Die Soziologin Bettina Stadler spricht sich im Interview mit der KOMPETENZ für eine allgemeine Reduktion der Wochenarbeitszeit aus. Um bis zum Pensionsantrittsalter arbeiten zu können, müssen Menschen gesund bleiben. Dazu trägt auch ein Mehr an Freizeit bei.
KOMPETENZ: Wenn eine gesetzlich verankerte Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich gefordert wird, kommt von Wirtschaftsseite sofort ein Aufschrei. Die Arbeitszeit wurde ja aber in Österreich einerseits gesetzlich geregelt und auch immer wieder verkürzt. Wie sieht hier die historische Perspektive aus?
Bettina Stadler: Die erste gesetzliche Arbeitszeitbeschränkung gab es 1884. Damals wurde die Zwölf-Stunden-Schicht im Bergbau eingeführt. Im Jahr darauf gab es eine Verkürzung des Arbeitstages in Fabriken auf elf Stunden. Eine große Errungenschaft war die Einführung des Acht-Stunden-Tags 1918. Damals wurden aber an sechs Tagen in der Woche gearbeitet, das war also eine 48-Stunden-Woche. Ab den 1950er Jahren wurde wieder über eine Arbeitszeitreduktion diskutiert, 1959 wurden 45 Stunden pro Woche in einem Generalkollektivvertrag festgeschrieben. 1975 wurde dann die 40-Stunden-Woche eingeführt, Basis dafür ist das 1969 beschlossene Arbeitszeitgesetz.
„Es gab seit Jahrzehnten keine allgemeine Arbeitszeitverkürzung mehr.“
Bettina Stadler
Seit 1975 sehen wir Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung nur mehr in einzelnen Kollektivverträgen und Betriebsvereinbarungen. Das verdeutlicht, dass das Thema schon unter den Nägeln brennt – es gab seit Jahrzehnten keine allgemeine Arbeitszeitverkürzung mehr. Was man sich aber auch unter dem Aspekt der Arbeitszeitverkürzung ansehen muss, ist die Entwicklung des Urlaubs. 1964 wurden drei Urlaubswochen im Generalkollektivvertrag verankert, 1971 wurden diese drei Wochen auch gesetzlich beschlossen. 1976 wurden vier Urlaubswochen pro Jahr eingeführt, 1985 fünf Wochen.
KOMPETENZ: 40 Wochenstunden im Gesetz, 38,5 oder sogar weniger Wochenstunden in vielen Kollektivverträgen: Das ist die eine Seite. Das heißt aber nicht, dass viele Menschen nicht wesentlich mehr arbeiten, nicht zuletzt begünstigt durch die von 2018 von der damals türkis-blauen Regierung geschaffenen Möglichkeit von 60-Stunden-Wochen und 12-Stunden-Tagen. Wieviel wird in Österreich wirklich gearbeitet und wie steht das Land hier im internationalen Vergleich da?
Bettina Stadler: Österreich ist hier, wenn man die geleisteten Überstunden miteinbezieht, im internationalen Vergleich weiterhin unter den Ländern mit den längsten Arbeitszeiten. Wir sehen aber auch, dass in den vergangenen beiden Jahrzehnten schrittweise weniger Überstunden gemacht werden. In einer Studie konnten wir dazu feststellen, dass Väter vermehrt versuchen, Überstunden zu vermeiden, weil sie ihre Kinder sehen wollen. Das sind gesellschaftliche Entwicklungen, die sich in den Arbeitszeiten niederschlagen. Wenn man sich die Zahlen von 2022 hernimmt, kann man sehen, dass von Vollzeitbeschäftigten durchschnittlich 40,7 Wochenstunden gearbeitet wurden. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 40,0 Stunden, in Dänemark 38,4 Stunden.
„Österreich ist, wenn man die geleisteten Überstunden miteinbezieht, im internationalen Vergleich weiterhin unter den Ländern mit den längsten Arbeitszeiten.“
Bettina Stadler
KOMPETENZ: Welche Länder sind in Sachen Wochenarbeitszeit die Vorbilder?
Bettina Stadler: Das sind die nordischen Länder, die hier häufig ein ganz anderes Bewusstsein haben. Dort übernehmen auch Väter dauerhaft die Betreuung von Kindern und dort herrscht in vielen Unternehmen eine Kultur, wo es nicht gern gesehen wird, wenn zu viele Überstunden geleistet werden. In Österreich ist es dagegen traditionell so, dass, wer viel Zeit in der Arbeit oder mit Arbeit verbringt, als leistungsfähig wahrgenommen wird und sich damit auch für eine Führungsposition qualifiziert. Es gibt in Österreich zudem das Phänomen des Präsentismus, wo sich Menschen nicht trauen, früher nach Hause zu gehen, hinzu kommt der Druck, abends noch Mails zu beantworten oder den Computer nochmals einzuschalten.
KOMPETENZ: Gegner:innen einer generellen Arbeitszeitverkürzung betonen gerne, das würde sich negativ auf die wirtschaftliche Situation Österreichs auswirken. Ist aber die wirtschaftliche Situation, die sich im Bruttoinlandsprodukt abbilden lässt, gleichbedeutend mit Wohlstand? Definieren viele Menschen heute zum Beispiel Wohlstand nicht auch durch Freizeit, die sie ungestört konsumieren können?
Bettina Stadler: Wir sprechen hier in der Arbeitsforschung von Zeitwohlstand. Tatsächlich ist Zeit eines unserer kostbarsten Güter. Wir haben uns da auch im Rahmen einer Studie angeschaut, welche Auswirkungen atypische und sehr lange Arbeitszeiten auf Menschen haben. Sie haben kaum mehr Zeit, um sich politisch zu engagieren, in Vereinen zu engagieren, Freund:innen zu treffen, Kultur in Anspruch zu nehmen. Freizeit reduziert sich auf die Familie – das ist das letzte, was noch aufrecht erhalten wird.
Was dann gerne von Kritiker:innen vorgebracht wird: Wenn Menschen mehr Freizeit haben, konsumieren sie auch mehr, indem sie shoppen gehen, indem sie Leistungen der Freizeitindustrie konsumieren. Wenn man in Richtung sozial-ökologischem Umbau denkt, braucht es nicht nur mehr Freizeit, sondern auch Möglichkeiten, Freizeit sinnvoll zu verbringen. Das muss eingebettet sein in einen generellen Perspektivenwechsel.
KOMPETENZ: Was wären solche Angebote?
Bettina Stadler: Ich denke, hier braucht es nicht unbedingt neue Angebote, das können traditionelle Vereine sein, die Mitarbeit in politischen Parteien oder Bürger:inneninitiativen, aber auch die Gründung von Wohngruppen, Urban Gardening oder das Engagement bei einer Food Coop. Um sich an solchen Initiativen beteiligen zu können, braucht es Zeit.
KOMPETENZ: Der Ruf nach kürzerer Arbeitszeit wird auch unter dem Eindruck massiver Arbeitsverdichtung in vielen Berufsfeldern immer lauter. Dem steht die Frage gegenüber: Aber wer soll die Arbeit, die zu tun ist, leisten, wenn die, die arbeiten, kürzer arbeiten und gleichzeitig ohnehin schon an allen Ecken und Enden Mitarbeiter:innen fehlen – sei es in der Pflege, sei es in der Gastronomie, sei es in den Kindergärten?
Bettina Stadler: Zunächst: es gibt nicht in allen Bereichen Arbeitskräftemangel und es zeichnet sich jetzt langsam wieder eine steigende Arbeitslosigkeit ab, sodass in manchen Bereichen der ganz akute Arbeitskräftemangel bereits zurück geht. Es gibt aber Bereiche, in denen wir als Gesellschaft dringend Arbeitskräfte brauchen, wie eben zum Beispiel in den Gesundheits- und Sozialberufen. Kürzere Arbeitszeiten würden hier für mehr Attraktivität sorgen. Gerade in diesen Berufen arbeiten jetzt schon sehr viele Beschäftigte Teilzeit, durch eine Arbeitszeitverkürzung würden für sie die Löhne steigen. Das würde diese Arbeit attraktiver machen.
„Es bräuchte daher einen Diskurs, welche Tätigkeiten sind gesellschaftlich wichtig und wie können wir fördern, dass Menschen hier arbeiten.“
Bettina Stadler
Ein wichtiger Punkt ist hier aber grundsätzlich: Wir betrachten derzeit die Ressource Arbeitskraft als unendlich zur Verfügung stehend, wenn nicht in Österreich selbst, dann versuchen wir Arbeitskräfte aus dem Ausland zu holen. Es geht aber anderen Ländern ähnlich. Es bräuchte daher einen Diskurs, welche Tätigkeiten sind gesellschaftlich wichtig und wie können wir fördern, dass Menschen hier arbeiten. Und wir müssen uns überlegen, wie wir die Ressource Arbeitskraft sinnvoll und nachhaltig einsetzen. Nachhaltig bedeutet auch, dass Menschen gesund bleiben und länger auch in Berufen bleiben können, die belastend sind.
KOMPETENZ: Was bedeutet diese angespannte Arbeitsmarktsituation in manchen Berufsfeldern wiederum für den Einzelnen: Ergibt sich aus dem Mangel eine bessere Chance, sich persönlich in einem Bewerbungsgespräch eine kürzere Arbeitszeit auszuverhandeln?
Bettina Stadler: Wir hören immer wieder von hochqualifizierten Fachkräften, dass sie in Bewerbungsgesprächen zum Beispiel die Forderung nach reduzierter Arbeitszeit stellen können. Aber nicht alle Arbeitnehmer:innen haben diese Verhandlungsmacht. Daher brauchen wir als Gesellschaft kollektive Vereinbarungen für kürzere Arbeitszeiten. Wir lesen auch in Medien immer wieder über einzelne Unternehmen, die zum Beispiel die Vier-Tage-Woche oder eine kürzere Wochenarbeitszeit eingeführt haben. Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Man muss da aber auch festhalten: Arbeitnehmer:innen haben hier keine Sicherheit. Wenn sich die wirtschaftliche Situation eines Betriebs verschlechtert, kann das Unternehmen die Arbeitszeit wieder erhöhen.
KOMPETENZ: Auch das ist also ein Argument, hier eine gesetzliche Arbeitszeitreduktion vorzusehen beziehungsweise solche Modelle in Kollektivverträge und Betriebsvereinbarungen einzubetten. In welche Richtung soll es dann aber gehen: Soll die Wochenarbeitszeit idealerweise 30, 32 oder 35 Stunden betragen? In welche Richtung soll es hier gehen?
Bettina Stadler: Man muss hier zwischen einem größeren Ziel und den Schritten, um dieses Ziel zu erreichen, unterscheiden. In der Vergangenheit hat es sich bewährt, ein größeres Ziel zu haben und in kleineren Schritten vorzugehen. Wichtig ist jetzt vor allem, wieder Dynamik in diesem Bereich zu kommen. Und jeder kleine Schritt vorwärts ist gut. Als mittelfristige Perspektive braucht es jedenfalls eine deutliche Reduktion der Arbeitszeit im Bereich von 30 oder 32 Stunden pro Woche.
Zur Person
Bettina Stadler, geb. 1971, ist Soziologin an der Universität Graz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitssoziologie, Genderdifferenzen und quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung.