„Wenn wir streiken, steht die Welt still!“

Julia Ilger ist Betriebsrätin der Wiener Volkshochschulen.
Foto: Alexander Franz

Am 8. März 2018 gingen über fünf Millionen Menschen in Spanien auf die Straße für die Gleichstellung von Frauen. Seither steht das Thema weit oben auf jeder politischen Agenda.

Entwickelt sich Spanien zum Vorreiter in der Geschlechterpolitik? Die Betriebsrätin Julia Ilger ist diesen Fragen im Zuge eines Europapraktikums nachgegangen. Im Interview erzählt sie von einer neuen Frauenbewegung, Betriebsvereinbarungen zur Gleichstellung und was Österreich von Spanien lernen kann.

KOMPETENZ: Im Zuge der Sozialakademie hast du im Mai ein Praktikum in Madrid absolviert, in der Frauenabteilung der spanischen Gewerkschaft UGT (Unión General de Trabajadores). Warum Spanien?

Julia Ilger: Wer an Gleichstellung von Frauen denkt, hat zunächst wahrscheinlich nordische Länder im Kopf – Schweden, Norwegen, Dänemark. In Spanien haben am Weltfrauentag 2018 fünf Millionen Menschen für die Gleichstellung von Frauen demonstriert und gestreikt. In über 20 Städten. Gerade südliche Länder sind im Hinblick auf Gleichstellung interessant, weil man dort weniger positive Überraschungen erwartet. Mir war im Praktikum wichtig, das seit der Wirtschaftskrise oft als europäisches „Verliererland“ bezeichnete Spanien in Fragen der Gleichstellung zu beleuchten. Und daraus zu lernen.

„Das Instrument Streik wird dabei vom Arbeitsstreik ausgeweitet auf einen Studierenden-, KonsumentInnen- und Betreuungsstreik.“

Julia Ilger, Betriebsrätin

KOMPETENZ: Mit dem Streik zum Weltfrauentag 2018 hat eine neue Frauenbewegung in Spanien eingesetzt, die Bewegung „8-M“. Worum geht es der Bewegung?

Julia Ilger: Im Grunde geht es darum, die Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen in Spanien zu verbessern. Die Lohnschere zu schließen, häusliche Gewalt zu stoppen,  Erwerbschancen von Frauen zu verbessern, unbezahlte Haus- und Pflegearbeit sichtbar zu machen.. Die Themenpalette ist sehr breit. Das Instrument Streik wird dabei vom Arbeitsstreik ausgeweitet auf einen Studierenden-, KonsumentInnen- und Betreuungsstreik. So sollen alle Bereiche, in denen Frauen Diskriminierungen erfahren, aufgezeigt werden. „Wenn wir streiken, steht die Welt still!“, so das Motto. Die Bewegung hat bei Frauen aus prekären Beschäftigungsverhältnissen begonnen, vor allem aus der Hotellerie und von Reinigungskräften. Immer mehr Organisationen, NGOs und zivile Organisationen, Gewerkschaften, haben sich landesweit angeschlossen. Die Streiks und Proteste gehen seither weiter.

KOMPETENZ: Inwiefern zeigen die Proteste Wirkung? Hast du ein Beispiel aus der Arbeitswelt?

Julia Ilger: Seit 2007 hat Spanien ein Gleichstellungsgesetz. Durch die Wirtschaftskrise hatte das Gesetz aber kaum Zähne gezeigt. Das Gesetz sieht auch einen Plan de Igualdad vor, eine Betriebsvereinbarung zur Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz. Unternehmen mit mehr als 250 MitarbeiterInnen sind dadurch zu Gleichstellungsmaßnahmen verpflichtet. In Spanien gibt es allerdings viele kleine und mittlere Betriebe. Wie auch in Österreich. Der Plan de Igualdad war somit kaum relevant. Seit 2019 aber müssen Unternehmen bereits ab 50 MitarbeiterInnen Gleichstellungsmaßnahmen mit Betriebsrat und Gewerkschaft ausverhandeln.

Julia Ilger, Betriebsrätin der Wiener Volkshochschulen studierte die Gleichstellungspolitik der spanischen Gewerkschaften. Von den österreichischen Gewerkschaften, aber auch den politischen Parteien wünscht sie sich, dass sie Gleichstellung ernsthaft zum Thema machen.
Fotos: Alexander Franz

KOMPETENZ: Wie funktioniert diese Betriebsvereinbarung?

Julia Ilger: Unternehmen müssen Zahlen und Analysen hinsichtlich Gleichstellung an den Betriebsrat und die Gewerkschaft veröffentlichen. Zum Beispiel zu Frauen in Führungspositionen, zur Fluktuation, zum Einkommen, zu Chancen, Weiterbildungen, etc. Auf Basis dieser Daten verhandeln Gewerkschaften, Betriebsrat und Unternehmensleitung Maßnahmen für drei bis fünf Jahre. Die Umsetzung wird mittels Monitoring überwacht. Stellt sich zum Beispiel heraus, dass es Frauen schwerer haben, ins Unternehmen einzutreten, werden Maßnahmen überlegt, um diese Hürden abzubauen.

Weitere Neuerungen seit 2019: Die Vereinbarungen müssen nun beim Ministerium registriert werden. Wer den Plan nicht umsetzt, zahlt Strafen bis zu 100.000 Euro. Die Sanktionen und Neuerungen geben dem Instrument mehr Biss. Diese Entwicklung geht auf die Arbeitskämpfe seit letztem Jahr zurück.

KOMPETENZ: Und die Gewerkschaften selbst? Was tun sie für mehr Gleichstellung?

Julia Ilger: Seit die Gewerkschaften diese Bewegung mitgestalten, ist Gleichstellung eine Querschnittsmaterie auch innerhalb der Gewerkschaften. Das ist vor allem den Frauen zu verdanken, die innerhalb der Gewerkschaften Druck gemacht haben, sich 8-M und den Frauenstreiks anzuschließen. Den Erfolg kann man sehen. Pepe Alvarez, Präsident der UGT, hat seine Rede zum 1. Mai mit der Notwendigkeit der Gleichstellung von Frauen eröffnet. Das ist ein deutliches Signal. In gewerkschaftlichen Strukturen hat sich durch diese Streiks mehr Bewusstsein für Gleichstellung entwickelt.

KOMPETENZ: Welches Fazit ziehst du aus deinem Praktikum in Spanien?

Julia Ilger: Die Probleme von Frauen am Arbeitsmarkt in Spanien sind dieselben wie in Österreich: Einkommensschere, Arbeitsunterbrechungen mit nachteiligen Auswirkungen auf die Beschäftigung, prekäre Beschäftigung, Arbeit in Niedriglohnsektoren. Aber: In Spanien werden diese Themen ganz anders diskutiert, mit viel breiterer Öffentlichkeit und mehr Wirksamkeit. Wenn ich an das Frauenvolksbegehren in Österreich denke, hätte das eine viel größere Reichweite erlangen können. Gewerkschaften, aber auch politische Parteien, müssen Gleichstellung ernsthaft zum Thema machen.

In Spanien ist Aufbruch spürbar, Gewerkschaften erstarken wieder. Das Wahlergebnis ermöglicht wieder mehr sozialen Dialog und, so die Hoffnung, mehr Raum für Gleichstellungsfragen.

KOMPETENZ: Was können wir von Spanien lernen?

Julia Ilger: Spanische Gewerkschaften verstehen es, Frauen als Zielgruppe anzusprechen. Das vermisse ich in Österreich. Dabei profitieren Gewerkschaften selbst davon. Spanische Gewerkschaften haben seither einen Mitgliederzuwachs, vor allem von Frauen.

Was in Spanien auch gut funktioniert: Die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen – mit NGOs, SexarbeiterInnen, etc. Gewerkschaften bringen sich solidarisch ein, mit Blick auf den Arbeitsmarkt. Die Farbe lila ist zum Symbol geworden für die Frauen- und Gleichstellungsbewegung. Quer durch alle Organisationen treten Frauen und Männer öffentlich in lila Schals, mit lila Plakaten oder lila T-Shirts auf. Das wirkt einheitlich und allgegenwärtig.

Zur Person:

Julia Ilger ist Betriebsrätin der Wiener Volkshochschulen. Seit Herbst 2018 bildet sie sich an der Sozialakademie von ÖGB und AK in Arbeitsrecht, Betriebswirtschaft, soziale Kompetenz etc. weiter. Im Zuge ihres Europapraktikums hat sie im Mai 2019 in der Frauenabteilung der spanischen Gewerkschaft UGT zu Geschlechterfragen geforscht.

Jedes Jahr absolvieren die TeilnehmerInnen der Sozialakademie (Sozak) ein Praktikum in einem europäischen Land, um sich mit internationalen Fragen auseinanderzusetzen.

Mehr zum Europapraktikum der Sozialakademie 

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