Songül Kepez, Rechtsexpertin in der GPA, erklärt, warum die neuesten Urteile des EuGHs zur Rufbereitschaft von ArbeitnehmerInnen ein Appell an die Mitgliedstaaten sind, konkretere gesetzliche Regelungen zu erarbeiten.
KOMPETENZ: Im März hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) neue Erkenntnisse zur Rufbereitschaft veröffentlicht, die bei der Grenzziehung zwischen Freizeit und Arbeitszeit helfen sollen. Ab wann wird ständige Erreichbarkeit für ArbeitnehmerInnen zur Arbeitszeit?
Kepez: In seiner jüngsten Rechtsprechung legt der EuGH Kriterien fest, bei deren Vorliegen die Rufbereitschaft als Arbeitszeit einzustufen ist. Gleichzeitig ist aus diesen Erkenntnissen abzuleiten, dass eine ständige Erreichbarkeit allein noch keine ständige Arbeitszeit bedeutet. Entscheidend für den EuGH sind die konkreten Einschränkungen für die ArbeitnehmerInnen. Neben der Anreisezeit wird auch bewertet, wie frei ArbeitnehmerInnen ihre Freizeit ohne vom Dienstgeber ausgehende Einschränkungen gestalten können.
KOMPETENZ: Aktuell hat der EuGH die Qualifizierung der Rufbereitschaft als Arbeitszeit sehr eng beurteilt. Im ersten Beispiel ging es um einen deutschen Feuerwehrmann, der seinen Rufbereitschaftsdienst meist zuhause verbrachte, weil er sich währenddessen nicht weiter als 20 Minuten von der Stadtgrenze entfernen durfte. Im zweiten Beispiel ging es um einen slowenischen Sendetechniker, der zu weit weg wohnte, um seinen Arbeitsplatz in der Bereitschaft wie verlangt innerhalb einer Stunde erreichen zu können – er verbrachte die Rufbereitschaften daher meist in der Sendeanlage.
Lediglich die Rufbereitschaft des Feuerwehrmannes wurde vom EuGH als Arbeitszeit eingestuft. Maßgeblich dafür ist, wieviel Bewegungsfreiheit dem Arbeitnehmer im Einzelfall verbleibt, so der EuGH.
Kepez: Was das Abgrenzungskriterium „Anreisezeit“ betrifft, vertritt der EuGH aus meiner Sicht eine etwas strenge Linie. Es geht jeweils darum, wie schnell ich im Falle eines Einsatzes meinen Arbeitsort erreichen kann. Nach meiner Auffassung kommt es weniger darauf an, ob ich im Rahmen der Rufbereitschaft innerhalb von 10 Minuten am Ort des Arbeitseinsatzes bin, oder innerhalb von einer Stunde. Der entscheidende Punkt ist: In beiden Fällen werden Betroffene in ihrer Freiheit über ihre Freizeit frei zu verfügen eingeschränkt und zwar gleichgültig, ob über eine kurze oder längere Zeit hindurch.
„Die Rufbereitschaft ist im Arbeitszeitgesetz geregelt und liegt vor, wenn die ArbeitnehmerIn sich verpflichtet, außerhalb der Normalarbeitszeit erreichbar zu sein, um über Aufforderung unverzüglich die Arbeit aufzunehmen.“
Songül Kepez
KOMPETENZ: Wie erfolgt die Abgrenzung aus gewerkschaftlicher Sicht?
Kepez: Um den LeserInnen einen besseren Überblick zu geben, sollte zunächst aufgezeigt werden, wann überhaupt Rufbereitschaft vorliegen kann. Die Rufbereitschaft ist im Arbeitszeitgesetz geregelt und liegt vor, wenn die ArbeitnehmerIn sich verpflichtet, außerhalb der Normalarbeitszeit erreichbar zu sein, um über Aufforderung unverzüglich die Arbeit aufzunehmen. Rufbereitschaft zählt nicht als Arbeitszeit. Erst wenn tatsächlich Arbeit anfällt, wird die dafür verwendete Freizeit zur Arbeitszeit. Weil die Rufbereitschaft die Freizeit einschränkt, bedarf sie einer speziellen Vereinbarung und ist ihre Anwendung zeitlich begrenzt: Rufbereitschaft darf nur für maximal zehn Tage pro Monat (bzw. laut Kollektivvertrag für maximal 30 Tage innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten) vereinbart werden. Zudem erfolgt Rufbereitschaft im Regelfall entgeltlich.
Der Aufenthaltsort während der Rufbereitschaft wird von der ArbeitnehmerIn selbst bestimmt. Wird hingegen der Aufenthaltsort vom Dienstgeber bestimmt, liegt Arbeitsbereitschaft vor. Zeiten der Arbeitsbereitschaft sind jedenfalls Arbeitszeiten. Das ist auch die gängige Rechtsmeinung des EuGHs. Das eigentliche Problem stellt sich in der Praxis dort, wo es um die Frage geht, wie die Zeiten des Bereitschaftsdienstes, in denen man keinen tatsächlichen Arbeitseinsatz hat, zu vergüten sind.
„Das Instrument des Bereitschaftsdienstes wird manchmal dazu missbraucht, um auf Umwegen weniger Gehalt ausbezahlen zu müssen.“
Songül Kepez
KOMPETENZ: Was ist das Problem dabei?
Kepez: Das Instrument des Bereitschaftsdienstes wird manchmal dazu missbraucht, um auf Umwegen weniger Gehalt ausbezahlen zu müssen. In manchen Betrieben wird das gerne so gehandhabt, dass Bereitschaftsdienste während der Nacht lediglich mit 50 Prozent entlohnt werden. So werden Beschäftigte derart häufig zu Nachtdiensten mit Bereitschaft eingeteilt, dass ihr Verdienst das vertraglich vereinbarte Monatsgehalt unterschreitet. Es darf nicht dazu kommen, dass Beschäftigte durch bewusste Dienstplaneinteilungen um einen Teil ihres Gehaltes umfallen.
Das ist für uns die rote Linie, das würde ganz klar in Richtung „Ausnützen der wirtschaftlichen Abhängigkeit“ gehen. Man muss immer im Auge behalten, dass ArbeitnehmerInnen vom Dienstgeber wirtschaftlich abhängig sind und daher besonders schutzwürdige Interessen haben.
Generell gilt, dass das kollektivvertragliche Mindestentgelt nicht unterschritten werden darf.
KOMPETENZ: Wann ist eine geringe Entlohnung von Bereitschaftsdiensten akzeptabel?
Kepez: Die arbeitsvertragliche Vereinbarung und auch der Kollektivvertrag mit seinen einseitig zwingenden Mindestentgeltbestimmungen differenziert innerhalb der vereinbarten oder gesetzlich oder kollektivvertraglichen Normalarbeitszeit nicht zwischen Arbeitsleistung an sich und Arbeitsbereitschaft. Es wird das vereinbarte Gehalt unabhängig von der jeweiligen Leistungserbringung geschuldet.
Heikel wird es, wenn Arbeitgeber versuchen, Bereitschaftsdienste, die innerhalb der Normalarbeitszeit liegen, zum Beispiel nur mit 50 Prozent zu entlohnen. Das ist ein klarer Verstoß gegen arbeitsrechtliche Bestimmungen und bringt betroffenen ArbeitnehmerInnen teils existenzbedrohende Einkommenseinbußen.
KOMPETENZ: Wie kann man solche Minderbezahlungen verhindern?
Kepez: Hier muss man genau aufpassen, ob Bereitschaftsdienst im Rahmen oder außerhalb der Normalarbeitszeit erbracht wird. Bereitschaftsdienste, die innerhalb der Normalarbeitszeit liegen, müssen normal vergütet werden.
Um Minderbezahlungen zu verhindern, ist am Ende des Durchrechnungszeitraumes zu prüfen, ob die ArbeitnehmerIn ohne Arbeitsbereitschaft ihre geschuldete Normalarbeitszeit erbracht hat. Hat er/sie diese nur mit Einrechnung der Arbeitsbereitschaftsstunden erreicht, dürfen die Bereitschaftsstunden nicht minder entlohnt werden. Das ist unsere Rechtsauslegung, die wir aktuell versuchen bei den Kollektivvertragsverhandlungen in einigen Branchen durchzusetzen.
KOMPETENZ: Inwieweit kann die reine Erreichbarkeit als Arbeitszeit gewertet werden?
Kepez: Befragungen zeigen, dass sich viele ArbeitnehmerInnen schon allein durch die schlichte Erreichbarkeit beansprucht fühlen, viele sind auch psychisch belastet, wenn das Handy jede Minute läuten KANN. Viele Beschäftigte können sich so nie von der Arbeit zurückziehen und in die eigentliche Phase der Entspannung kommen, weil sie keine Sicherheit auf Ruhe haben.
Arbeitsrechtlich müssen Ruhezeiten scharf von den Phasen der Aktivität abgegrenzt sein. Sonst geht auch der Erholungswert der Pausen verloren bzw. verliert stark an Qualität. Der EuGH grenzt Arbeitszeit als jene Perioden ab, in der „die Möglichkeiten des Arbeitnehmers seine persönlichen und sozialen Interessen zu verfolgen, objektiv und ganz erheblich eingeschränkt sind.“ Es geht hier schon um mehr als reine Erreichbarkeit, nämlich um eine regelmäßige Kontaktaufnahme und Aufforderung zum Tätigwerden.
KOMPETENZ: Welche Lösung wäre aus gewerkschaftlicher Sicht optimal?
Kepez: Es braucht ein zweischichtiges Modell: gute gesetzliche Rahmenbedingungen, die an die moderne Zeit angepasst sind und auch auf die Digitalisierung Rücksicht nehmen sowie Regelungen auf betrieblicher Ebene, und zwar in Form von Betriebsvereinbarungen.
Die Urteile des EuGHs stellen einen Appell an die Mitgliedstaaten dar, in dieser Thematik auf innerstaatlichen Ebenen konkrete gesetzliche Regelungen für eine sinnvolle Abgrenzung festzulegen.
Gleichzeitig müssen Betriebe, in denen es eine Belegschaftsvertretung gibt, dazu angehalten werden, diese Abgrenzung ebenfalls ganz konkret und branchenbezogen zu erarbeiten. Über derartige Betriebsvereinbarungen kann der Schutz der Gesundheit der ArbeitnehmerInnen am besten im Auge behalten werden. Dieser Gesundheitsschutz ist unsere oberste Prämisse. Aufzupassen, dass die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit nicht verschwimmt, ist eine echte Herausforderung für alle Beteiligten.
„Das Arbeiten von zuhause darf allerdings nicht dazu führen, dass der Arbeitgeber erwartet, dass wirtschaftlich von ihm abhängige ArbeitnehmerInnen ständig berufliche E-Mails via Handy abrufen bzw. beantworten.“
Songül Kepez
KOMPETENZ: Wie funktioniert die Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit im Homeoffice?
Kepez: Das ist in unserer stark technisierten, modernen Arbeitswelt tatsächlich ein riesiger Problembereich. Sehr viele Beschäftigte wurden im Lockdown mit tollem technischem Equipment ausgestattet. Das Arbeiten von zuhause darf allerdings nicht dazu führen, dass der Arbeitgeber erwartet, dass wirtschaftlich von ihm abhängige ArbeitnehmerInnen ständig berufliche E-Mails via Handy abrufen bzw. beantworten. Mache ich das freiwillig, ist das kein Problem, wird es aber vom Dienstgeber erwartet oder angeordnet, wird die Ruhezeit unterbrochen und wird gegebenenfalls bereits Arbeitsleistung erbracht.
KOMPETENZ: Ufert der technische Fortschritt zum Nachteil der Beschäftigten aus?
Kepez: Ja, denn auch die schlichte ständige Erreichbarkeit kann ArbeitnehmerInnen psychisch belasten und es ihnen erschweren, sich von der Arbeit zurückzuziehen und zu erholen. Es mag schon sein, dass es in manchen Bereichen nicht unüblich ist, dass einzelne ArbeitnehmerInnen ihr Smartphone stets mit sich führen und de facto Arbeits-E-Mails auch in ihrer Freizeit lesen und gegebenenfalls bearbeiten. Entscheidend ist aber, dass im Sinne des ArbeitnehmerInnenschutzes gewährleistet ist, dass eine Verpflichtung zu einer jederzeitigen Verfügbarkeit nicht wirksam angeordnet werden kann!
Vorsicht ist geboten, denn der Druck steigt und wenn man öfters in die Freizeit hineinarbeitet, wird der Druck weiter steigen. So werden ArbeitnehmerInnenschutzrechte sukzessive und schleichend umgangen.
KOMPETENZ: Welche Faktoren empfinden ArbeitnehmerInnen in diesem Zusammenhang als belastend?
Kepez: Die Unvorhersehbarkeit von Arbeitseinsätzen wird als große Belastung empfunden. Wenn ich nicht abschätzen kann, in welcher Zeitspanne innerhalb der Bereitschaft meine Arbeitsleistung abgerufen wird, dann stresst das die Leute. Sie sind die ganze Zeit über bereit. Die Grenzen zwischen tatsächlicher Arbeit und Freizeit verschwimmen dann immer stärker.
„ArbeitnehmerInnen haben das Recht auf Nichterreichbarkeit in ihrer Freizeit!“
Songül Kepez
KOMPETENZ: Der EuGH führt aus, dass Rufbereitschaft zu Arbeitszeit wird, wenn der Arbeitnehmer während der Bereitschaft „häufig“ vom Arbeitgeber kontaktiert wird. Was bedeuten „häufig“ oder „selten“ in diesem Zusammenhang?
Kepez: Den Mitgliedstaaten wird hier der Spielraum zur Regelung überlassen. Denn keine bzw. unklare Regelungen führen dazu, dass in einigen Branchen „Baustellen“, Bereiche mit schlecht geregelten Grauzonen, entstehen.
Es bedarf daher konkreter Regelungen, was die Begrenzung der Rufbereitschaft betrifft. In diesem Sinne ist das aktuelle Urteil des EuGHs eine Aufforderung an die Mitgliedstaaten, klarerer Regelungen zu schaffen. Ich sehe es aber keinesfalls als Freibrief für Arbeitgeber, die Abgrenzung der Rufbereitschaft sehr weit auszulegen. An erster Stelle muss der Schutz der Beschäftigten stehen. Dass die Intensität der gegebenenfalls angeforderten Arbeitsleistung geringer ist als bei ArbeitnehmerInnen, die sich bei Anruf an ihren Arbeitsort begeben müssen, ändert nichts an der Einschränkung der ArbeitnehmerIn durch die Rufbereitschaft selbst!
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass ArbeitnehmerInnen, sofern keine Rufbereitschaft vereinbart ist, nicht erreichbar sein müssen. ArbeitnehmerInnen haben das Recht auf Nichterreichbarkeit in ihrer Freizeit!