Plädoyer für Arbeitszeitverkürzung

Claudia Sorger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei L&R Sozialforschung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Arbeitsmarkt, Arbeitszeit und Gleichstellung.
Foto: Nurith Wagner-Strauss

Die Soziologin Claudia Sorger (L&R Sozialforschung) skizziert im Interview mit der KOMPETENZ die Rahmenbedingungen von Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialbereich.

Obwohl ArbeitnehmerInnen sehr motiviert sind und ihre Tätigkeit als sinnvoll erachten, schaffen es viele nicht bis zum Pensionsantrittsalter im Job zu bleiben. Viele Teilzeitjobs in dieser Branche führen zudem zu teils prekären Arbeits- und Lebensbedingungen.

KOMPETENZ: Rund 100.00 Menschen arbeiten in Österreich im privaten Gesundheits- und Sozialbereich. Sie sind in der Pflege, in der Kinderbetreuung, in der Behindertenarbeit, der psychosozialen Arbeit, in der Kinder- und Jugendhilfe sowie im Bereich Arbeitsmarktpolitik tätig. All das sind Berufe, in denen die Arbeit mit und die Betreuung von Menschen im Vordergrund steht. Was sind für diese Gruppen die besonderen Herausforderungen im Arbeitsalltag?

Claudia Sorger: Die Menschen, die in diesen Feldern arbeiten, machen das mit großer Freude. Sie sind sehr engagiert, können sich stark mit ihrem Arbeitsbereich identifizieren und halten ihre Tätigkeit auch für sehr sinnvoll. Aber das Problem dabei ist das Rundherum, das Problem sind die Arbeitsbedingungen. Das betrifft einerseits die gesamte Arbeitsorganisation und die Arbeitszeit. Im letzten Jahrzehnt haben sich dabei die Arbeitsbedingungen noch mehr verschlechtert, sodass es zu einer Arbeitsverdichtung gekommen ist, die auch zu sehr großen gesundheitlichen Belastungen führt.

KOMPETENZ: Welche Probleme ergeben sich für Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialbereich durch die Arbeitsorganisation?

Claudia Sorger: In manchen Bereichen ist die Zahl der KlientInnen gestiegen und gleichzeitig wurde das Personal nicht entsprechend erhöht beziehungsweise teils sogar reduziert. Dazu ist der Aufwand für Dokumentation extrem angestiegen.

KOMPETENZ: Worin liegen die mit der Arbeitszeit verbundenen Sorgen der hier Beschäftigten?

Claudia Sorger: Einerseits ist der Bereich geprägt von einer sehr hohen Teilzeitquote. Wenn man sich den Gesundheits- und Sozialbereich insgesamt ansieht, also private und öffentliche Arbeitgeber, dann arbeiten hier Frauen zu 55 Prozent Teilzeit (Zahlen von 2016, Anm.) und auch bei Männern ist der Teilzeitanteil mit über 47 Prozent sehr hoch. Wenn man sich nur den Sozialbereich – darunter fallen zum Beispiel Kinderbetreuung und soziale Arbeit – ansieht, arbeiten sogar 67 Prozent der Frauen Teilzeit. Problematisch sind auch die geteilten Dienste, etwa für Beschäftigte in der mobilen Pflege.

KOMPETENZ: Warum arbeiten so viele Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialbereich Teilzeit?

Die Soziologin Claudia Sorger plädiert für eine Arbeitszeitverkürzung im privaten Gesundheits- und Sozialbereich auf 30 Stunden.
Fotos: Nurith Wagner-Strauss

Claudia Sorger: Es sind hier hauptsächlich Frauen tätig, die zu einem großen Teil aus Vereinbarkeitsgründen Teilzeit arbeiten. Das ist sicher nicht alles unfreiwillige Teilzeit, eben aus Vereinbarkeitsgründen. Viele sagen aber, dass sie auf Grund der Arbeitsbelastung auch nicht Vollzeit arbeiten könnten. Bei den geteilten Diensten ist es ein irrsinnig lang gestreckter Arbeitstag, der sich ergibt aus Pflege in der Früh und am Abend, oder wenn ich als BehindertenbetreuerIn in einer WG arbeite, gibt es Arbeit in der Früh und am Abend, wenn die KlientInnen wieder zurückkommen. Das sind natürlich Erfordernisse. Aber wenn sich das verteilt auf eine zu geringe Anzahl von Personen, die dort arbeitet, dann ist es sehr schwierig für die einzelnen Beschäftigten. Es sind dann trotz kurzer Dienste dennoch lange Arbeitstage.

KOMPETENZ: Daraus ergibt sich auch eine schlechte Planbarkeit des Privatlebens.

Claudia Sorger: Das ist ein großes Thema. Gerade da, wo eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung gebraucht wird oder wo beispielsweise die Öffnungszeiten von Kindergärten auch sehr lang sind, ist die Dienstplangestaltung schwierig. Und je niedriger die Personaldecke ist, umso öfter muss man kurzfristig einspringen und desto weniger kann ich auch meinen eigenen Bedürfnissen folgen, wenn es etwa darum geht, wann ich mir Urlaub oder einen freien Tag nehme.

KOMPETENZ: Teilzeitarbeit führt trotz Beschäftigung dennoch oft zu einer prekären Lebenssituation, weil am Ende zu wenig Geld da ist.

Claudia Sorger: Die Einkommen sind hier generell schon sehr niedrig, selbst wenn man es auf Vollzeit hochrechnet, vor allem, wenn man es mit anderen Branchen vergleicht. Wir haben im Rahmen eines Forschungsprojekts, wo es um Einkommen gegangen ist, den Finanzbereich und den Gesundheitsbereich miteinander verglichen. Da ist dann schon sehr offensichtlich, dass es Riesenunterschiede zwischen diesen beiden Sektoren gibt. Wenn wir uns die Verdienststrukturerhebung von 2010 anschauen, lagen der Stundenlohn bei Männern im Finanzsektor bei 25 Euro, bei Frauen waren es 17,4 Euro. Im Gesundheitsbereich waren es 15,4 Euro bei den Männern und 13,6 Euro bei den Frauen. Das sagt viel darüber aus, welche Arbeit wie hoch bewertet wird.

KOMPETENZ: Wenn man mit BetriebsrätInnen spricht, ist zum Beispiel die mobile Pflege ein Arbeitsbereich, in dem MitarbeiterInnen meist schon lange vor dem Pensionsantrittsalter mit gesundheitlichen Problemen kämpfen und nicht mehr arbeiten können.

Claudia Sorger: Da gibt es einige Studien dazu, die das belegen. Wenn man etwa die Beschäftigten fragt, ob sie glauben, dass sie ihren Beruf bis zum Pensionsantrittsalter durchhalten werden können, da sagen nur 26 Prozent der im Sozial- und Gesundheitsbereich Beschäftigten, dass sie das glauben. Wenn man sich im Vergleich dazu den Durchschnitt aller anderen Beschäftigten ansieht, glauben das immerhin 51 Prozent. Auch die Zeiten, die die Beschäftigten an einer Arbeitsstelle bleiben, sind kürzer als in anderen Branchen.

Die gesundheitlichen Belastungen sind vor allem Knochen-, Gelenks- und Muskelprobleme, hervorgerufen etwa durch schweres Heben. Aber auch die psychischen Belastungen sind sehr stark, dieses Sich-ausgebrannt-Fühlen. Das betrifft ein Fünftel der im Gesundheitsbereich Beschäftigten. Bei den Beschäftigten in der Kinderbetreuung sind Muskelerkrankungen sehr stark, Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich, Rücken- und Kreuzschmerzen, aber auch einfach Kopfweh und Müdigkeit durch die Lautstärke.

„Die aktuelle Forderung zielt auf 35 Stunden ab. Das wäre ein erster Schritt, aber für viele Bereiche wären 30 Stunden sinnvoll.“

Claudia Sorger, Soziologin

KOMPETENZ: Was müsste an den Rahmenbedingungen verändert werden, damit mehr Menschen in diesen Berufen bis zum Pensionsantrittsalter arbeiten können?

Claudia Sorger: Arbeitszeit ist hier ein ganz wichtiger Dreh- und Angelfaktor. Das Ausmaß der Vollzeitarbeit sollte immer an die Realität angepasst sein. Es ist kein Zufall, dass Menschen dort in diesem Arbeitszeitausmaß arbeiten. Das heißt, man müsste die Normalarbeitszeit auf jeden Fall reduzieren, bei vollem Lohnausgleich. Die aktuelle Forderung zielt auf 35 Stunden ab. Das wäre ein erster Schritt, aber für viele Bereiche wären 30 Stunden sinnvoll. Gleichzeitig müsste die Anzahl der Beschäftigten erhöht werden. Für viele Menschen wäre das eine Anpassung an den Ist-Zustand. Es würde sich ihre Stundenzahl nicht verändern, aber der Stundenlohn würde sich erhöhen, was für Beschäftigtengruppen, die sehr geringe Einkommen haben, sehr wichtig wäre. Durch eine bessere Bezahlung würde auch Wertschätzung ausgedrückt.

Es geht aber auch um die Frage, wie mit Berufsrisiken wie Verletzungs- und Unfallgefahr, Abnutzungserscheinungen oder psychischer Überlastung umgegangen wird. Es gibt Gefahren, denen ich mich aussetze, wenn ich mit Patienten, Patientinnen arbeite, wenn ich mit Menschen arbeite, die psychische Erkrankungen haben. Es gibt in dem Bereich auch Fälle von Gewalt von PatientInnenseite am pflegenden Personal. Das sollte so wie in der Industrie oder im Baugewerbe mit einer Gefahrenzulage abgegolten werden.

KOMPETENZ: Das eine sind finanzielle Zuschläge. Was könnten ArbeitgeberInnen aber auch tun, um Gesundheitserhaltung in diesen Berufen zu fördern?

Claudia Sorger: Ein ganz wichtiger Punkt ist auch hier die Arbeitszeit. Da gibt es das Beispiel eines Pflegeheimes in Göteborg, wo in einem zweijährigen Pilotprojekt der Sechsstundentag eingeführt wurde und wo man sich in einer Begleitstudie die Auswirkungen angeschaut hat. Interessant war, dass sich nicht nur die Arbeitszufriedenheit erhöht hat und sich die Krankenstände reduziert haben, sondern man hat auch die PatientInnen und zu Pflegenden befragt und diese haben gemerkt, es ist einfach mehr Zeit für sie da. Sie werden anders behandelt. Den Faktor finde ich auch ganz wichtig. Wir sollen uns ja auch überlegen, wie wollen wir behandelt werden, wenn wir Pflege brauchen und dazu ist es auch notwendig, bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

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zur Person

Claudia Sorger

 
geb. 1972 in Wien, Soziologin und Politikwissenschafterin. Seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei L&R Sozialforschung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitsmarkt, Beschäftigungspolitik, Arbeitszeit, Gender Mainstreaming, Gleichbehandlung und Frauenförderung. www.lrsocialresearch.at

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