Rezension von Lutz Raphaels Buch „Jenseits von Kohle und Stahl – Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom„
Erinnert sich noch jemand an das Schröder/Blair Papier? Dessen Erscheinen ist nun 23 Jahre her, seitdem hat sich die Welt epochal verändert. Mit ihrem gemeinsamen Papier wollten die deutschen und britischen sozialdemokratischen Regierungschefs Gerhard Schröder und Tony Blair die Arbeiterbewegungsvergangenheit ihrer jeweiligen Parteien endgültig begraben und in einen neoliberalen Sonnenaufgang hineinreiten. „New Labour“ und „dritter Weg“ waren Schlagworte der damaligen Zeit. Privatisierung war angesagt, Sozialstaat passé. Heute haben wir Wirtschaftskrise, Coronakrise und Klimakrise – von sozialdemokratischen Parteien privatisierte Eisenbahnen werden durch nationalkonservative Regierungen zumindest zeitweise unter staatliche Kontrolle gestellt. Das ist jüngst in Großbritannien geschehen.
Lutz Raphael ist Historiker und Professor an der Universität Trier. Sein neues knapp über 500 Seiten dickes Buch bietet einigen Stoff zur Entwicklung einer Perspektive wie es zu der heutigen Situation kommen konnte. Die Textform ist zwar eine akademische, der Inhalt jedoch gerade für GewerkschafterInnen sehr relevant. Denn Lutz Raphael holt die IndustriearbeiterInnen wieder aus dem Schatten der Geschichtsschreibung hervor und stellt deren Lebenserfahrungen aus den vergangenen 50 Jahren ins Zentrum. Anhand der Beispiele Großbritannien, Frankreich und Deutschland versucht er nachzuzeichnen wie sich das Leben dieser arbeitenden Menschen und ihrer Familien verändert hat. Es ist eine Geschichte stetiger Veränderung, des Aufbegehrens und der Verdrängung an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Gerade letzteres, so Raphaels These, habe große Auswirkungen auf die heutige politische Landkarte gehabt.
Dem Wissenschaftler Lutz Raphael geht es dabei um die Zeit „nach dem Boom“, also jene Epoche die in den 1970er Jahren ihren Anfang nahm. Damals kam die Weltwirtschaft erstmals nach Ende des zweiten Weltkriegs ins Stottern, in verschiedenen Ländern nahmen Prozesse ihren Anfang welche zeitversetzt in den 1980er, 1990er und 2000er Jahren in vielen Ländern zu umfassenden neoliberalen Umstrukturierungen des Sozialstaats führten.
Doch auch in der Industrie kam es zu gravierenden Umwälzungen. Verstaatlichte Konzerne wurden privatisiert, nicht profitable Unternehmensteile abgestoßen. Neue Technologien entstanden und mit ihnen ein expandierender Dienstleistungssektor. Während in klassischen Industriebetrieben Gewerkschaften vielerorts stark verankert waren fanden sie in den „neuen“ Branchen nur schwer einen Fuß in die Tür.
Umbrüche – Kämpfe – Niederlagen
Raphael beschreibt wie die verschiedenen Umbruchphasen immer wieder von betrieblichen, gewerkschaftlichen und gesellschaftlichen Konfrontationen begleitet waren. Zu solchen einschneidenden Ereignissen zählen die politisch radikalen Streikbewegungen gegen brutale Arbeitsbedingungen und Überstunden in vielen europäischen Ländern Ende der 1960er Jahre, die gewerkschaftliche Kampagne zur Einführung einer 35-Stundenwoche in Deutschland als Antwort auf die Bedrohung durch wachsende Massenarbeitslosigkeit oder der Bergarbeiterstreik 1984 in Großbritannien welcher zu einem Fanal im Kampf zur Verteidigung der Lebensbedingungen der britischen industriellen ArbeiterInnenschaft und derer Familien wurde.
Immer wieder zeigt Raphael Beispiele auf in denen Kämpfe die „offiziellen“ Wege verließen. In Frankreich betrieben ArbeiterInnen im Rahmen eines Streiks gegen eine Fabrikschließung einen eigenen Radiosender, bis dieser von missgünstigen GewerkschaftsfunktionärInnen abgedreht wurde. In Großbritannien verweigerten Millionen Menschen, organisiert in lokalen Basisgruppen, die Zahlung einer von der Thatcher-Regierung neu eingeführten Massensteuer. In Deutschland besetzten StahlarbeiterInnen die Rheinbrücken um gegen Schließungen zu protestieren.
Thematisiert wird aber auch das Abklingen der Kämpfe als Folge von Niederlagen, beziehungsweise deren Befriedung durch Sozialpläne. In verschiedenen Industrieregionen Europas wurde in den 1980er und 1990er Jahren eine ganze Generation in den Vorruhestand geschickt, neue Industriearbeitsplätze folgten nur selten nach. So schwankt im Ruhrgebiet die Arbeitslosigkeit zwischen 13 und 17 Prozent, zwischen 1970 und 1990 gab es dort einen Bevölkerungsrückgang von zehn Prozent. In Ostdeutschland, dessen Geschichte im Buch nur am Rande thematisiert wird, verschwanden zwischen 1994 und 2000 850.000 Arbeitsplätze in der Industrie, ein Rückgang von 83 Prozent.
In Folge wurden die Beziehungen zwischen ArbeiterInnen in verschiedenen Produktionszweigen aber auch zwischen den Generationen angespannter. Während es in den Kernbetrieben vieler großer Konzerne immer noch verschiedene Formen gewerkschaftlicher Repräsentation gibt nimmt diese in der wachsenden Zahl ausgelagerter Zulieferbetriebe ab. Hier entstehen auch „neue“ Formen prekärer Beschäftigung, etwa durch Leiharbeit.
In diesem Zusammenhang beschreibt Raphael die Entstehung zweier Phänomene. Noch bestehende Kernbetriebe würden von den dort arbeitenden Menschen oft als Stabilitätsanker in einer unsicherer werdenden Welt verstanden, deshalb würden diese auch von den ArbeiterInnen mittels brüchiger Bündnisse mit den EigentümerInnen verteidigt. Raphael verweist hier auf die zahlreichen, vor allem in Deutschland für eine Zeit lang oft aufzufindenden lokalen „Bündnisse für Arbeit“. Gleichzeitig gebe es aber in den prekarisierten Bereichen eine zunehmende Individualisierung innerhalb der Belegschaften, mit immer unübersichtlicher werdenden Beschäftigungs- und Vertragsverhältnissen.
Die unsichtbare ArbeiterInnenklasse
Die Deindustrialisierung ganzer Landstriche und der damit verbundene Verlust industrieproletatrischer kultureller Milieus ging laut Raphael auch mit einem Bedeutungsverlust traditioneller ArbeiterInnenorganisationen und Parteien einher. Raphael spricht in diesem Zusammenhang das eingangs erwähnte Schröder/Blair-Papier als einen deutlich wahrnehmbaren Bruch der (ehemaligen?) ArbeiterInnenparteien mit ihrer Vergangenheit an. Letztere würden in ihren Gemeindevertretungen oftmals nur mehr die Rolle von Armutsverwalterinnen spielen, so Raphael. Das durch den Rückzug der ArbeiterInnenorganisationen entstandene Vakuum werde durch „neue Akteure“ und Protestformen ersetzt. Raphael verweist in diesem Zusammenhang etwa auf die regelmäßigen Unruhen in französischen oder britischen Vororten sowie den wachsenden Einfluss rechtspopulistischer Parteien.
Der Autor Lutz Raphael möchte sich mit seinem Buch von einer Geschichtsschreibung abgrenzen welche die ArbeiterInnen zunehmend an den Rand gedrängt und somit unsichtbar gemacht habe. Diese gehe mit einem „an den Rand drängen“ der ArbeiterInnen im wirklichen Leben einher: Wo früher Industrieanlagen standen, befinden sich heute nostalgische Industriemuseen zur Vergangenheitsabwicklung. IndustriearbeiterInnen seien in den Großstädten kaum noch zu finden, dafür vermehrt im ländlichen Raum und kleineren Städten. Auf knapp 500 Seiten gelingt ihm ein Problemaufriss, Lösungen muss die Gewerkschaftsbewegung selber finden.
Lutz Raphael
Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom
Suhrkamp Verlag 2019
Gebunden, 525 Seiten
ISBN: 978-3-518-58735-5