ein Kollektivvertrag in einem solchen Fall tatsächlich ein wirksames Instrument gegen prekäre Beschäftigung und sogenannte „Scheinselbstständigkeit“ sein?
Der Kollektivvertrag, auf den sich die Gewerkschaft vida und der Fachverband für das Güterbeförderungsgewerbe in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) einigten, garantiert den Essensauslieferinnen und Fahrradkurieren für eine 40 Stunden Woche einen Mindestlohn von 1.506 Euro brutto pro Monat. Die ZustellerInnen haben mit Jahresbeginn 2020 zudem einen Rechtsanspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Auch eine Forderung, die in vielen europäischen Ländern in den letzten Jahren immer wieder erfolglos verhandelt wurde, fand Einzug in den Kollektivvertrag: Die RadlerInnen haben Anspruch auf Kostenersätze, wenn sie ihr privates Handy oder Fahrrad benutzen.
„Für die Arbeitskraft das ultimativ Schlechteste“
Doch für viele, die in der Branche beschäftigt sind, greift der Vertrag eben nicht. „Das FahrradbotInnengewerbe ist eines, das maßgeblich auf Selbstständigkeit fußt“, erklärt der Wiener Arbeitssoziologe Benjamin Herr. Am Beispiel der ZustellerInnen-Branche lasse sich beobachten, wie „ein neues Modell entsteht, wie Erwerbsarbeit organisiert ist – nämlich ohne soziale Sicherheiten“, kritisiert Herr. Konkret bedeutet das, dass selbstständige ZustellerInnen gewisse Privilegien missen, die Fixangestellte genießen, nämlich: Pensionsvorsorge, Bezahlung im Krankheitsfall, bezahlter Urlaub und Kündigungsschutz. Doch was für Beschäftigte „soziale Sicherheit“ bedeutet, heißt für UnternehmerInnen am anderen Ende: höhere Kosten. Ein klassischer Interessenkonflikt, so Herr.
„Das FahrradbotInnengewerbe ist eines, das maßgeblich auf Selbstständigkeit fußt. Am Beispiel der ZustellerInnen-Branche lässt sich beobachten, wie ein neues Modell entsteht, wie Erwerbsarbeit organisiert ist – nämlich ohne soziale Sicherheiten.“
Benjamin Herr
Bei Mjam Plus, neben Lieferando der zweite große Anbieter in Österreich, sind aktuell 90 Prozent der rund 1.200 Beschäftigten in Österreich keine Fixangestellten, sondern arbeiten auf Auftragsbasis. Für das Unternehmen entfällt somit ein Großteil der Kosten für die „soziale Sicherheit“. Außerdem wird ein/e ZustellerIn nicht pro Stunde bezahlt, sondern erhält einen gewissen Betrag pro Zustellung. Das heißt, die Zeit, in der ein/e LieferantIn auf einen neuen Auftrag wartet, wird nicht entlohnt. „Für den Kapitalisten ist das das Beste, was es gibt“, erklärt Herr, „für die Arbeitskraft das ultimativ Schlechteste“.
Auch im Interesse von Unternehmen
Trotzdem stellt der neue Kollektivvertrag auch für Freie eine Verbesserung dar, findet Veronika Bohrn Mena, Expertin für atypische Beschäftigung bei der GPA-djp. Zwar gilt der Vertrag nur für die Fixangestellten und greift somit nicht unmittelbar für die Selbstständigen; für Freelancer werde das neue Regelwerk dennoch Vorteile mit sich bringen, indem es einerseits klare Richtlinien schafft, wer denn nun tatsächlich selbstständig und wer unselbstständig arbeitet. Ein Kollektivvertrag, so Bohrn Mena, schafft ein „engmaschigeres Netz“ an Kriterien, die sicherstellen können, „Scheinselbstständigkeit“ auch als solche zu erkennen. Andererseits gebe ein Kollektivvertrag Freelancern einen Rahmen für zukünftige Verhandlung von Mindesthonoraren vor. „Mittelfristig ist der Kollektivvertrag auch für die Freien eine Perspektive, indem er diesem ewigen Dumping nach unten ein Ende setzt“, erklärt Bohrn Mena.
„Mittelfristig ist der Kollektivvertrag auch für die Freien eine Perspektive, indem er diesem ewigen Dumping nach unten ein Ende setzt“
Veronika Bohrn-Mena
Das sollte ihrer Meinung nach auch durchaus im Interesse der Anbieter sein. Denn derzeit sei eine Entwicklung zu beobachten, im Zuge welcher „unternehmerisches Risiko und unternehmerische Verantwortung vermehrt auf die Beschäftigten abgewälzt werden“. Doch es könne nicht zielführend sein, dass das Geschäftsmodell einer Branche nur darauf beruht, zu versuchen, sich beständig gegenseitig in den Personalkosten zu unterbieten. Gesamtgesellschaftlich betrachtet, würde das am Ende dazu führen, dass sich jene, die die Pizza ausliefern, diese irgendwann selbst nicht mehr leisten können. Das laufe letzten Endes auch dem Interesse der Unternehmen zuwider.
Schritt in die richtige Richtung
„Der Kollektivvertrag sagt nicht, dass alle FahrradbotInnen angestellt werden müssen“, so Arbeitssoziologe Herr. Aber für jene, die es sind – bei Mjam Plus lediglich rund zehn Prozent, aber bei Lieferando beispielsweise nahezu alle Beschäftigten – bedeutet der Vertrag „auf jeden Fall“ eine Verbesserung. Das betreffe vor allem die Kostenersätze für Nutzung des privaten Handys und des eigenen Fahrrads. Für eine/n Vollzeitbeschäftigte/n bedeute das pro Monat rund 20 Euro mehr für das eigene Mobiltelefon; bei 40 Radkilometern pro Tag gibt es noch einmal knapp 150 Euro zusätzlich pro Monat für das eigene Gefährt.
Herr findet, letztlich sei die Entlohnung von FahrradzustellerInnen – ob angestellt oder nicht – „weniger eine rechtliche, sondern eine politische Frage“. In einem Interessenskonflikt stehen jeder Fraktion gewisse Machtressourcen zur Verfügung. Diese gelte es zu nutzen. Eine Perspektive sieht Herr hier neben einem Kollektivvertrag vor allem in puncto Betriebsräte. Auch hier wurden bereits Fortschritte erzielt: Im Frühjahr 2017 wurde ein solcher beim Lieferdienst Foodora (das mittlerweile zu Mjam Plus gehört) gegründet; seit Juni 2019 hat auch Lieferando einen Betriebsrat.Natürlich sei es schwierig, die Interessen einer Branche zu vertreten, die maßgeblich auf Selbstständigkeit fußt – „aber es führt kein Weg daran vorbei“, bekräftigt Bohrn Mena. Beschäftigungsverhältnisse sind seit jeher einem beständigen Wandel unterworfen, schon seit es Gewerkschaften gibt. Die Aufgabe einer solchen sei es, sich den neuen Bedingungen anzupassen und geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, so Bohrn Mena. Der Kollektivvertrag sei daher ein Schritt in die richtige Richtung.