Die Aufsatzsammlung „Post-Wachstum und Gegen-Hegemonie“ von Ulrich Brand behandelt neben grundsätzlichen Fragen der sozial-ökologischen Transformation, dem Schreckgespenst „Corona-Kapitalismus“ und autoritären Tendenzen innerhalb des Grünen Kapitalismus, auch die zukünftige Rolle von Gewerkschaften.
Geht’s um Klima- und Umweltschutz, würden Gewerkschaften vielfach als „Bremser“ wahrgenommen. Als jene, denen es weniger um die großen Fragen der Zukunft, sondern vorrangig um die Löhne der eigenen ArbeiterInnenschaft geht. Das sei nicht nur historisch falsch, sondern verkenne den Kern der Umwelt- und Klimakrise, schreibt Ulrich Brand in seinem neuen Sammelband „Post-Wachstum und Gegen-Hegemonie. Klimastreiks und Alternativen zur imperialen Lebensweise“ (VSA Verlag). Angesichts einer notwendigen sozial-ökologischen Transformation fragt der Professor für Internationale Politik der Universität Wien: „Wer wäre dafür grundsätzlich besser geeignet als Gewerkschaften?“.
Die Aufsatzsammlung Brands dreht sich um verschiedene Anwendungsgebiete des Begriffs der „Imperialen Produktions- und Lebensweise“ und erdenklichen Alternativen dazu. Die imperiale Lebensweise beschreibt im Kern die Tatsache, dass das Wohlstandsmodell des Globalen Nordens auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Arbeitskräfte des Globalen Südens beruht – und in horrendem Maße destruktiv und unnachhaltig ist.
Keine „Jahrhundertaufgabe ohne Gewerkschaft“
Als Gegenentwurf zur imperialen Lebensweise brauche es einen „tiefgreifenden sozial-ökologischen Wandel“, einen radikalen Umbau von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Und die Zeit drängt, „das Zeitfenster, in dem die schlimmsten Auswirkungen der Klimakrise vermieden werden könnten, schließt sich rapide“. Gewerkschaften, bemerkt Brand, befänden sich hier oftmals in einer widersprüchlichen Situation: gerade jene Branchen, in denen ihre Organisationsmacht am stärksten ist, sie die meisten Mitglieder zählen, gelten als ökologisch wenig nachhaltig, als kaum zukunftsfähig.
Oftmals herrsche daher die Auffassung vor, wer als Gewerkschaft mehr Umweltschutz fordert, sägt am eigenen Ast. Umweltschutz und Arbeitsplätze würden in der öffentlichen Debatte nur allzu oft als zwei unvereinbare Pole diskutiert. Dem will Brand widersprechen: Fragen der Ökologie hängen unmittelbar mit der Frage zusammen, wie wir zukünftig arbeiten wollen. Die „Jahrhundertaufgabe“ der sozial-ökologischen Transformation könne nur mit Einbindung der Gewerkschaften gelingen.
Wohlstand ist mehr als die Menge der Euros
Entscheidend ist dabei, soziale und ökologische Fragen nicht getrennt voneinander zu denken. Denn Klima- und Umweltschutz ist auch eine Frage von Einkommen und Vermögen – während Reiche und Menschen mit hohen Einkommen, im Schnitt die meisten Ressourcen verbrauchen und einen Großteil der Emissionen verbuchen, sind sie es, die die negativen Folgen am wenigsten zu spüren bekommen. Die Klimakrise habe eine globale und nationale „Klassendimension“.
Brand fordert, Gewerkschaften müssten über die Dichotomie Umweltschutz oder Arbeitsplätze hinauskommen – auch in ihrem eigenen, gewerkschaftlichen Interesse. Die imperiale Lebensweise, das Dogma des Immer-mehr-und-immer-schneller übernutze nicht nur die Ressourcen unseres Planeten, sondern auch die menschliche Arbeitskraft. Eine ökologischere Ausrichtung der Gewerkschaften könne gleichzeitig eine arbeitnehmerInnenfreundlichere sein.
Tendenzen in diese Richtung seien bereits zu erkennen. Vielfach geht es bei Kollektivvertragsverhandlungen nicht mehr ausschließlich um steigende Löhne, sondern um eine Arbeitszeitverkürzung. Sozial-ökologische Transformation bedeutet auch, dass Wohlstand nicht bloß quantitativ, an der Menge der Euros am eigenen Konto gemessen werde, sondern qualitativ, an der zur Verfügung stehenden Freizeit, der Sinnhaftigkeit und Qualität der Arbeit.
Wie würde eine Gewerkschaft, die sich der sozial-ökologischen Transformation verschreibt, aussehen?
Teilweise können Gewerkschaften aus der eigenen Geschichte schöpfen, schreibt Brand. Wer, wenn nicht sie wissen, dass der Wohlstand der Massen noch nie im Fokus kapitalistischer Akkumulation stand? Erst nach harten und zähen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen kam das erwirtschaftete Arbeitsprodukt auch einer Mehrheit der Bevölkerung zu gute. Und wer, wenn nicht Gewerkschaften hätten das notwendige know-how, Erfahrung und Personal, um eine sozial-ökologische Transformation zu gestalten?
Gewerkschaften müssen Antworten auf die großen Fragen geben
Gleichzeitig müssten sich ArbeitnehmerInnenorganisationen von historisch gewachsenen Dogmen verabschieden. Gewerkschaften sollten sich wieder mehr als politische Akteure wahrnehmen, die jenseits von tariflichen Fragen wieder grundsätzlichere Fragen stellen: Bedeutet ein Lohnzuwachs automatisch einen Wohlstandszuwachs für ArbeiterInnen? Kann ein Wirtschaftssystem, das auf Wachstum und Profit basiert, angesichts ökologischer Grenzen zukünftig ein gutes Leben für alle garantieren? Wie sind Macht, Herrschaft und Eigentum in- und außerhalb des Betriebs verteilt? Die Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit sollten Gewerkschaften „nicht dem Management und den Unternehmenseignern überlassen“.
Der Zeitpunkt für eine solche Debatte ist denkbar ungünstig – und denkbar günstig zugleich. Angesichts der Corona-Krise beschleicht Brand eine „politisch-historische Beklommenheit“. Seit den 1970ern standen ökologische Themen immer wieder auf gewerkschaftlichen Agenden – und wurden, zumeist angesichts kapitalistischer Krisen, dem „Kerngeschäft“, den Erhalt von gut bezahlten Arbeitsplätzen geopfert. Brand fragt: „Was wird im Jahr 2030 gewesen sein?“. Werden wir rückblickend sehen, dass Umweltfragen angesichts von Wirtschafts- und Beschäftigungskrise im Jahr 2020 erneut hinten anstehen mussten?
Nebst zahlreichen fruchtbaren theoretischen wie praktischen Inputs, ist Brands beneidenswerter Optimismus das, was den Sammelband wirklich lesenswert macht. Brand hangelt sich von Krise zu Krise, von Widerspruch zu Widerspruch – und zieht genau daraus die Produktivität seiner Gedanken. Das Buch ist eine beständige Suche nach „Einsatzpunkten“ für eine linke, emanzipative Zukunft, die der Autor gerade innerhalb der Widersprüche entwickelt, die der Kapitalismus unweigerlich hervorbringt. Brand lädt nicht zuletzt die Gewerkschaften ein, ihm dorthin zu folgen, wo’s wehtut.
Ulrich Brand
Post-Wachstum und Gegen-Hegemonie. Klimastreiks und Alternativen zur imperialen Lebensweise
(2020), VSA Verlag
Hamburg, 254 Seiten
ISBN 978-3-96488-027-7
16,80 Euro
Zum Autor
Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Schwerpunkte: Politiken und Krisen kapitalistischer Globalisierung, internationale Umwelt- und Ressourcenpolitik, Lateinamerika, sozial-ökologische Transformation und imperiale Lebensweise