In einer herausragenden Analyse zeichnet der britische Journalist Owen Jones die „Dämonisierung der Arbeiterklasse“ nach. Sein Fazit: Für diese kann es nur geeint wieder nach oben gehen!
Verschwitztes Unterleiberl, fettiges Haar, dazu ein Dosenbier. So sitzt er da, der Proll, der dümmlich-aggressive und sexuell enthemmte Proll, und schaut TV. Den ganzen Tag über, und will nicht arbeiten. „Chavs. The Demonization of the Working Class“ (dt. Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse) vom britischen Journalisten Owen Jones wurde bereits 2010 veröffentlicht, unlängst neu aufgelegt – und ist aus österreichischer Sicht brandaktuell.
In der Nachkriegszeit, schreibt Jones, war die britische ArbeiterInnenklasse eine, die mit Würde, mit Stolz erfüllt war. Angehörige(r) der ArbeiterInnenklasse zu sein war Statussymbol, bedeutete Gemeinschaft, Zusammenhalt, eine starke Gewerkschaft im Rücken, jährliche Lohnzuwächse, eine allgemeine Verbesserung der Situation von Jahr zu Jahr.
Dann kam Thatcher. Mit der Machtergreifung der Tory-Politikerin Margaret Thatcher im Jahr 1979 kam es zu einem Frontalangriff auf Gewerkschaften und die ArbeiterInnenklasse. In der gewaltsamen Niederschlagung der Bergarbeiterstreiks 1984/85 sieht Jones einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der britischen ArbeiterInnenklasse. Fortan wurden die Rechte von Gewerkschaften beschränkt, so stark wie in keinem anderen europäischen Land, Sozialstandards abgebaut und Steuern für Reiche gesenkt. Innerhalb weniger Monate verloren Tausende ArbeiterInnen ihre Jobs, ihre Häuser und Wohnungen. Ihre Würde und ihren Stolz.
New Labour: Der ArbeiterInnenklasse entkommen
Die sozialen Auswirkungen in den kommenden Jahren waren frappierend: kaum ein europäisches Land zählt so viele Armutsbetroffene wie Großbritannien, nirgends klafft die Schere zwischen Arm und Reich derart auseinander. In der Folge stieg die Zahl der Obdachlosen, der Drogenabhängigen, der Suizide und Gewalttaten.
Infolge der traumatisierenden Thatcher-Jahre änderte auch die Labour Party Anfang der 1990er-Jahre ihren Kurs, allen voran unter Parteichef Tony Blair. Dessen Wahl zum Premierminister 1997 führte jedoch – entgegen der Erwartung vieler WählerInnen – kaum zu einer Verbesserung der Situation der ArbeiterInnenklasse. Denn Labour war von nun an New Labour, nicht mehr Klassenkampf und Sozialismus, sondern ein „Arrangement“ mit den „Bedürfnissen des Marktes“ stand auf der Agenda. Sinnbildlich dafür ihr Slogan: „We are all middleclass now!“. Eine entscheidende Veränderung, konstatiert Jones. Denn das Ziel von New Labour lautete fortan nicht mehr, die Situation der ArbeiterInnenklasse als Ganzes zu verbessern, sondern Mittelklasse zu werden, ergo der ArbeiterInnenklasse zu entkommen. Die Labour Party machte Klassenkampf damit zu einer individuellen Aufgabe, kritisiert Jones.
Wenn Klassenkampf zur individuellen Aufgabe verkommt, man es also selbst in der Hand hat, alleine schaffen kann – dann gilt umgekehrt: wer es nicht schafft, nicht Mittelklasse wird, ist eben selbst schuld.
Weil er eben nicht will, der Proll
Die toxische Symbiose aus Thatcherismus und New Labour verdichtet sich schließlich im Proll, dem zum Grund allen Übels hochstilisierten Sündenbock. Während sich herrschende Kapitalfraktionen – mit tatkräftiger Unterstützung der Politik – schamlos bereichern, die Situation von ArbeiterInnen immer prekärer wird, die Arbeitslosigkeit und mittelbar Gewalt- und Drogendelikte in die Höhe schnellen, sind die Herrschenden in Politik und Wirtschaft um Erklärungen bemüht: Der Proll. Der eben nicht will, lieber Chips in sich hineinfrisst, sich unaufhörlich vermehrt, fett wird und verdientermaßen verarmt, versifft. Weil er eben nicht will, der Proll.
Für die Herrschenden hat die Verklärung des Prolls, so Jones, den angenehmen Nebeneffekt, dass einerseits ein Sündenbock für jegliche gesellschaftliche Verwerfungen gefunden ist – und andererseits die ArbeiterInnenklasse als solches gespalten wird. Denn mithilfe der Medien und breit angelegten Kampagnen wird der Proll auch innerhalb der ArbeitInnenklasse zum Feindbild, zur ideellen Schablone sämtlicher gesellschaftlicher Verwerfungen.
Bei dieser Dämonisierung, kritisiert Jones, ist es nicht nur der Boulevard, der munter mitmischt, sondern nahezu die gesamte Medienlandschaft. Denn deren MitarbeiterInnen entstammten nur in den allerseltensten Fällen der ArbeiterInnenklasse. Kaum eine seiner KollegInnen habe eine Ahnung von den Lebensrealitäten jener, die mit drei Jobs gleichzeitig und 60 Stunden Arbeit pro Woche trotzdem nicht genug zum Leben haben.
Nur gemeinsam
Mit viel Zahlenmaterial und Dutzenden, teils schockierenden Beispielen – zum Beispiel die Forderung nach „Geburtenkontrollen“ für Prolls – skizziert Jones eindrucksvoll die gezielte Demontage einer einst stolzen ArbeiterInnenklasse. Kaum ein Kapitel, bei dem man sich nicht auch an Österreich erinnert fühlt. Wenn hierzulande vom „degressiven Arbeitslosengeld“ die Rede ist, damit Arbeitslose stärker „motiviert“ werden, um einen Job anzunehmen; wenn sich UnternehmerInnen im Boulevard darüber echauffieren dürfen, dass man keine BewerberInnen finde, obwohl man doch eh 1.500 brutto zahle; wenn selbsternannte Qualitätszeitungen darüber schreiben, dass unser „Sozialsystem zu großzügig für die Generation Honiglebkuchen“ sei. Nach unten tritt sich’s leichter.
Es sind dieselben Mechanismen und Strategien, die hierzulande zum Einsatz kommen, die Jones – bereits Jahrzehnte zuvor – in Großbritannien beobachtet. Ziel müsse es sein, so der Autor, den umgekehrten Weg zu gehen: nicht als Summe von Individuen gegeneinander zu kämpfen, sondern gemeinsam, als Klasse, gegen einen gemeinsamen Gegner. Nur vereint könnten ArbeiterInnen wieder etwas an ihrer Situation verbessern!
Beim Lesen wünscht man sich an manchen Stellen anstatt dem x-ten Dämonisierungs-Beispiel etwas mehr analytische Schärfe. So bekommt man insgesamt den Eindruck, nicht die kapitalistische Klasse, sondern die Mittelklasse ist es, die Jones ihrer Macht berauben möchte. Die strategischen Verbindungen zwischen Staat, Medien und Kapital, der Herrschenden, bleiben leider ebenso im Dunkeln wie grundlegende kapitalistische Mechanismen. Insgesamt aber bleibt nicht vielmehr zu sagen als: Absolut lesenswert!
Zum Buch
Chavs: The Demonization of the Working Class, dt. Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse.
Verlag: Verso Books
Owen Jones