„Ich glaube, dass Frauen Gewalt anders, aber nicht seltener ausüben“

Die forensische Psychiaterin Adelheid Kastner bei einer Veranstaltung von Gewerkschaft GPA und vida im März 2024
Foto: Armin Fuchs

Gewalt am Arbeitsplatz lässt sich kaum verhindern, erklärt die Primarärztin Adelheid Kastner im Interview. Für ihren eigenen Arbeitsplatz, das Kepler Universitätsklinikum Linz, gibt sie die Devise aus: „Ich stehe zu meinem Team und mein Team steht zu mir. Wir können nur so gut sein, wie wir einander unterstützen“.

KOMPETENZ: Wo beginnt Gewalt am Arbeitsplatz? Ist es bereits Gewalt, wenn ich dem Kollegen, der Kollegin ständig ins Wort falle?

Adelheid Kastner: Gewalt findet immer dort statt, wo jemand, daran gehindert wird, sein Potenzial zu verwirklichen. Wenn ich jemandem ständig ins Wort falle, mich selbst ständig in den Vordergrund stelle, dann ist das Gewalt, denn sie hindert den anderen an der Verwirklichung seines Potentials.

KOMPETENZ: Das bedeutet, wenn Gewalt in so vielen Formen und selbst in kleinsten Alltagshandlungen präsent ist, dass sie sich gar nicht verhindern lässt…

Adelheid Kastner: Gewalt an sich lässt sich nicht verhindern. Was sich verhindern lässt, ist, dass Gewalt System hat. Es geht nicht um Fälle, in denen einmal eine Person einer anderen ins Wort fällt. Je formal geringfügiger die Handlungen sind, desto relevanter werden sie in der Häufung. Wenn ich jemanden ohrfeige, reicht ein Vorfall, um etwas unternehmen zu müssen. Falle ich jemanden ins Wort, muss man sich nicht beim ersten Mal über Gewalt beschweren. Aber wann das System hat und bei jeder Besprechung fällt mir der Kollege ins Wort, würgt mich ab, dann muss das angesprochen werden.

„Auch in der Arbeitswelt spielt mangelnder Selbstwert eine Rolle: Menschen fühlen sich wichtiger, bedeutsamer, wenn sie jemanden niedermachen.“

Adelheid Kastner

KOMPETENZ: In einem Interview mit der Wochenzeitung Furche sagten sie, mangelnder Selbstwert sei die Basis fast jeden Deliktes. Bei Gewalt gehe es darum, sich zumindest temporär mächtig oder übermächtig zu fühlen. Wie zeigt sich das in der Arbeitswelt?

Adelheid Kastner: Dieses Interview bezog sich auf Tötungsdelikte ohne erkennbares Motiv. In solchen Fällen ist zumeist der mangelnde Selbstwert das Thema. Am Arbeitsplatz gibt’s eine breitere Basis, aus der heraus unterschiedlichen Formen von Gewalt entstehen. Aber auch in der Arbeitswelt spielt mangelnder Selbstwert eine Rolle: Menschen fühlen sich wichtiger, bedeutsamer, wenn sie jemanden niedermachen. Es gibt auch Leute, die von ihrem eigenen Wert sehr profund überzeugt sind und sich ganz unkritisch herausnehmen, andere abzukanzeln, zu maßregeln, zu attackieren. In solchen Fällen sind grundlegende Faktoren eines gelingenden Zusammenlebens nicht verinnerlicht worden.

KOMPETENZ: Welche Rolle spielen Hierarchien?

Adelheid Kastner: Dass ich mehr wert bin, weil ich Chefin bin, ist Blödsinn. Chefin ist eine Position, aber das ändert nichts an meiner Wertigkeit als Person. Ich bin immer unglücklich, wenn man sagt, Macht sei schlecht und Hierarchien sollten möglichst flach sein. Ich finde nicht! Macht wird immer so negativ besetzt. Aber Macht gibt mir die Möglichkeit, etwas positiv zu verändern. Ich kann nur Veränderung anstoßen, wenn ich der entsprechenden Position bin. Flache Hierarchien, schön und gut, aber es müssen nicht alle Entscheidungen basisdemokratisch getroffen werden. 

KOMPETENZ: Sie meinen, hierarchische Arbeitsbeziehungen sind nicht automatisch anfälliger für Gewalt…?

Adelheid Kastner: Nicht zwingend. Es hängt davon ab, wie Menschen diese Macht ausüben und ob diese als Person geeignet sind, diese hierarchische Position zu besetzen. Ein Spital beispielsweise ist ein hierarchischer Arbeitsplatz. Es gibt keine basisdemokratische Entscheidung über die Operationsmethode. Aber das allein macht diesen Arbeitsprozess nicht zwingend gewaltaffin. Es hängt davon ab, wie derjenige, der diese verantwortliche Position hat, mit dieser Verantwortung umgeht. Das ist eher eine Frage der Persönlichkeitsstruktur als eine Frage der Hierarchie.

KOMPETENZ: Welche Rolle spielt Männlichkeit bei der Frage nach Gewalt am Arbeitsplatz?

Adelheid Kastner: Ich glaube nicht, dass Männer tendenziell gewaltaffiner sind, nur die Formen der Gewalt sind andere. Frauen sind nicht die besseren Menschen, aber sie begehen weniger sexuelle Übergriffe. Ich denke, dass Frauen Gewalt in subtilerer Form ausüben.

KOMPETENZ: Zum Beispiel?

Adelheid Kastner: Lächerlich machen darüber, wie die die Kollegin angezogen, wie sie geschminkt ist, sich lustig machen über die Krawatte des Chefs. Jemanden von Klatsch und Tratsch ausschließen, jemanden uninformiert lassen. Ich glaube, dass Frauen Gewalt anders, aber nicht seltener ausüben. 

„Menschen, die mit ihrem Leben unzufrieden sind, neigen eher dazu, die üblichen Hemmungen fallen zu lassen.“

Adelheid Kastner

KOMPETENZ: An vielen Arbeitsplätzen steigt der Leistungs- und Kontrolldruck, Arbeitsverhältnisse werden prekärer. Inwiefern befördert diese Entwicklung Gewalt?

Adelheid Kastner: Menschen, die mit ihrem Leben unzufrieden sind, neigen eher dazu, die üblichen Hemmungen fallen zu lassen. Wenn mein Arbeitsplatz bedroht ist, werde ich potentiell unrund. Und wenn ich unrund bin, dann wirds mir leichter passieren, dass aus dieser Anspannung irgendetwas passiert, was nicht in Ordnung ist. Aber ich halte es für unzutreffend, dass der Leistungsdruck steigt. Es steigt der Kontrolldruck und die Formalisierung, der Handlungsspielraum nimmt ab. Alles wird mittlerweile mit einer „Standard Operating Procedure“ (SOP) versehen. Das nimmt im Einzelfall die Möglichkeiten, einer Situation gerecht zu werden, ohne die Vorgaben zu verletzen – und das verursacht Druck, Stress.

KOMPETENZ: Vielfach ist die Rede davon, dass Gewalt am Arbeitsplatz zunimmt. Inwiefern nimmt sie tatsächlich zu und inwiefern ist das auch Resultat einer gesellschaftlichen Sensibilisierung?

Adelheid Kastner: Die Zunahme von Gewalt am Arbeitsplatz unter Beschäftigten ist eine Folge der vermehrten Sensibilisierung und der vermehrten Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. Was aber faktisch zugenommen hat, das kann ich aus meiner eigenen 40-jährigen Erfahrung in der Klinik sagen, sind Vorfälle, bei denen Angehörige von Patient:innen Klinikpersonal niederbrüllen oder anspucken. Das gabs vor 40 Jahren nicht und schon gar nicht in dieser Häufigkeit. Was es auch nicht gab, ist, dass Patient:innen sofort Anzeige erstatten und klagen, wenn ihnen etwas nicht passt, ihnen beispielsweise das Zimmer nicht groß genug ist. Man kann jetzt sagen, dies ist nur eine minimale Form von Gewalt, gegen eine Institution gerichtet. Aber trotzdem ist es für die betroffenen Mitarbeiter:innen unangenehm.

KOMPETENZ: Wie gehen Sie bzw. ihre Belegschaft damit um?

Adelheid Kastner: In meiner Abteilung sind diese Vorfälle Chefsache. Wenn so etwas passiert, nehme ich mich drum an. Das wissen auch alle. Ich mache das gründlich, sorgfältig und mit Vehemenz. Das gibt meinen Mitarbeitern sehr viel Sicherheit, weil sie wissen, sie haben den absoluten Rückhalt. Ich stehe auf Biegen und Brechen zu ihnen. Ich bin keine Chefin, die sagt, „naja, wer weiß, ob du vielleicht eh was falsch gemacht hast“. Ich stehe zu meinem Team und mein Team steht zu mir. Wir wissen, wir brauchen wir einander. Wir können nur so gut sein, wie wir einander unterstützen.

Zur Person: Adelheid Kastner ist Primarärztin der Klinik für Psychiatrie mit forensischem Schwerpunkt am Kepler Universitätsklinikum in Linz. Sie gilt als eine der renommiertesten Expertinnen im Bereich der Forensischen Psychiatrie und war unter anderem als Gerichtsgutachterin im Fall Fritzl und der Causa Kremsmünster tätig. Im November 2015 wurde Adelheid Kastner das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich verliehen.

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