Der Wirtschaftswissenschafter Andreas Novy ist Mitautor des Lehrbuches „Zukunftsfähiges Wirtschaften“. Im Interview mit KOMPETENZ Online erklärt er, wie wir in eine Vielfachkrise geschlittert sind und was das mit Asien und MAN in Steyr zu tun hat. Und insbesondere: Was es braucht, um die Wirtschaftskrise hinter uns zu lassen.
KOMPETENZ: Herr Novy, seit gut einem Jahr beschäftigt uns die Coronakrise. Sehr viele Menschen haben ihre Arbeit verloren, die Armut wächst. Wie beurteilen Sie die Lage?
Andreas Novy: Wirtschaftlich gesehen können wir einen Bruch beobachten, in seinem Ausmaß vergleichbar mit dem des zweiten Weltkriegs. Das ist der massivste Einschnitt seit vielen Jahrzehnten. Die Pandemie aber ist nur eine dramatische Zuspitzung der Umbruchszeit, in der wir gegenwärtig leben. Da gibt es mindestens zwei wesentliche Entwicklungen, die uns hier in Österreich betreffen: Das eine ist der Klimawandel, das andere ist der Aufstieg Asiens und die geopolitischen, geowirtschaftlichen Veränderungen.
KOMPETENZ: Was wandelt sich da gerade im Wirtschaftsverhältnis zu Asien?
Andreas Novy: Europa war viele Jahrhunderte lang Kolonialherr und die restliche Welt die Kolonisierten. Wir haben technische Industrieprodukte mit hoher Wertschöpfung hergestellt, Afrika und Lateinamerika haben die Rohstoffe geliefert. Mit dem Aufstieg mancher Staaten zu Schwellenländern verschiebt sich die Welthierarchie. Das hat eine Reihe von Implikationen, die gerade für uns nicht angenehm sind.
China war bis ins 18. Jahrhundert auf einem sehr ähnlichen Entwicklungsniveau wie Europa. Die Jahre zwischen 1850-1950 waren für China dramatisch. In dem Zeitraum sind alle Strukturen zusammengebrochen und China wurde zu einem sehr armen Entwicklungsland.
In den letzten Jahrzehnten, in welcher der kommunistische Kapitalismus vorherrschte, wurde klar, dass dort eine nationalistische Form eines vermutlich erfolgreichen Kapitalismus entsteht. Der macht dem Westen Konkurrenz in einem Ausmaß, das vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen wäre.
KOMPETENZ: Was kommt von dieser Verschiebung in Europa, und was in Österreich an?
„Eine starke Industrie ist Grundlage einer erfolgreichen Volkswirtschaft. Insbesondere der asiatische Raum gewinnt da stark an Marktanteilen.“
Andreas Novy
Andreas Novy: In Europa, und auch in Österreich, kommt es zu einer Deindustrialisierung. Das bedeutet, tendenziell gut bezahlte Industriearbeiterjobs wandern ab, dadurch wächst der Dienstleistungssektor hierzulande. Und der hat Arbeitsplätze höchster Qualität, aber auch sehr prekäre. In der Tendenz sinken Lohnniveau und Wertschöpfung. Eine starke Industrie ist Grundlage einer erfolgreichen Volkswirtschaft. Insbesondere der asiatische Raum gewinnt da stark an Marktanteilen.
Das sehen wir schon im Kleinen bei MAN: Es macht natürlich was aus, ob an einem Standort nur ausländische Direktinvestitionen getätigt werden, wie in Steyr, oder ob dort die Konzernzentrale sitzt, wie in München/Deutschland. Bei so massiven Umstrukturierungsmaßnahmen wie in der Automobilindustrie werden die deutschen Standorte begünstigt, wenn es um zukunftsträchtige Wertschöpfungsbereiche geht, wie die E-Mobilität.
Man sieht, was zu erwarten ist, wenn chinesische Firmen auch in der EU-Volkswirtschaft präsent sind: Es werden hochrangige Forschung und Entscheidungen nach Asien abwandern.
KOMPETENZ: Neben den geowirtschaftlichen Verschiebungen haben Sie noch den Klimawandel erwähnt.
Andreas Novy: Ja. Der Klimawandel wird ein zentrales Phänomen der nächsten Jahrzehnte, er wird sich noch weiter zuspitzen. Wir machen seit Jahrzehnten Klimapolitik. Sieht man sich an, welche Maßnahmen mit welcher Wirksamkeit gesetzt wurden, dann ist das sehr ernüchternd. Österreich steht da besonders schlecht da.
Die Klimapolitik hat die letzten Jahre versucht, ökologische Probleme allein mit Technologie und Marktlösungen zu bewältigen. Aber das geht nicht. Hier stehen grundlegende Veränderungen an.
KOMPETENZ: Was braucht es auf wirtschaftlicher Seite, um mit dieser vielfältigen Krise einen Umgang zu finden?
„Nehmen Sie als Beispiel das Rote Wien aus der Zwischenkriegszeit. Die großen Fortschritte im Lebensstandard der Arbeitenden waren nicht vorrangig höhere Löhne, sondern der Ausbau der sozialen Infrastruktur.“
Andreas Novy
Andreas Novy: Wir schlagen in unserem Buch „Zukunftsfähiges Wirtschaften“ eine grundsätzliche Umorientierung vor. Wir müssen die Bedürfnisbefriedigung weniger über Märkte und Einkommen organisieren, sondern mehr über sozialökologische Infrastrukturen und ihre kollektive Bereitstellung. Das ist das Grundprinzip.
Nehmen Sie als Beispiel das Rote Wien aus der Zwischenkriegszeit. Die großen Fortschritte im Lebensstandard der Arbeitenden waren nicht vorrangig höhere Löhne, sondern der Ausbau der sozialen Infrastruktur, das Wohnbauprogramm, aber auch die vielfältigen Freizeitangebote, wie das Amalienbad, die Jugendfürsorge, Vorstöße in Richtung einer Gesamtschule.
Legt man das um auf die heutige Zeit geht es um den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, der öffentlichen Grünräume in der Stadt, die dort ja überwiegend von der ärmeren Bevölkerung genutzt werden. Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig ein gutes Gesundheitssystem ist, sie hat die Grenzen der Privatisierung gezeigt: Gesundheit ist wichtiger als Wirtschaft. Wir sehen, dass wir unterschiedliche Bereiche des Wirtschaftens unterschiedlich behandeln müssen. So ist es in den Gesundheits- und Pflegebereichen nicht zu rechtfertigen, dass es da Beschäftigungen gibt, die wenig verdienen und zu lange arbeiten müssen.
KOMPETENZ: Was muss sich noch ändern?
Andreas Novy: Die Klimafrage wird zu einem, wenn nicht dem zukunftspolitischen Thema. Im Weltmaßstab gesehen hat der Großteil der Bevölkerung einen sehr bescheidenen Emissionsausstoß, die müssen ganz wenig verändern. Es gibt aber eine Minderheit, die einen extrem hohen CO2-Ausstoß hat. So errechnete der Global Emission Report der UN, dass über 50 Prozent der weltweiten CO2-Ausstöße im Flugverkehr von nur einem Prozent der Weltbevölkerung verbraucht werden.
Wir sehen, es ist im Wesentlichen eine Verteilungsfrage und nicht alle müssen im gleichen Ausmaß den sprichwörtlichen Gürtel enger schnallen. Daher braucht es auch nicht so sehr den Fokus auf individuelle Lösungen. Die Herausforderung ist wie wir Bedürfnisse als Gesellschaft befriedigen.
„Österreich sollte als Exportland eine Unterscheidung zwischen dem europäischen Markt und dem Weltmarkt treffen und den europäischen in stärkerem Ausmaß als Binnenmarkt verstehen.“
Andreas Novy
KOMPETENZ: In Österreich ist man daran gewöhnt Produkte aus aller Welt jederzeit zur Verfügung zu haben, soweit man genug Geld bezahlen kann. Wie kann eine zukunftsfähigere Weltwirtschaft aussehen?
Andreas Novy: Österreich sollte als Exportland eine Unterscheidung zwischen dem europäischen Markt und dem Weltmarkt treffen und den europäischen in stärkerem Ausmaß als Binnenmarkt verstehen. Das wäre aus ökologischen Gründen sinnvoll. Sinnvoll wäre das auch vor dem Hintergrund des Wettbewerbs zwischen China und den USA, weil es Europa einen eigenständigen Platz geben könnte.
Das würde aber erfordern, dass sich die europäischen Institutionen viel aktiver von der Idee verabschieden, die Märkte würden alles regeln.
Zudem kann eine selektive wirtschaftliche Deglobalisierung sinnvoll sein. Zu fragen, welche Wertschöpfungsketten kann man wieder stärker in Europa organisieren? Wie kann man die Kostenwahrheit im Verkehr schaffen und deshalb die Transportkosten erhöhen, um das Dumping zu Lasten der Umwelt einzuschränken, das durch die Schifffahrt und den Flugverkehr vorangetrieben wird. All das würde in die Richtung einer Stärkung des europäischen Wirtschaftsraums und der eher kleinräumigen Vernetzung führen – und das halte ich für ganz, ganz wichtig.
Auf Weltebene müsste die globale Staatengemeinschaft Verantwortung übernehmen, um Pandemien, extreme Armut und Hunger gemeinsam zu bekämpfen. Das wird nicht gehen, wenn die Machtkonzentration der großen Konzerne bestehen bleibt.