Die Corona-Krise macht die Ungleichheiten stärker sichtbar. Um die Situation gut zu überstehen, plädiert Alexandra Weiss, Politikwissenschaftlerin an der Universität Innsbruck, im Interview mit der KOMPETENZ Online dafür, Forderungen der Gleichstellungspolitik endlich umzusetzen.
Ökonomie als Selbstzweck ohne gesellschaftliche Verpflichtung sei zu hinterfragen.
KOMPETENZ: Frau Weiss, inwieweit ist die Corona-Krise auch eine Frauen-Krise? Viele Beschäftigte in den „systemrelevanten“ Tätigkeiten sind ja Frauen, die weniger verdienen als Männer.
ALEXANDRA WEISS: Die Krise macht noch einmal sehr deutlich, was von der Frauenbewegung seit einem halben Jahrhundert thematisiert wird: Die essenzielle Wichtigkeit von Arbeit, die überwiegend Frauen in der Pflege, zu Hause, in der Erziehung usw. leisten. Das ist nichts Neues, jetzt ist es aber für viele unmittelbar sichtbar geworden. Das kann und soll politisch genützt werden. Die Proteste des Pflegepersonals und die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche sind da sehr wichtig. Es ist absolut notwendig, hier die Bedingungen zu verbessern, aber natürlich auch in anderen Branchen, wie dem Handel.
KOMPETENZ: Wie empfinden Sie den Begriff „systemrelevant“ in Bezug auf Jobs – sind künstlerische oder handwerkliche Beschäftigungen etwa nicht systemerhaltend?
„Zugespitzt könnte man sagen: Frauen arbeiten „systemrelevant“ in Pflege, Erziehung oder im Handel – bezahlt und unbezahlt – Männer in politischen Entscheidungspositionen, oft mit wenig Rücksicht darauf, wie etwa die aktuellen Verordnungen auch sozialverträglich gestaltet werden können.“
Alexandra Weiss
ALEXANDRA WEISS: Natürlich, zum Überleben reichen wenige systemerhaltende Jobs. Aber es braucht auch die, die das kulturelle Leben oder politische Auseinandersetzung, Kritik und Kontrolle aufrechterhalten. Wir leben nicht von Brot allein, nicht auf Dauer. Es ist derzeit sicher schwierig abzuwägen, wie weit Einschränkungen gehen sollen. Problematisch erscheint mir aber, dass wir da eine sehr traditionelle Arbeitsteilung haben. Zugespitzt könnte man sagen: Frauen arbeiten „systemrelevant“ in Pflege, Erziehung oder im Handel – bezahlt und unbezahlt – Männer in politischen Entscheidungspositionen, oft mit wenig Rücksicht darauf, wie etwa die aktuellen Verordnungen auch sozialverträglich gestaltet werden können. Menschen erleben die Krise nicht gleich, weil sie verschiedene Lebensbedingungen und (materielle und psychische) Ressourcen haben.
KOMPETENZ: Heimarbeit, wie es früher genannt wurde, war bisher eher scheel angesehen, jetzt wird das Homeoffice als Nonplusultra-Maßnahme propagiert. Sehen Sie darin ein Um-Framen?
ALEXANDRA WEISS: Bisher war das Arbeiten von zu Hause etwas, das viele FreiberuflerInnen, prekäre Ein-Personen-UnternehmerInnen und viele Frauen praktizierten – oder machen mussten, das haben sich nicht alle ausgesucht. Hier wird auf Ressourcen gesetzt, die Frauen eher haben, weil sie mit atypischer Arbeit und nicht-geradlinigen Erwerbskarrieren schon viel länger Erfahrung haben. Problematisch ist, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit oft verschwimmen. Es ist oft eine vermeintliche Freiheit, die nicht selten mit hoher sozialer Unsicherheit und wenig sozialen Kontakten verbunden ist. Auch wenn es jetzt vielfach propagiert wird, ist für viele klar, dass das in ihren Jobs gar nicht geht und dass sie nicht ihre übliche Arbeitsleistung bringen können. Man muss klar machen, dass das jetzt nicht weiterlaufen wird wie immer. Die Situation ist für viele sehr belastend, weil sie zuhause nicht nur arbeiten, sondern gleichzeitig die Kinder betreuen, und weil viele nicht wissen, was auf sie kommt.
KOMPETENZ: Wie soll es in der Arbeitswelt weiter gehen nach der Corona-Krise?
ALEXANDRA WEISS: Die Forderungen aus dem Pflegebereich sind ganz essenziell und darüber hinaus von großer Bedeutung. Eine Reduktion der Arbeitszeit auf 35 oder, noch besser, 30 Wochenstunden ist schon lange geboten. ArbeitssoziologInnen weisen seit Jahren darauf hin – dafür gibt es verteilungspolitische, geschlechterpolitische und gesundheitspolitische Gründe.
Umverteilungsmechanismen wurden seit den 80er, 90er Jahren ausgehebelt, die Produktivitätssteigerungen wurden nicht mehr durch Lohnsteigerungen und Arbeitszeitverkürzung ArbeitnehmerInnen weitergegeben. Wir hatten mit der Zunahme von Teilzeitarbeit eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, die vor allem die Frauen getroffen hat.
KOMPETENZ: Das war in Wirklichkeit eine Umverteilung von unten nach oben.
ALEXANDRA WEISS: Aus geschlechterpolitischer Perspektive ist festzuhalten: Wenn man die unbezahlte Arbeit gerechter aufteilen möchte, müssen Menschen dafür Zeit haben – auch dafür wäre eine 30-Stunden-Woche wichtig. Was für Frauen immer schon üblich ist, muss auch für Männer Normalität werden: Erwerbsarbeit und die Verantwortung für Kinder, Pflege, Haushalt vereinbaren. Und gefragt ist natürlich eine sehr viel bessere soziale Infrastruktur in Bezug auf Kinderbetreuung, Pflege usw.
Nicht zuletzt ist es eine gesundheitspolitische Frage. Seit über zehn Jahren wissen wir, dass Erschöpfungsdepressionen und Burnouts die Erkrankungen des Bewegungsapparats in den Krankenkassenstatistiken überholt haben. Was passiert da in der Arbeit, dass die Menschen so erschöpft und überfordert sind? Hier muss gegengesteuert werden. Wir müssen weg von einer Gesellschaft, die Ökonomie als Selbstzweck ohne gesellschaftliche Verpflichtung versteht. Das können wir uns nicht leisten. Die Menschen und ihre Bedürfnisse müssen das Maß politischer Entscheidungen sein.
„Das Problem ist nicht, dass so viele Frauen Verkäuferinnen werden, sondern was sie dafür bezahlt bekommen.“
Alexandra Weiss
KOMPETENZ: Sie haben 2019 ein Buch über Johanna Dohnal publiziert. Welche Schlüsse würde sie, als Ikone der Frauenbewegung und erste Frauenministerin Österreichs, aus der derzeitigen Situation ziehen?
ALEXANDRA WEISS: Ich glaube, dass sie darauf aufmerksam machen würde, wie eminent wichtig die Arbeit der Frauen ist und dass diese Arbeit nicht nur mit schönen Worten anzuerkennen ist. Sondern dass es um die gerechte Entlohnung geht. Wir leben in einer patriarchalen Kultur, in der die Tätigkeit von Frauen grundsätzlich abgewertet wird. Es geht nicht in erster Linie darum, dass Frauen Berufe ergreifen sollen, wo sie besser bezahlt werden – auch wenn eine Durchmischung von Branchen sinnvoll ist. Das Problem ist die Abwertung von Frauenarbeit, und das müssen wir jetzt politisieren. Das heißt: Das Problem ist nicht, dass so viele Frauen Verkäuferinnen werden, sondern was sie dafür bezahlt bekommen. Das ist eine der Berufsgruppen, die wir alle fast jeden Tag brauchen. Es gilt genau hinzuschauen, ob sich die gegenwärtige Wertschätzung nach der Krise auch übersetzt in eine materielle Anerkennung. Versetzen wir die Frauen in diesen Berufen in die Lage, dass sie von ihren Einkommen auch leben können!
KOMPETENZ: Wenn Sie das Patriarchat ansprechen: Wie lange dauert das noch, weitere 200 Jahre?
ALEXANDRA WEISS: (lacht) Das ist eine Tiefenstruktur unserer Gesellschaft, die bisher allenfalls angekratzt wurde. Es ist eine aktuelle Gefahr, dass das eine Zeit der „starken Männer“ wird und so mancher der autoritären Versuchung erliegt – das zeichnet sich schon ab. In den Krisenstäben sieht man nur selten psychologische und gar keine sozialarbeiterische oder genderspezifische Expertise. Obwohl alle wissen, dass die Gewalt gegen Frauen steigen wird und dass die Schließung der Kindergärten und Schulen überwiegend die Frauen auffangen werden. Insofern wünsche ich mir hier mehr Expertise aus diesen Bereichen, weil das auch entscheidend ist, wie gut wir diese Krise überstehen werden.