Buchtipp: „Angst und Angstmacherei. Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht“

Markus Marterbauer und Martin Schürz analysieren in ihrem neuen Buch einen Klassenkampf von oben, der auf Angsttechniken setzt. Ihr Plädoyer: Das Gute Leben für Alle ist möglich – und finanzierbar!

Armut ist nicht nur eine Nummer auf dem Konto. Armut bedeutet Stigma, Vorurteil, Entmutigung, Entmachtung, Apathie, Krankheit, Depression. Armut bedeutet Angst. An diesen sozialpsychologischen Befund knüpfen AK-Ökonom Markus Marterbauer und Psychotherapeut Martin Schürz in ihrem unlängst veröffentlichten Buch „Angst und Angstmacherei“ (Verlag Zsolnay) an. Entsprechend dem Untertitel plädieren sie darin „Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht“.

Ökonom Marterbauer und Psychotherapeut Schürz üben sich in „Angst und Angstmacherei“ in einer Art Rollenspiel und verknüpfen auf knapp 400 Seiten die strukturelle (ökonomische) Ebene beständig mit der psychologischen (individuellen) Ebene. Entlang dieser Verknüpfung entwickeln sie ihre analytischen und normativen Argumente. Ihr Kernbefund: Angst ist politisch.

Was das bedeutet, breiten Marterbauer und Schürz anhand einer Vielzahl von Beispielen aus und sprechen dabei zahlreiche Themen an, die es nur selten – und falls doch: nicht in dieser Tiefe – in den gesellschaftlichen Diskurs schaffen: Der Scham, das Stigma, welche der Armut ankleben; die Selbstzweifel, die Apathie, die Entpolitisierung, die Hoffnungslosigkeit, welche daraus folgen.

„Vermögensverteidigungsindustrie“

Die Autoren streichen dabei hervor: Gesellschaftliche und politische Entwicklungen entstehen nicht aus Zufall, wirtschaftliche Entwicklungen folgen keinen eisernen, quasi-naturwissenschaftlichen Gesetzen. Bei vermeintlichen „wirtschaftlichen Notwendigkeiten“ handelt es sich vielmehr um eine ideologische Strategie der Reichen und Vermögenden zur Verteidigung ihrer gesellschaftlichen Position. Dieser Klassenkampf von oben äußert sich in einer Vielzahl von Formen, angefangen bei dem Umstand, dass es über Reichtum und Vermögen nur wenig fundiertes Datenmaterial gibt. Dass man übers Geld in Österreich nur ungern spricht, gilt vor allem für die obersten Prozent der Vermögenspyramide. Und auch das, so argumentieren Marterbauer und Schürz, ist kein Zufall: Denn worüber die Gesellschaft wenig weiß, darüber kann sie sich auch weniger empören.

Für das bisschen, was die Gesellschaft dennoch über die horrende Vermögensungleichheit in Österreich weiß – immerhin besitzt hierzulande das reichste Prozent bis zu 50 Prozent des Gesamtvermögens – haben sich die Benannten eine Art „Vermögensverteidigungsindustrie“ aufgebaut. Denn Reichtum äußert sich einerseits in Besitz (von Geld, Unternehmen, Luxusartikeln und Immobilien), andererseits in Einfluss auf Politik, Medien und gesellschaftliche Debatten.

Zu was diese Vermögensverteidigungsindustrie im Stande ist, durfte einer der Autoren unlängst am eigenen Leib erfahren. An seine Beileidsbekundung zum Tod von Multimilliardär Dietrich Mateschitz schloss Marterbauer auf Twitter eine Forderung nach einer Vermögenssteuer an. Die Antwort der „Vermögensverteidigungsindustrie“ folgte auf den Fuß: Das ÖVP-nahe Krawallmedium Exxpress geißelte Marterbauer für die angebliche Pietätlosigkeit seines „Hasspostings“. „Die Mehrheit“, behauptet das Magazin, trauere jedoch aufrecht um den honorigen Herrn Mateschitz – schließlich sei dieser nicht nur reich, sondern habe auch Hilfsprojekte in Afrika unterstützt.

Armut entpolitisiert

Während sich Reiche – trotz ihres ungerechtfertigten Vermögens – der Anerkennung weiter gesellschaftlicher Schichten erfreuen, sind Arme laut Marterbauer und Schürz mit sozialer Ausgrenzung und existentiellen Ängsten konfrontiert – maßgeblich hervorgerufen und verstärkt durch den Abbau sozialstaatlicher (Mindest-)Standards in den vergangenen Jahrzehnten. „Wenig unterminiert politische Rechte und Freiheit mehr als Armut. Armut macht Angst und vereinzelt. Armut produziert Aussichts- und Hoffnungslosigkeit. Angst erschwert es, den Teufelskreis aus Armut und sozialer Ausgrenzung zu durchbrechen“.

Kapitel für Kapitel arbeiten sich die Autoren im Verlauf des Buches an den grundlegenden Themen (und Errungenschaften) des österreichischen Sozialstaates ab und zerpflücken dabei gängige, neoliberale Argumente, wieso ein solcher angeblich zu teuer, leistungsfeindlich, ungerecht oder aus der Zeit gefallen sei. Der Analyse des Politikfeldes fügen die Autoren jeweils eigene politische Forderungen hinzu und können dabei vor allem zeigen: Das Gute Leben für Alle ist finanzierbar!

Marterbauer und Schürz rechnen vor: „Nach unserer Einschätzung reichen […] etwa zwei Milliarden Euro, um dauerhafte Armut in Österreich weitgehend zum Verschwinden zu bringen. Dies ist nur etwa das Doppelte der aktuellen Kosten der Sozialhilfe und macht weniger als zwei Prozent aller Sozialausgaben aus“. Es mangelt nicht am Geld, sondern am politischen Willen.

Jenseits des Sozialstaates?

Insgesamt bewegt sich das das Buch zwischen wissenschaftlicher Analyse, sozialdemokratischem Grundsatzprogramm und einer nützlichen Handreiche für Diskussionen mit dem rechtskonservativen Unternehmeronkel für anstehende Familienfeiern rund um die Weihnachtsfeiertage. Es besticht dabei einerseits durch die Verknüpfung einer enormen empirischen Tiefe und theoretischer Reflexion. Dabei – und das ist keineswegs banal – kommen die Autoren ohne zeilenlange Schachtelsätze und hochgestochenes Fachvokabular aus, sondern schaffen es, inhaltlich Komplexes sprachlich nachvollziehbar zu vermitteln.

Das zu Beginn des Buches angemerkte Versprechen, man werde auch Perspektiven jenseits kapitalistischen Wirtschaftens anbieten, bleiben die Autoren leider weitgehend schuldig. Politische Forderungen beschränken sich meist auf Appelle an den (kapitalistischen) Staat bzw. den Ausbau des Sozialstaates. Gerade die Tradition (nicht-institutionalisierter) gewerkschaftlicher Streiks und Proteste, die politischen Errungenschaften anderer sozialer Bewegungen und politischer Gruppierungen geraten hierdurch aus dem Blickfeld.

Zum Buch:

Markus Marterbauer, Martin Schürz. „Angst und Angstmacherei. Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht“.
Erscheinungsdatum: 26.09.2022
384 Seiten
Zsolnay
Deutschland: 26,00 €
Österreich: 26,80 €

Scroll to top