Unser verrücktes Leben in der pandemischen Gesellschaft
Oft liest man Bücher und erfährt Neues – Neues über zurückliegende Epochen, Details über Vorfälle, die man rudimentär medial mitbekommen hat, Details über Affären und Skandale, wo erst Jahrzehnte später die Hintergründe gelüftet werden. In Robert Misiks eben erschienenem Essay „Die neue (Ab)Normalität“ jedoch liest man über die Befindlichkeiten in einer Krise, die erstens noch andauert und in der wir alle uns zweitens persönlich befinden.
„Unser verrücktes Leben in der pandemischen Gesellschaft“ ist der Untertitel des im Picus Verlag erschienenen Bandes und wenn man da nun Misiks sehr akurate Beschreibungen dessen liest, was jeder und jede von uns derzeit lebt, wird einem bewusst, wie sehr auf den Kopf gestellt unser aktueller Alltag tatsächlich ist. Die Schilderungen helfen einem, einen Schritt zurück zu machen und sich kurz in die Rolle des/der Unbeteiligten zu versetzen, der/die beobachtet, was da gerade passiert. Und all das ist alles andere als normal und dennoch fallen die wenigsten von uns aus der Rolle. Das Gros der Menschen zeigt sich erstaunlich resilient.
Misik nimmt einen einerseits bei der Hand und führt uns durch die Emotionen dieser Pandemie. Er zeigt aber auch die höchst unterschiedlichen Realitäten auf – vom Leben im Grünen mit eigenem Garten bis zu Home Office und Home Schooling auf beengtem Wohnraum, von der Alleinerziehenden, die nicht mehr ein und aus weiß bis zu jenen, für die das Arbeiten von zu Hause keine Option ist.
Sehr genau schaut der Autor nämlich auf die Bruchstellen der Gesellschaft, die diese Krise noch sichtbarer macht. „Jetzt feiern alle die Arbeit von Pflegekräften und Leuten im Einzelhandel und sagen, dass das die Helden des Corona-Alltags sind. Aber vergessen wir dabei nicht, welche Löhne denen schon immer gezahlt werden. Das muss man ändern, und da müssen wir auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen, die das für uns hat, als Verbraucher, das heißt dann auch höhere Preise. Das muss ein solidarischer Staat als sein Thema entdecken …“.
Stichwort Solidarität: Diese ist gerade in dieser Krise mehrfach gefordert. Einerseits, um die Pandemie einzudämmen. „Jeder, der sich an Regeln nicht hält, bricht den Solidarpakt. Jeder, der sich unverantwortlich verhält, trägt dazu bei, dass ein anderer sich das Virus einfangen kann, daher kann der andere ihn ganz persönlich dafür verantwortlich halten, dass er länger Opfer bringen muss.“ Andererseits müssen jene, die arbeitslos wurden, jene, die in Branchen tätig sind, die geschlossen halten mussten oder immer noch müssen, von der Gesamtgesellschaft, spricht dem Sozialsystem, aufgefangen werden.
Misik wagt jedoch auch einen durchaus positiven Ausblick und macht dabei einen Blick zurück in die Geschichte. Auf die Spanische Grippe sei „eine vibrierende Dekade“ gefolgt: „die Goldenen zwanziger Jahre“. Diese seien nicht nur eine Epoche der rasenden Modernisierung und von radikalen und kulturellen Experimenten gewesen, „sondern auch der Entwicklung neuer Lebensstile, der Lebensreform und der Revolte gegen Konventionen“. Im Idealfall könnte sich das wiederholen, denn: „Wer will denn wirklich die ‚alte Normalität’ zurück?“
Und das ist tatsächlich eine ganz zentrale Frage. Klimakrise, aus dem Ruder gelaufener Konsum, die faire Verteilung von Arbeit: es gibt so viele Aspekte, in denen ein globales Umdenken allen zu Gute käme. Und so regt Misik hier zu viel Reflexion und Gedankenspielen an. Denn, ja: in diesem Jahr hat sich so viel verändert, dass ein Zurück zum Davor gar nicht mehr möglich scheint. Die Digitalisierung ist in vielen Bereichen stark vorangeschritten, es hat sich gezeigt, dass das Home Office in einigen Branchen besser funktioniert als erwartet, aber auch das Konsumverhalten hat sich massiv verändert. Welche Spuren die Coronakrise hinterlassen haben wird, wird man dann allerdings erst mit ein bisschen zeitlichem Abstand wirklich sehen können. Vielleicht lässt uns Misik dann ja erneut an seinen Beobachtungen und Befunden teilhaben.
Robert Misik
Unser verrücktes Leben in der pandemischen Gesellschaft
Wien 2021, Verlag Picus
160 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-7117-2107-5