Der deutsche Wirtschaftspsychologe Manfred Mühlfelder suchte in einer Studie unter Handelsangestellten nach Faktoren, die dabei helfen, sozialen Stress, der durch schwierige Kundengespräche erzeugt wird, besser zu bewältigen.
Er kommt zu dem Schluss, dass der Umgang mit schwierigen Kunden gezielt trainiert und verbessert werden kann. Das kann die psychischen Belastungen auch in der aktuellen Pandemie-Situation für Handelsangestellte verringern.
KOMPETENZ: Sie haben 2018 in einer Studie untersucht, welchen Belastungen im Arbeitsalltag Handelsangestellte in Deutschland ausgesetzt sind? Wie geht es den Verkäufern im Einzelhandel?
Mühlfelder: Die Berichte der deutschen Krankenkassen zeigen, dass psychische Belastungen und Belastungsstörungen für einen Großteil der Ausfalltage im Einzelhandel verantwortlich sind. Die Arbeitsunfähigkeitstage sind trotz des relativ geringen Durchschnittsalters der ArbeitnehmerInnen im Branchenvergleich überdurchschnittlich hoch. Wenn Handelsangestellte krank sind, dann fallen Sie meist deutlich länger aus als Beschäftigte in anderen Branchen.
KOMPETENZ: Wie kann man das erklären?
Mühlfelder: Beschäftigte im Einzelhandel arbeiten überwiegend im direkten Kundenkontakt und sind daher häufig mit Situationen konfrontiert, die emotional belastend wirken können. Außerdem arbeiten sie häufig unter starkem Termin- und Leistungsdruck. Das Verkaufspersonal im Einzelhandel ist besonders starken psychischen Beanspruchungen ausgesetzt.
„Beschäftigte im Einzelhandel arbeiten überwiegend im direkten Kundenkontakt und sind daher häufig mit Situationen konfrontiert, die emotional belastend wirken können.“
Manfred Mühlfelder
KOMPETENZ: Was sind das für Belastungen?
Mühlfelder: VerkäuferInnen haben häufig Stress durch direkte negative soziale Interaktion mit Kunden, zum Beispiel bei Beschwerden oder Reklamationen. Problematisch wirken dabei häufig überzogene Erwartungen der Kunden, die über den Ermessens- und Verhaltensspielraum der Angestellten hinausgehen, beispielsweise bei der Preisgestaltung. Verkäufer sehen sich oft auch mit unklaren Kundenerwartungen konfrontiert. Auch unangenehme Kunden gibt es, wenn diese besonders unfreundlich, ungeduldig oder sogar aggressiv sind. Selbst feindseliges Verhalten oder Beleidigungen sind keine Seltenheit in den Geschäften.
KOMPETENZ: Wann beginnen diese unangenehmen Kundensituationen für die Angestellten zur Belastung zu werden?
Mühlfelder: Solche negativen Erfahrungen erzeugen Stress. Chronischer Stress kann langfristige negative Folgen für die Gesundheit haben und das geistige und körperliche Wohlbefinden beeinträchtigen. Um die Belegschaft zu schützen, braucht es rechtzeitig geeignete Gegenmaßnahmen. Unsere Untersuchungen haben bestätigt, dass Resilienz für das Verkaufspersonal als gesundheitsförderlicher Faktor gegen kundenbezogene soziale Stressoren wirken kann.
KOMPETENZ: Was bedeutet Resilienz in diesem Zusammenhang?
Mühlfelder: Psychische Resilienz bezeichnet die innere Widerstandsfähigkeit einer Person im Umgang mit äußeren Belastungen. Dauerhaft belastende Arbeitssituationen bei gleichzeitig geringer Resilienz können zur Entstehung von Burnout Symptomen beitragen: Chronische Erschöpfung, Zynismus gegenüber der Arbeit, Depersonalisierung und depressive Verstimmungen bis hin zur dauerhaften Arbeitsunfähigkeit.
KOMPETENZ: Was können unzufriedene Kunden in den Verkäufern auslösen?
Mühlfelder: Alle Ereignisse, die vom Arbeitnehmer als negativ bewertet werden, können zu negativen Reaktionen und Emotionen wie Zorn, Wut oder Ärger führen. Das kann sich negativ auf die Arbeitseinstellung oder auf die Einstellung den Kunden gegenüber auswirken, wenn sich der Mitarbeiter nicht dazu in der Lage sieht, seine zentrale Aufgabe zu erfüllen: den Kunden zufrieden zu stellen.
Beschäftigte im Handel agieren als Schnittstelle zwischen Unternehmen und Kunden und werden durch die Kommunikation mit den Kunden täglich aufs Neue emotional und psychisch gefordert. Diese sehr interaktive Tätigkeit bedingt, dass das Personal häufig mit schwierigen, aber auch widersprüchlichen Situationen und Kundengruppen konfrontiert ist.
KOMPETENZ: Wie kann man Handelsangestellte in derartigen Situationen unterstützen?
Mühlfelder: Die Interaktion mit schwierigen Kunden kann von außen kaum reguliert werden. Allerdings können Dienstgeber sehr wohl Angebote machen, damit ihre Mitarbeiter aus stressigen Interaktionen möglichst unbeschadet hervorgehen. Das Wichtigste ist die Stärkung der sozialen und psychischen Ressourcen, das erleichtert den Umgang mit schwierigen Anfragen. Bei Verkäufern, die ein großes Maß an Resilienz haben, also mit stressigen Kundenkontakten gut umgehen können, entstehen negative Emotionen erst gar nicht oder sie können zumindest effektiv reguliert werden.
„Das Wichtigste ist die Stärkung der sozialen und psychischen Ressourcen, das erleichtert den Umgang mit schwierigen Anfragen.“
Manfred Mühlfelder
Der Vorteil von Resilienz ist, dass diese nicht erst wirkt, wenn das schädigende negative Verhalten eingetreten ist, sondern schon pro aktiv, also bevor der Stress negative Reaktionen ausgelöst hat.
KOMPETENZ: Inwieweit kann Resilienz dabei helfen, kundenbezogenen sozialen Stress zu reduzieren?
Mühlfelder: Eine hohe innere psychische Widerstandskraft beeinflusst das Stresserleben im Arbeitsalltag maßgeblich und kann daher ArbeitnehmerInnen dazu befähigen, mit Stressoren erfolgreich und konstruktiv umzugehen. Selbst unter chronischem Stress können Beschäftigte mit einem hohen Resilienz-Potenzial handlungs- und leistungsfähig bleiben, ohne dass sie psychisch darunter leiden.
Stress kann durch die Veränderung der Arbeitsbedingungen oder der Umgebung reduziert werden. Schwierige Kunden sind als Stressoren aber de facto nicht eliminierbar. Daher macht es Sinn, die individuelle psychische Widerstandsfähigkeit, also die Resilienz, des Verkaufspersonals zu stärken. Das kann bewirken, dass der kundenbezogene Stress keine oder reduzierte negative Auswirkungen auf die eigene Gesundheit und das Wohlbefinden der VerkäuferInnen hat.
KOMPETENZ: Wie können Handelsangestellte ihre Resilienz stärken?
Mühlfelder: Es geht primär um das Erlernen resilienter Einstellungen und Verhaltensweisen, die bei der erfolgreichen Bewältigung belastender Situationen helfen, z. B. Optimismus zu zeigen und nicht in eine Opferrolle zu verfallen. Das kann gezielt trainiert und verbessert werden. Schwierige Interaktionen mit Kunden können ebenso situativ geübt werden.
Das betriebliche Gesundheitsmanagement kann und sollte hier Unterstützungssysteme für die Angestellten aufbauen, die dabei helfen, emotional fordernde Beratungssituationen im Alltag besser zu meistern.
In der Literatur gibt es dazu vier Facetten: die emotionale Bewältigung von Stressoren, umfassende Planung, positive Umdeutung und fokussierte Umsetzung.
Ein Handelsangestellter ist dann in der Lage, resilient auf verschiedene Situationen mit schwierigen Kunden zu reagieren, wenn er oder sie es schafft, bereits während der besonders belastenden Interaktion erfolgreich mit seinen Emotionen umzugehen. Dazu muss er auf negative Verhaltensweisen des Kunden angemessen, flexibel und souverän reagieren.
KOMPETENZ: Wie kann man das erreichen?
Mühlfelder: Zunächst sollte man die Konfrontation mit einem anstrengenden Kunden als solche akzeptieren und sich auf mögliche Lösungen konzentrieren. Dabei kann es helfen, die Situation umzudeuten und als Herausforderung zu betrachten, an der man persönlich wachsen kann. Derartige Fähigkeiten können es Handelsangestellten ermöglichen, auch aus negativen Erfahrungen gestärkt hervor zu gehen. Das Wohlbefinden in der Arbeitssituation nimmt wieder zu, dadurch steigt auch die Leistungsfähigkeit.
KOMPETENZ: Sie haben untersucht, wie Angestellte im Verkauf den Stress im Kundenkontakt bewältigen. Was waren die wichtigsten Ergebnisse?
Mühlfelder: Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass unter den resilienten Verhaltensweisen bei der Arbeit in der Praxis vor allem die Fähigkeit verbreitet ist, sich nach Aufregung selbst wieder zu beruhigen. Als zweite zentrale Fähigkeit hat sich herauskristallisiert, beim Herangehen an schwierige Situationen zunächst verschiedene Handlungsmöglichkeiten zur Lösung der unangenehmen Situation zu überlegen.
Die Berufserfahrung dürfte hier eine große Rolle spielen. Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass sich erfahrene Verkäufer signifikant seltener kundenbezogenen Stressoren ausgesetzt sehen als Kollegen, die erst relativ neu im Beruf stehen.
Verkäufer mit über zehn Jahren Berufserfahrung gaben an, weniger Stress durch Kundenkontakte zu empfinden als Berufsanfänger. Möglicherweise nehmen erfahrene Verkäufer die Stressoren weniger stark wahr, weil sie durch ihre Berufserfahrung ein höheres Selbstbewusstsein in die eigenen Fähigkeiten ausstrahlen und so Kunden bei Unzufriedenheit weniger Angriffsfläche bieten. Durch ihre Erfahrung kann es ihnen gelingen, unangemessenes Kundenverhalten pro aktiv abzufangen oder zu verhindern.
„Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass sich erfahrene Verkäufer signifikant seltener kundenbezogenen Stressoren ausgesetzt sehen als Kollegen, die erst relativ neu im Beruf stehen.“
Manfred Mühlfelder
Das lässt die Interpretation zu, dass ihnen durch ihr Auftreten tatsächlich seltener mit unangemessenen Verhaltensweisen begegnet wird oder dass sie schwieriges Kundenverhalten seltener als solches auffassen.
KOMPETENZ: Wie kann Kundenkontakt optimal gestaltet werden, um den Stress für das Verkaufspersonal im Einzelhandel möglichst gering zu halten?
Mühlfelder: Auf den Verkaufsflächen sollten Bedingungen geschaffen werden, die Rückzugsmöglichkeiten für die VerkäuferInnen schaffen oder es möglich machen, Personal flexibel einzusetzen, um Kundenstaus zu vermeiden. Wartezeiten gehen meist mit negativen Kundenverhaltensweisen wie Drängeln oder lautem Beschweren einher und sollten daher unbedingt vermieden werden.
Gleichzeitig sollten die Verkäufer in der Anwendung resilienter Verhaltensweisen geschult werden. Dazu gehört es, die Opferrolle gegenüber aggressiven Kunden zu verlassen und sich soziale Unterstützung bei Kollegen und Vorgesetzten zu suchen.
KOMPETENZ: Das würde dann das Wohlbefinden und die Gesundheit der Angestellten stärken?
Mühlfelder: Ja. Unsere Messungen haben einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Belastung durch negative Kundenkontakte im Beruf und dem Wohlbefinden der ArbeitnehmerInnen auch im Privatleben gezeigt.
KOMPETENZ: Haben die Stressoren im Handel aufgrund der aktuellen Covid-19 Rahmenbedingungen wie Maskenpflicht aber auch aufgrund von Befindlichkeiten und Ängsten der Kunden und Eile beim Einkaufen noch weiter zugenommen?
Mühlfelder: Ich denke schon, dass insbesondere die Angst, aufgrund der temporären Schließungen im Handel (Lockdown) den Arbeitsplatz zu verlieren, die psychischen Belastungen bei vielen erhöht hat. Erschwernisse in der Kundenkommunikation, weil beispielsweise sowohl der Verkäufer als auch der Kunde eine Mund-Nasen-Maske tragen müssen, sind im Vergleich dazu wohl eher geringere Belastungen bei der Arbeit.
KOMPETENZ: Welche Möglichkeiten sehen Sie, die damit einhergehenden psychischen Belastungen für die Handelsangestellten zu reduzieren?
Mühlfelder: Es kommt jetzt sehr stark auf die Unternehmenskultur und auf den Zusammenhalt in der Mitarbeiterschaft an. Gemeinsam kreative Lösungen zu entwickeln, wie man mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage zurechtkommt, ist ein Kernelement im Krisenmanagement im Handel.
KOMPETENZ: Welche konkreten Tipps haben Sie für Angestellte im Handel, um die eigene Resilienz in der aktuellen Arbeitssituation zu stärken?
Mühlfelder: Aktivieren Sie Ihre psychischen Ressourcen, z.B. indem Sie bewusst positive Emotionen erzeugen, sich mit anderen sozial vernetzten und sich gegenseitig unterstützen. Trainieren Sie Ihre sozialen Kompetenzen und probieren Sie neue Denk- und Verhaltensmuster aus.
Zur Person:
Manfred Mühlfelder ist Professor für Wirtschaftspsychologie und Projektmanagement an der SRH Fernhochschule – The Mobile University Riedlingen. Seine Hauptinteressen in Forschung und Lehre liegen in der Analyse und Gestaltung von Organisationen unter Berücksichtigung neuer Technologien und sich verändernden Wettbewerbsbedingungen.
Gesundheit – Arbeit – Prävention
Die gesamte Forschungsarbeit von Manfred Mühlfelder und Laura Schiermeier kann man im Tagungsband Gesundheit – Arbeit – Prävention der SRH Fernhochschule Riedlingen, Deutschland, nachlesen. Das Buch fasst die wichtigsten Ergebnisses des 3. Kongresses für Betriebliches Gesundheitsmanagement vom November 2018 zusammen. Neben aktuellen Herausforderungen der Arbeitswelt werden zwei zentrale Strategien vorgestellt, um dem stetigen Wandel der Arbeitswelt zu begegnen: Prävention und Partizipation. Der Band führt zahlreiche praxisbezogene Beispiele in unterschiedlichen Unternehmenssparten an, wie Betriebe handeln können, um Krankheiten vorzubeugen. Ebenso ausführlich wird die Perspektive der ArbeitnehmerInnen erörtert, wie vorbeugende gesundheitsfördernde Maßnahmen stattfinden sollten. Auch Digitalisierung und Diversity in altersgemischten Teams werden näher betrachtet.