Ingeborg Jagenbrein feierte heuer ein besonderes Jubiläum: Sie ist seit 70 Jahren Mitglied der GPA-djp.
Es war einer der ersten kühleren Tage im Oktober. Im ÖGB-Gebäude an der Donau fanden sich mittags ganz besondere Jubilare und Jubilarinnen ein: Sie sind seit 60 oder sogar 70 Jahren Mitglied der Gewerkschaft der Privatangestellten. Eine von ihnen ist Ingeborg Jagenbrein. Für die Feier griff sie zu einem Kleidungsstück, das passender nicht sein könnte: einen knallroten Mantel. Mit ihm sticht sie schon in der U-Bahn heraus und als auch sie in der Station Donaumarina den Zug verlässt, ist klar, wohin sie sich auf den Weg macht.
Den Mantel, den habe sie schon viele, viele Jahre, erzählt sie später lachend. Sie habe ihn schon lange nicht mehr herausgeholt. Aber heute, da sei ihr danach gewesen. Das Gehen fällt ihr schon etwas schwer, eine Krücke erleichtert es ihr momentan, das Gleichgewicht zu halten. Das schmerze umso mehr, als sie bis vor ein paar Jahren eine passionierte Tänzerin gewesen sei, erzählt sie. Aufgeben ist aber nicht ihres. Ihr Ziel ist es nun, wieder sicherer auf den Beinen zu stehen, wieder längere Strecken gehen zu können.
Kindheit in der NS-Zeit
Ingeborg Jagenbrein ist 87 Jahre alt. Ihre Kindheit und ein Teil ihrer Jugend fiel in die Jahre des NS-Terrors in Österreich. Sie erinnert sich an schwere Zeiten, da der Vater mit der Wehrmacht an die Front musste und die Mutter ihre Tochter und sich irgendwie erhalten musste. Sie war gelernte Strumpfstrickerin, nahm während des Zweiten Weltkriegs aber vor allem Heimarbeit an, um für ihr Kind da sein zu können. Das Kind, die kleine Ingeborg, war schwer lungenkrank und daher oft zu Hause. Die Ingeborg von heute erinnert sich dabei vor allem an viel Einsamkeit: Den anderen Mädchen hätten die Eltern verboten, sie zu besuchen, damit sie sich nicht anstecken.
Ingeborg Jagenbrein findet heute aber auch darin etwas Positives: So sei sie es von klein auf gewöhnt, alleine zu sein. Ihr Mann, mit dem sie 44 Jahre lang verheiratet war, starb vor 21 Jahren. Die Eltern und Schwiegereltern seien auch schon lange tot. Und den meisten ihrer Freundinnen habe sie bereits ins Grab nachgeschaut. Eine gute Freundin habe sie noch – mit ihr telefoniere sie oft. Aber sonst sei das Leben doch sehr einsam, geprägt von vielen Arzt- und Therapiebesuchen, damit es mit dem besser Gehen eines Tages doch noch etwas wird.
Und so ist diese Feier, bei der sie geehrt wird, doch auch eine willkommene Abwechslung. Dabei versteht sie gar nicht recht, wofür sie da ausgezeichnet wird – viel habe sie ja nicht getan. Dabei gewesen sei sie halt nur, bei der Gewerkschaft. Und wie das kam? Ob die Eltern auch schon gewerkschaftlich organisiert gewesen seien?
Nein, gar nicht, sagt Ingeborg Jagenbrein. Politik, auch Gesellschaftspolitik sei in der Familie insgesamt eher wenig Gesprächsstoff gewesen. In der NS-Zeit, da seien der Vater, er war Tapezierer, aber als er eingezogen wurde, war er bereits arbeitslos, und die Mutter Mitglied in der nationalsozialistischen Partei gewesen. „Ich habe damals ja noch wenig verstanden, aber ich habe immer geschaut, was machen die da, da war so ein Hefterl und da ist etwas eingeklebt worden.“ Nach dem Krieg sei darüber aber nicht gesprochen worden.
Handelsschule in der Nachkriegszeit
Sie habe zudem die letzten Kriegsjahre von den Eltern getrennt verbracht: Der Vater war an der Front, später dann in Gefangenschaft. Und sie selbst sei während ihrer Hauptschulzeit nach Bad Ischl verschickt worden, dort sei in einem für diesen Zweck beschlagnahmten Hotel unterrichtet worden. Zuerst habe sie sich gekränkt, so weit weg von der Mutter zu sein, aber dann habe sie gesehen, „da waren ältere Mädchen, da haben wir gesungen und getanzt. Und da habe ich gesehen, wie schön das ist, wenn man Freundinnen hat.“
Kaum war der Krieg zu Ende, sei keine Lehrkraft und keine Krankenschwester mehr da gewesen. Die Mädchen seien mit einem Lkw nach Wien zurückgebracht worden. Hier besuchte sie dann eine Handelsschule. Und nach ihrem Abschluss war es so weit: sie trat ihre erste Arbeitsstelle an. „Das war in einer Papiersäckefabrik in der Morizgasse im 6. Bezirk.“ Sie habe dort im Büro gearbeitet, der Chef habe ihr Briefe diktiert und manchmal habe sie auch im Verkauf ausgeholfen, wenn das Lehrmädchen, das diese Aufgabe eigentlich überhatte, in der Berufsschule war. „Da sind die Greißler aus der Umgebung gekommen und haben Sackerln gekauft. Wir hatten große und kleine, schönes Papier, alles reißfest.“
Die Arbeit habe sie aber nicht sehr befriedigt. So ist sie eines Tages losgegangen, zu Palmers, um sich dort vorzustellen. „Dort zu arbeiten, das hätte mir gefallen.“ Aber die Zuständigen dort, „die haben mich so begutachtet und dann haben sie gesagt, nein, wir haben keinen Bedarf.“ Selbstkritisch meint Ingeborg Jagenbrein im Rückblick: „Ich war halt so gewöhnlich.“ Andere junge Frauen hätten sich ganz anders hergerichtet, seien sexy gewesen. „Davon habe ich ja keine Ahnung gehabt. Bei mir hätten’s von ganz vorne anfangen müssen, dass ich sexy ausschau.“
Dennoch war sie fest entschlossen, die Papiersäckefabrik zu verlassen. Also habe sie Annoncen gelesen, bis sie auf eine Stelle bei Waagner-Biro in der Margaretenstraße stieß. Es sollte ihre Lebensstelle werden. Bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1986 im Alter von 54 Jahren („in diesem Jahr konnte man ein Jahr früher in Pension gehen“) sollte sie dort bleiben. Und es war in ihrer Anfangszeit bei Waagner-Biro, als sie 1949 der GPA beitrat.
Vom Betriebsrat überzeugt Mitglied zu werden
Was hat sie bewogen, Gewerkschaftsmitglied zu werden? „Eigentlich war es der Betriebsrat dort. Er hat mich bekniet, dass ich Mitglied werde.“ Eines seiner Argumente war, dass es zum Beispiel in Ordnung sei, nicht zur Arbeit zu kommen, wenn man krank sei und dass er sich dann auch für Mitarbeiter einsetzen könne, die krank seien. Das habe sie überzeugt. Ein paar Monate habe sie verstreichen lassen, bis sie dann tatsächlich Mitglied wurde. Aber seitdem sei sie dabei. 70 Jahre ist das nun her.
Lachen muss sie, wenn sie erzählt, dass dieser Betriebsrat einige Jahre später ihr Chef wurde. Seine Hilfe in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten habe sie daher nie in Anspruch nehmen müssen. Aber einmal habe sie die Gewerkschaft doch um Hilfe gebeten, in einer privaten Angelegenheit: Als der Schwiegervater starb, der am Ottakringer Friedhof begraben werden wollte, musste die Familie das Grab erst kaufen, hatte aber nicht ausreichend Mittel dafür. „Da haben wir einen Zuschuss von der Gewerkschaft bekommen. Da ist uns wirklich geholfen worden.“ Dafür sei sie bis heute dankbar.
In ihrer Jugend war Ingeborg Jagenbrein Mitglied in der Turn- und Sportunion, Gymnastik habe sie besonders gerne gehabt, aber auch schwimmen sei sie oft gewesen. An der Alten Donau habe sie dann auch ihren Mann kennengelernt, einen Mitarbeiter der ÖBB. Mit ihm habe sie über die Jahre viele Bahnreisen gemacht und später auch Kreuzfahrten. Kinder hat das Paar bewusst nicht bekommen. „Nach dem Krieg hat man gesagt: Ich schaff mir doch kein Kriegsmaterial an. Die Leute haben ihre Männer verloren, ihre Söhne verloren. Kinder kamen zur Welt, weil Frauen vergewaltigt wurden. Es gab genug fremde Kinder, aber die eigenen, die wollten keine Kinder.“ Und als sie dann bereits 37 Jahre alt gewesen seien, da hätten sie und ihr Mann nochmals über das Thema gesprochen, „da haben wir gesagt, entweder wir wollen ein Kind oder eine Eigentumswohnung. Und da haben wir gesagt: die Eigentumswohnung.“ Leid tut ihr diese Entscheidung heute nicht. „Sie rennen mir nicht nach, die Kinder.“ Sie habe also das Gefühl, das beruhe auf Gegenseitigkeit. „Meine Mutter hat mir das aber bis in ihr Grab nicht verziehen, das ich kein Kind bekommen habe.“
Nach dem Tod ihres Mannes hat Ingeborg Jagenbrein den Seniorentanz für sich entdeckt, war in Kursen an Volkshochschulen und sei auch weiterhin gerne gereist, „aber immer mit der Bahn oder dem Schiff und manchmal auch mit dem Bus“. Aber nie mit dem Flugzeug. Damit sei sie heute ja ganz modern, kokettiert sie und lacht.
EDV-Einführung in den 80er-Jahren
Dabei sei sie doch so insgesamt gar nicht mit der Zeit gegangen. Bis heute habe sie weder ein Mobiltelefon noch einen Computer. Bei Waagner-Biro habe sie als Buchhalterin gearbeitet. Doch Mitte der 1980er Jahre begann das Unternehmen, die Buchhaltung auf EDV umzustellen. „Der Chef hat uns da so kleine Rollen gezeigt und gesagt, das ist die ganze Bilanz. Wir haben da noch große Bögen gehabt, haben mit Schreibmaschinen und Rechenmaschinen gearbeitet und haben drei Monate gebraucht für die Bilanz.“ Auf die neuen Arbeitsmethoden habe sie sich nicht mehr einstellen wollen. „Ich habe außerdem gleich gefragt: wenn das nun die Maschine macht, wer verdient denn dann das Geld? Das hat mich sehr irritiert und auch erbost: Die sind gemein und denken nicht an die Leute, die sich eine Wohnung oder ein Haus gekauft haben und den Kredit zurückzahlen müssen. Die haben Schulden und nun auch keine Arbeit mehr.“ Am Ende sollte sie recht behalten. In der Buchhaltungsabteilung hätten nach der Umstellung auf das Computersystem statt vorher 28 nur mehr 17 Menschen gearbeitet.
Insgesamt setze sie sich umso mehr mit Politik auseinander, je älter sie werde, erzählt Ingeborg Jagenbrein. Im Rahmen der Feierlichkeiten für die GPA-JubilarInnen sprach Franz Georg Brantner, Vorsitzender der Region Wien, auch die von der Regierung Sebastian Kurz gegen den massiven Protest der Gewerkschaften umgesetzte Arbeitszeitflexibilisierung an. Ingeborg Jagenbrein findet dazu im Anschluss anklagende Worte: „Zwölf Stunden zu arbeiten, das ist Mord. Da hat man so lange gekämpft, dass es geregelte Arbeitszeiten gibt und jetzt wird das alles weggewischt und weggenommen. Ich habe mir nie vorstellen können, dass so etwas passiert.“
Im Rückblick ist Ingeborg Jagenbrein sehr froh, dass ihr eigenes Arbeitsleben immer in geordneten Bahnen verlief. Sie sei auf Urlaub gefahren und das Wochenende sei frei gewesen. Auch jetzt gehe es ihr finanziell sehr gut, betont sie. Sie habe eine gute Pension und beziehe ja auch noch eine Witwenpension nach ihrem Mann. Sie lebe in ihrer Eigentumswohnung in Favoriten und es fehle ihr – jedenfalls monetär – an nichts. Und auch wenn sie selbst sich mit Computern oder dem Internet nie auseinandergesetzt hat, meint sie dennoch, „die Welt gehört schon mir auch“.
Und in dieser Welt gebe es schon auch sehr faszinierende Dinge. In Deutschland habe sie sich vor ein paar Jahren eine Autofabrik angesehen. „Bei dieser Führung war ich ganz hin- und hergerissen. Roboter haben die einzelnen Teile geschupft und zusammengesetzt. Wir haben gesehen, wie ein Auto entstanden ist, wie der Sitz hineingekommen ist.“ Da habe sie realisiert, „wieviel Maschinen heute eigentlich schon machen“. Die Arbeitswelt, die sie kannte, die existiert heute nicht mehr. Ihrem Mann und ihr habe sie aber ein schönes Leben ermöglicht, sagt Ingeborg Jagenbrein. Und darüber ist sie sehr froh.
Die Gewerkschaft GPA hilft
GPA-Mitgliedern steht ein vielfältiges Beratungsangebot zu arbeitsrechtlichen Fragen zur Verfügung. Nicht-Mitglieder können unter 050301-301 eine kostenlose Erstberatung in Anspruch nehmen.