Eine Gruppe junger, engagierter Beschäftigter hat es im Alleingang geschafft, erstmalig eine Gewerkschaft in einem Amazon-Logistikzentrum zu gründen. Ein historischer Sieg über einen Konzern, der seit jeher Betriebsratswahlen verhindert und Millionen in Anti-Gewerkschafts-Propaganda steckt.
Mit dem Slogan „Wir gründen die erste Amazon-Gewerkschaft des Landes, wir machen Geschichte!“ feiert die Amazon Labor Union (ALU) ihren wahrlich historischen Sieg bei den Wahlen im Amazon-Logistikzentrum im New Yorker Stadtteil Staten Island. Es ist dies die erste, vollständig unabhängige, ArbeiterInnen-geführte Gewerkschaft dieser Größe seit Jahrzehnten, freuen sich die SiegerInnen über den Ausgang der Wahl. Und die New York Times hält fest:
„Einer der größten Erfolge für die organisierte Arbeiterschaft seit einer Generation.“
New York Times
Bei den Wahlen Anfang April sprach sich eine Mehrheit der Beschäftigten für die Gründung dieser Gewerkschaftsvertretung bei dem US-Konzern aus. Bei einer Wahlbeteiligung von rund 57 Prozent stimmten 2.654 MitarbeiterInnen dafür, 2.131 stimmten dagegen. Niemand hatte ernsthaft mit diesem Sieg gerechnet, da keine etablierte Gewerkschaft unterstützend mitwirkte. Die Bewegung wurde von einer Gruppe der Beschäftigten selbst getragen.
Der Konzern wiederum hatte die Lagerhallen mit „Vote No“-Flugblättern zugepflastert und die MitarbeiterInnen mussten an verpflichtenden Informationsveranstaltungen teilnehmen. Das Argument des Managements gegen die Gewerkschaft: Amazon bezahle mehr als den Mindestlohn und biete – für amerikanische Verhältnisse – akzeptable Sozialleistungen.
Grassroots movement
Könnte dieser Sieg die US-ArbeiterInnenbewegung verändern, wie viele Beobachter meinen? Gleich mehrere Aspekte dieser erfolgreichen Gewerkschaftswahl sind durchaus bemerkenswert.
Das Amazon-Logistikzentrum in Staten Island ist ein hypermoderner Arbeitsort, wo Menschen und Roboter interagieren, um möglichst schnell und effizient Pakete an KundInnen zu versenden. Doch der Weg zum Sieg der Gewerkschaft war ein ganz traditioneller: Die Beschäftigten organisierten die Wahlen von innen heraus, als eine Basisbewegung (‚Grassroots movement’). Das zeigt, was möglich ist, wenn sich in einem Betrieb eine kleine Gruppe von Menschen zielstrebig engagiert – und sich dabei nicht unterkriegen lässt.
Die Anführer diese Gruppe waren Chris Smalls, ein ehemaliger Arbeiter des Lagerhauses, und sein Freund und Kollege Derrick Palmer. Die beiden, und eine wachsende Zahl an MitstreiterInnen, redeten einfach mit ihren ArbeitskollegInnen über die Vorteile einer Gewerkschaft. Während der Arbeitspausen, an der Bushaltestelle nach der Schicht. Sie verteilten T-Shirts und brachten selbstgekochtes Essen mit. Sie drehten Tiktok-Videos, um ihr Anliegen bekannt zu machen.
Gefeuert wegen Arbeitsniederlegung
Alles hatte damit angefangen, dass Chris Smalls zu Beginn der Pandemie eine Arbeitsniederlegung organisierte, weil er die Sicherheitsvorkehrungen im Betrieb nicht ausreichend fand. Unter dem Vorwand, er habe Quarantäne-Regeln missachtet, wurde Smalls daraufhin gefeuert.
Der Konzern profitierte damals enorm von der Pandemie und wollte kein Risiko eingehen. Bisher war Amazon mit seinen harten Bandagen gegen alles, was nach Gewerkschaft oder Demokratie im Betrieb aussah, erfolgreich gewesen. Diesmal hatte sich der Online-Riese verkalkuliert. Denn Chris Smalls, ein 33-jähriger Schwarzer aus New Jersey, beschloss nach seinem Hinauswurf, aktiv zu werden.
Er und Derrick Palmer nahmen sich nichts Geringeres vor, als das Amazon-Lagerhaus gewerkschaftlich zu organisieren. So verbrachten die beiden Männer die letzten Monate damit, gegen Amazon anzutreten. Ihre neu gegründete Gewerkschaft ALU hatte 120.000 Dollar aus GoFundMe-Kampagnen zur Verfügung. Amazon gab über 4,3 Millionen Dollar für sog. ‚Union Busters’ aus, das sind spezielle Beraterfirmen, die Arbeitgebern dabei helfen, gewerkschaftliche Organisation im Betrieb zu unterbinden. Trotzdem gelang Smalls und seinen KollegInnen der Coup.
Amazon verhindert Gewerkschaften
Das Logistikzentrum auf Staten Island ist nicht irgendeine Niederlassung unter vielen, sondern jenes Warenlager, das die Metropole New York mit ihren 9 Millionen EinwohnerInnen beliefert, ein extrem wichtiger Markt für das E-Commerce-Unternehmen Amazon. Bekannt unter dem Namen JFK8, beschäftigt dieses Logistikzentrum rund um die Uhr über 8.000 MitarbeiterInnen.
Amazon ist mit 1,1 Millionen Beschäftigten in den Vereinigten Staaten nach Wall Mart der zweitgrößte private Arbeitgeber des Landes. Der Konzern verfolgt seit jeher erbarmungslos alle Versuche, eine Gewerkschaft zu gründen, weil der Konzern dies als direkte Bedrohung seines Geschäftsmodells betrachtet.
Jeder Versuch, Betriebe zu organisieren, scheiterte bisher: So 2014 in Delaware, wo sich die Beschäftigten in Folge des massiven Drucks des Konzerns schließlich gegen eine gewerkschaftliche Vertretung aussprachen. So auch im Vorjahr in Bessemer, Alabama, wo die Handelsgewerkschaft RWDSU eine Wahl in einem Logistikzentrum in die Wege leitete, diese jedoch ebenfalls an der vehementen Einflussnahme des Konzerns scheiterte. Die US-Arbeitsrechtsbehörde gab zwar dem darauffolgenden Einspruch der Gewerkschaft statt und die Abstimmung wurde annulliert. Bei einer neuerlichen Abstimmung fiel das Ergebnis knapper, aber immer noch gegen die Gewerkschaft aus. Die ungültigen Stimmen werden aktuell angefochten, was das Ergebnis vielleicht noch umkehren könnte.
Nicht locker lassen
JFK8 auf Staten Island hatte ArbeiterInnen, die während der Pandemie von anderen Branchen entlassen wurden, Arbeitsplätze angeboten. Doch es wurde bekannt, dass die Fluktuationsrate bei 150 Prozent lag und etlichen Beschäftigten Sozialleistungen vorenthalten wurden. Laut einem internen Dokument, das an die Öffentlichkeit geriet, war die Wahrscheinlichkeit, dass schwarze MitarbeiterInnen entlassen wurden um fast 50 Prozent höher als für ihre weißen KollegInnen.
Auch wenn Amazon-Gründer Jeff Bezos behauptete, sein Ziel sei es, „der beste Arbeitgeber der Erde“ zu sein, so drangen doch immer wieder ganz andere Töne nach außen: ArbeiterInnen, die keine Toilettenpausen machen durften, sondern in Flaschen urinieren mussten, wurden vom Konzern abweisend behandelt; ein gewerkschaftsfeindlicher Berater am JFK8 nannte die meist schwarzen ArbeiterorganisatorInnen „Gangster“ (engl. „thugs“). In New York ebenso wie davor in Bessemer tat Amazon alles, um den GewerkschafterInnen das Leben schwer zu machen.
Doch die Gruppe um Smalls und Parker ließ nicht locker. Sie organisierten Zusammenkünfte, schafften selbstgekochte Mahlzeiten heran, redeten weiter mit den KollegInnen. Sammelten Geld für einen Kollegen, der von der Arbeitslosigkeit in die Obdachlosigkeit schlitterte. Sie schufen mit all dem ein Gemeinschaftsgefühl, eine „Community“ – diese Mühe hatte sich der Arbeitgeber Amazon nie wirklich für seine Beschäftigten gemacht.
Als Chris Smalls im Winter einmal Essen in den Pausenraum brachte, rief Amazon die Polizei, weil er unbefugt auf das Firmengelände eingedrungen sei. Er und zwei andere wurden festgenommen. Das ging allerdings für Amazon nach hinten los: Das Video der Gewerkschaft von der Festnahme wurde auf TikTok hunderttausendfach angesehen.
Branchenriese
Amazon ist so groß und marktbeherrschend, dass es die Arbeitsbedingungen der Branche vorgibt. KundInnen sind es mittlerweile gewöhnt, ihre Waren schnellstmöglich und gratis geliefert zu bekommen, sodass andere Dienstleister hier kaum konkurrenzfähig sind. Auch Amazons Vorreiterrolle, was die Überwachung am Arbeitsplatz angeht, hat leider Maßstäbe gesetzt. Kameras und Software ermöglichen punktgenaue Erfassung der Arbeitsleistung und entdecken jegliche Abweichung von Regeln oder Effizienz. So geht es auch bei allen Versuchen, Betriebe zu organisieren, vorrangig um den massiven Arbeitsdruck und die permanente Kontrolle.
„Während Jeff Bezos ins All geflogen ist, haben wir hier eine Gewerkschaft organisiert“
Chris Smalls, Gründer und Präsident der Amazon Labor Union
Die Frage ist, ob sich hier ein Wendepunkt für die breitere US-Arbeiterbewegung abzeichnen könnte. Die Zahlen sehen nämlich immer noch trist aus: Im vergangenen Jahr waren nur 10,3 Prozent der US-Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder, ein Rückgang von etwa 20 Prozent gegenüber dem Beginn der 1980er Jahre. Unter den 16- bis 24-Jährigen, die überproportional in Branchen ohne Gewerkschaften arbeiten, waren es nur 4,2 Prozent.
Andererseits standen bei einer Gallup-Umfrage letztes Jahr beeindruckende 68 Prozent der AmerikanerInnen den Gewerkschaften positiv gegenüber, der höchste Wert seit 1965. ArbeitnehmerInnen haben außerdem an eher überraschenden Orten begonnen, ihre Betriebe zu organisieren: In Starbucks-Filialen, in Technologieunternehmen wie bei Google, und kürzlich auch beim Hochglanz-Modemagazin-Verleger Condé Nast (Vogue, Vanity Fair, GQ, u.a.). Auch der makroökonomische Kontext spielt eine Rolle: Der Mangel an Arbeitskräften seit der Pandemie macht die Beschäftigten selbstbewusster und kämpferischer.
Chris Smalls, der authentisch und für seine KollegInnen so vertrauenswürdig ist, dass sie ihm ihre Stimme gaben, feierte nach all den Monaten harter Arbeit sichtbar glücklich mit seinen MitstreiterInnen den Sieg. „Während Jeff Bezos ins All geflogen ist, haben wir hier eine Gewerkschaft organisiert“, jubelte Smalls.