Der scheidende Vorsitzende der deutschen Linkspartei hat eine Flugschrift über den Kampf für eine sozial- und klimagerechte Zukunft geschrieben. Sie ist auch für österreichische GewerkschafterInnen lesenswert.
Lange bevor Bernd Riezinger als Politiker bekannt wurde, war er schon Gewerkschaftsaktivist als freigestellter Betriebsrat bei der Bausparkasse im badenwürtenbergischen Leonberg. Später wurde er Gewerkschaftssekretär, war schließlich Geschäftsführer des Bezirks Stuttgart der Gewerkschaft Ver.di, dem deutschen Gegenstück der GPA-djp. 2012 wurde er Bundesvorsitzender der Partei „die Linke“, zu deren Gründungsmitgliedern er zählt. Dieses Jahr wird er nicht mehr für den Parteivorsitz kandidieren.
Zum Abschied hat Riezinger die programmatische Flugschrift „System Change – Plädoyer für einen linken Green New Deal“ verfasst. Diese stellte er unter anderem auf Diskussionsveranstaltungen mit der Fridays for Future Aktivistin Luisa Neubauer vor. GewerkschafterInnen und KlimaaktivistInnen an einen Tisch? Solche Ansätze gibt es auch schon in Österreich, auch wenn es vielen hiesigen GewerkschafterInnen vielleicht noch fremd vorkommen kann. In Deutschland gab es bereits praktische Kooperation: Als am 29. Oktober die Gewerkschaft Ver.di ihre Mitglieder bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben Deutschlands zu einem Warnstreik aufrief, solidarisierten sich auch zahlreiche Fridays for Future Strukturen.
Hier möchte Bernd Rietzinger ansetzen. In seiner Broschüre entwirft er ein Modell wie sich die Klimaschutzbewegung mit Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen zu einer gemeinsamen Kraft für einen sozialen und ökologischen Wandel verbinden können. Dies sei dringend nötig, denn die Klimakrise werde viele Millionen Menschen katastrophal betreffen und an kaum einen Lebensbereich vorbeigehen. Dabei hat er auch (aber längst nicht nur) die Automobilindustrie im Blick. Das ist vielleicht kein Wunder, schließlich gehört die badenwürtenbergische Großstadt Stuttgart zu den großen Autobauerstädten Deutschlands.
Automobilindustrie in der Krise
Die Automobilindustrie steckte schon vor Covid-19 tief in der Krise. Rietzinger verweist darauf, dass durch die Umwandlung der Branche in Richtung E-Mobilität hunderttausende Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen. Tatsächlich hält Rietzinger ein einfaches „weiter so“ beim Individualverkehr – halt mit Elektrobatterien unter der Karosserie, anstatt Verbrennungsmotoren – für keine zukunftsweisende Idee. Er fordert stattdessen einen umfassenden Wandel bei der Mobilität. Hier soll vor allem der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs eine wesentliche Rolle spielen. Für bisherige Autofabriken bedeutet dies Konversion: Gebraucht werden Fabriken für Busse, für Züge und so weiter. Doch auch völlig andere Dinge könnten in ehemaligen Autofabriken hergestellt werden. Rietzinger verweist auf den auch in der Automobilindustrie tätigen Bosch-Konzern. Der habe in kürzester Zeit ein Verfahren zur Vereinfachung von Covid-Tests entwickelt. Dies zeige die Potentiale für eine klimagerechte Produktionsumrüstung der Industrie.
Eine derartige Umrüstung im benötigten Umfang könne jedoch nicht passieren, so lange die Wirtschaft weiter in profitgetriebenen Bahnen verlaufe, so Rietzingers These. Es brauche deshalb einen umfassenden Ausbau der Wirtschaftsdemokratie. Er plädiert für eine Art paritätisches System welches die Besitzverhältnisse großer Unternehmen auf Staat, Kommunen, Beschäftigte und private Anteilseigner aufteilt. Diese müssten gemeinsam mit VertreterInnen zivilgesellschaftlicher Organisationen – darunter zum Beispiel Umweltverbände oder Bürgerinitiativen – darüber entscheiden was, wie und warum produziert wird. Staatliche Aufgabe sei es, dabei einen Rahmenplan vorzugeben. Wichtig sei, dass sich die Mobilitätsinfrastruktur der Zukunft an den Bedürfnissen der Menschen statt an den Profitinteressen der Automobilkonzerne orientieren müsse. Überhaupt dürften öffentliche Güter nicht länger „Anhängsel der Ökonomie“ sein, sie gehören für Rietzinger „ins Zentrum einer regional ausgebildeten Ökonomie“. Dies schaffe Arbeitsplätze, denn eine „bedarfsgerecht ausgebaute soziale Infrastruktur“ brauche „bessere Personalausstattung“.
Parteien wie „die Linke“ in Deutschland hätten hier die Aufgabe eine „verbindende Klassenpolitik“ zu verwirklichen. Linke Parteien müssten quasi zu Schnittstellen zwischen Umweltgruppen, feministischen Bewegungen und der Gewerkschaftsbewegung werden. Als Beispiel bringt er eine Kampagne der Linkspartei in Nürnberg: Dort setzte sich die Linkspartei erfolgreich für ein 365-Euro Ticket im öffentlichen Nahverkehr ein. Dies machte sie nicht alleine, sondern gemeinsam mit Kirchen, Beschäftigten in der Nachtgastronomie, Sportvereinen, Studierendengruppen und Umweltgruppen. Wichtig sei eine organisierende Politik. Rietzinger will AktivistInnen nicht als fremdbestimmte VerteilerInnen von Flugblättern verstehen. Die Aufgabe von Kampagnen sei es, den Menschen als Instrument der Selbstorganisation zu dienen um eigene Interessen durchzusetzen. In diesem Sinne argumentiert der Autor auch für eine Demokratisierung der Gewerkschaften. Sie bräuchten eine „Repolitisierung nach links“ um sich als „mobilisierende, organisierende und konfliktorientierte Interessensvertretung“ zu stärken. Es sei „keine Perspektive für Gewerkschaften, sich an die Seite der Manager zu stellen.“
Gegenmacht für einen sozialökologischen Umbau
Rietzinger bedient in seiner Broschüre den in linken politischen Kreisen zunehmend populären Begriff der „Gegenhegemonie“ oder „Gegenmacht“. Um einen sozialökologischen Umbau der Gesellschaft durchzusetzen brauche es den Aufbau breiter Bündnisse. Das Potential sei dafür gegeben. Forderungen für einen linken „Green New Deal“ seien populär. In der Jugend gebe es eine massive Politisierung, Millionen seien für den Klimaschutz auf der Straße. Rietzinger verweist auf den „New Deal“ in den USA der 1930er Jahre. Den habe es nur aufgrund massiver ArbeiterInnenkämpfe und Massenbewegungen gegeben. Auch der moderne Sozialstaat sei das Ergebnis einer Massenbewegung. Die sei auch heute nötig, denn es gebe mächtige Gegner, darunter die Öl- und Kohleindustrie sowie die großen Saatgutunternehmen.
Rietzinger hat bei seinen programmatischen Vorstellungen auch internationale Aspekte im Blick. Für Linkskräfte im globalen Norden stelle sich die Aufgabe, „Ausbeutungs- und Machtverhältnisse der Globalisierung“ zu verändern. „Blindes Wachstum von Energie- und Ressourcenverbrauch in der Mobilität, Digitalisierung und beim Konsum“ seien „kein Modell für die Zukunft“. Es brauche Schuldenerlass und den Aufbau eines gerechten Handelssystems.
Ziel eines Green New Deals sei es, „dass diejenigen, die die Gesellschaft am Laufen halten, Aussicht auf ein besseres Leben haben.“ Sechs Säulen führt Rietzinger als Kernbestandteile eines solchen Programms an: Aufbau sozialer Infrastruktur, sinnvolle Arbeit und Löhne, soziale Sicherheit für alle, radikaler Klimaschutz sowie radikaler Klimaschutz. Die Covid-19 Krise hat auch in Österreich die Bedeutung all dieser „Säulen“ aufgezeigt. Gleichzeitig ist überdeutlich geworden, unter welchen miserablen Bedingungen viele Beschäftigte arbeiten müssen, welche die soziale Infrastruktur im Land aufrechterhalten. Rietzingers Streitschrift bietet diskussionswürdige Ansätze um deren Situation, und damit die Lebenssituation aller Menschen, nachhaltig zu verbessern.
Bernd Riezinger
System Change – Plädoyer für einen linken Green New Deal – Wie wir den Kampf für eine sozial- und klimagerechte Zukunft gewinnen können.
Eine Flugschrift. VSA Verlag Hamburg (August 2020)