88 Prozent der EU-BürgerInnen wünschen sich eine sozialere EU. Selbst der EU-Kommission ist das Tempo bei Themen wie beim Mindestlohn zu langsam. Arbeitgeber und Regierungen bremsen trotzdem.
An Versuchen, soziale Rechte in der EU zu verankern, fehlt es nicht – an deren Umsetzung hingegen schon. Seit Jahren machen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter Druck, soziale Standards europaweit durchzusetzen. Dabei geht es ja auch um die Frage, wie man auf zunehmende soziale Ungleichheit reagieren solle. Eurostat-Daten bestätigen, dass die soziale Kluft größer wird und die Armutsgefährdung steigt.
Tauziehen um europaweiten Mindestlohn
Während milliardenschwere Konjunkturpakete von Regierungen zur Überwindung der COVID-Krise die Wirtschaft ankurbeln sollen, spielt die soziale Dimension der EU, wie etwa die Einführung des Mindestlohnes, kaum eine Rolle. Auch der Sozialgipfel im Mai dieses Jahres in Porto hat beim Mindestlohn keine Einigung gebracht. „Es gibt darüber starke Betroffenheit, weil wir nicht abgekapselt sind vom Rest Europas, sondern offene Grenzen haben: Arbeit ist mobil, genauso wie Kapital. Österreichs Nähe zu osteuropäischen Staaten wirft große Probleme mit Lohn- und Sozialdumping auf“, erklärt Sophia Reisecker, die Leiterin der Abteilung Europa, Konzerne & internationale Beziehungen der GPA. Eine Regelung über „angemessene Mindestlöhne“, die Sozialkommissar Nicolas Schmit vergangenen Herbst vorgelegt hatte, würde für 24 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der gesamten EU, vornehmlich aber in Osteuropa, höhere Löhne bringen und Lohndumping bremsen.
Laut Eurostat gibt es in 21 der 27 EU-Staaten zwar einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn, die Spannbreite dabei ist aber groß. Am unteren Ende liegen Bulgarien und Lettland mit 312 bzw. 430 Euro pro Monat. Am oberen Ende befindet sich Luxemburg mit einem monatlichen Mindestlohn von 2300 Euro. In Österreich ist der Großteil der Arbeitsverträge kollektivvertraglich geregelt. „In der EU sind die Kollektivverträge das bevorzugte Instrument. Wenn diese aber keine ausreichende Abdeckung erzielen, dann muss mit gesetzlichen Mindestlöhnen gearbeitet werden, um grundlegende Bedürfnisse abzudecken. Sozialpartner reden dabei natürlich mit“, betont Reisecker.
Arbeitsminister blockiert
Doch für die von der türkisen ÖVP angeführte Regierung ist ein fairer Mindestlohn kein Wunsch. Beim EU-Sozialgipfel zeigte sich Arbeitsminister Martin Kocher sehr skeptisch gegenüber einer Mindestlohn-Richtlinie. Insgesamt warnten elf Länder vor zu weitgehenden EU-Eingriffen in die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie vor verbindlichen Regelungen, nicht alle mit derselben Intention. Verfasst wurde die Kritik von Österreich, Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Irland, Lettland, Litauen, Malta, den Niederlanden und Schweden. Dänemark, Finnland, Schweden und die Niederlande fürchten hingegen, ihre weitgehenden Rechte punkto Sozialpolitik könnten eingeschränkt werden.
Mindestlohn für Gleichstellung
Der Skepsis Kochers, verbindliche Regeln festzuschreiben, widerspricht die GPA-Expertin: „Die Regierung muss vernetzter denken wenn es um europäische Fragen geht. Es funktioniert nicht, populistische Innenpolitik auf dem Rücken von EU-Politik zu machen.“ Sophia Reisecker unterstreicht, „wie wichtig es ist, die Schraube bei Mindestlöhnen und Kollektivvertragssystemen anzuziehen. Das beugt Armut und der ungleichen Bezahlung von Frauen und Männern vor“.
» Die Regierung muss vernetzter denken wenn es um europäische Fragen geht. Es funktioniert nicht, populistische Innenpolitik auf dem Rücken von EU-Politik zu machen.«
Sophia Reisecker
Die EU-Kommission will mit ihrer Richtlinie erreichen, dass Geringverdiener überall in Europa mindestens 50 Prozent des Durchschnittslohns oder 60 Prozent des Medianlohns im eigenen Land bekommen. Einen einheitlich festgelegten Mindestlohn soll es nicht geben. Derzeit fehlt allerdings der gemeinsame politische Kraftakt, die Mindestlohn-Richtlinie durchzusetzen und soziale Rechte überall in der der EU zu stärken.
Die Bremser beim Mindestlohn und bei anderen Initiativen für ein Soziales Europa sind die Arbeitgeberverbände. „Bei ihnen stellen wir oftmals eine ideologisch motivierte Widerstandshaltung fest. Selbst in der EU-Kommission stößt diese Haltung bereits auf zunehmendes Unverständnis“, weiß der Präsident der ArbeitnehmerInnengruppe des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA), Oliver Röpke.
»Gerade die Herausforderungen des Green Deal und der Digitalisierung rufen nach stärkerer Einbindung von Gewerkschaften und Betriebsräten, und zwar in der ganzen EU.«
Oliver Röpke
Doch noch kämpfen die beiden Berichterstatter im EU-Parlament, die niederländische Sozialdemokratin Agnes Jongerius und CDU-Abgeordneter Dennis Radtke, für eine rasche Einigung auf die Mindestlohn-Richtlinie. Mit schwierigen Verhandlungen bis in die französische Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 ist zu rechnen.
Die Anliegen der Gewerkschafter sind keinesfalls abgehoben, sie werden von der großen Mehrheit der EU-Bürger unterstützt: 88 Prozent haben in einer im Juni präsentierten Eurobarometer-Umfrage gesagt, dass ihnen ein soziales Europa wichtig ist.
Was liegt also näher, als diese Grundhaltung der Bevölkerung auch in den Fokus der derzeit laufenden Debatte über die Zukunft Europas zu stellen und etwa zu verlangen, die Mittel des EU-Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro für Investitionen in Arbeitskräfte, in Ausbildung und in den Abbau von Ungleichheit auszugeben.
Mindeststandards bei der Mitbestimmung
Oliver Röpke erwartet sich konkrete Lösungen von der derzeit tagenden Konferenz zur Zukunft Europas. Die Gruppe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des EWSA und der EGB sind in der Konferenz vertreten und fordern Vertragsänderungen. „Wir brauchen dringend ein soziales Fortschrittsprotokoll, das den Vorrang wirtschaftlicher Freiheiten vor sozialen Grundrechten im EU-Binnenmarkt endlich beendet. Dafür müsste die EU aber ihr Konzept eines Sozialen Europas dringend überdenken. Die EU braucht mehr Kompetenzen für Arbeit, Soziales und Gesundheit, wie es die Pandemie gerade deutlich zeigt“, skizziert Röpke die nächsten Schritte.
Es geht aber auch um europäische Mindeststandards bei der Mitbestimmung. „Gerade die Herausforderungen des Green Deal und der Digitalisierung rufen nach stärkerer Einbindung von Gewerkschaften und Betriebsräten, und zwar in der ganzen EU“, verlangt der EWSA-Chef und setzt darauf, dass „die Kompetenzen der EU in der Sozialpolitik erweitert werden. Die EU muss aktiv daran arbeiten, mit verbindlichen und ambitionierten sozialen Mindeststandards die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in Europa anzunähern.“