Bildung und Beruf hängen nicht nur von persönlichen Vorlieben ab, sondern sehr stark von der sozialen Herkunft. Nicht alle Kinder haben von Beginn an die gleichen Chancen, denn das österreichische Bildungssystem erschwert die soziale Mobilität, erklärt Julia Hofmann von der AK Wien im Interview.
KOMPETENZ: Die AK hat eine neue Broschüre zum Thema „Ungerechte Verteilung“ herausgebracht, in der es u.a. auch um soziale Mobilität und Aufstiegschancen geht: Nicht nur Vermögen wird vererbt, sondern auch Bildung, und zwar in Österreich stärker als anderswo. Wie kommt das?
Julia Hofmann: Das österreichische Bildungssystem reproduziert Ungleichheit. Die Bildungschancen hängen nach wie vor sehr stark vom ‚Glück der Geburt’ ab. Das heißt: für den Bildungserfolg der Kinder in Österreich ist vor allem der Bildungsstand bzw. der soziale Status der Eltern relevant. Es geht hier ganz allgemein um die ungleichen Chancen, mit denen die Kinder ins Leben starten und unser Bildungssystem schafft zu wenig Ausgleich.
Bildungschancen bedeuten jedoch im späteren Leben die Chance auf sozialen Aufstieg, und natürlich auch auf ein gutes Einkommen und Wohlstand.
KOMPETENZ: Das bedeutet, Kinder von gut ausgebildeten Eltern erhalten selbst wieder eine gute Bildung bzw. Ausbildung?
„Die Bildungschancen hängen nach wie vor sehr stark vom ‚Glück der Geburt’ ab.“
Julia Hofmann
Julia Hofmann: Genau. Kinder von Eltern, die AkademikerInnen sind, haben deutlich höhere Chancen, selbst wiederum einen Uni-Abschluss zu erreichen. Denn die Eltern können für Nachhilfe bezahlen, pädagogische Angebote in der Freizeit wie z.B. Sprachkurse organisieren, sie ermöglichen ihnen die Teilhabe an kulturellen Veranstaltungen, sie haben gute Netzwerke für den Berufsstart der Kinder, usw. Wir sprechen hier auch vom „kulturellen Kapital“ der Eltern. Eltern, die maximal über einen Pflichtschulabschluss verfügen, fällt dies meist schwerer. Sie hatten selbst kürzere Bildungswege und können so häufig ihre Kinder nicht ausreichend unterstützen, wenn zum Beispiel Entscheidungen für bestimmte Bildungswege anstehen. Sie sind auch finanziell nicht so gut in der Lage, ihre Kinder auf ihrem Bildungsweg entsprechend zu unterstützen.
KOMPETENZ: Welche Rolle spielt hier das österreichische Bildungssystem, wo liegen seine Schwächen?
Julia Hofmann: Unser Bildungssystem selektiert zu früh und entscheidet schon nach der Volksschule über die Chancen der Kinder. Aber vier Volksschuljahre reichen einfach nicht aus, um Startnachteile bei manchen Kindern zu überwinden. Wir weisen als Arbeiterkammer seit Jahren auf dieses grundlegende Problem hin. Denn die zu frühe Selektion bedeutet, dass für die Kinder bereits mit 10 Jahren Bildungswege vorgegeben werden, die anschließend nur schwer korrigiert werden können.
Auch die immer noch weite Verbreitung von Halbtagsschulen ist ein Problem: SchülerInnen müssen dadurch viel Lernzeit außerhalb der Schule verbringen. Das verstärkt familiär bedingte Ungleichheiten.
KOMPETENZ: Sollte die Schule nicht helfen, Benachteiligungen auszugleichen?
Julia Hofmann: Der traditionelle Schulunterricht ist leider so ausgelegt, dass bestimmte Kinder gut mitkommen und die Klassenziele erreichen – nämlich jene Kinder, die zu Hause Unterstützung und Hilfe seitens der Eltern bekommen. Wer das nicht hat, ist benachteiligt. Zugleich führt der Personalmangel an den Schulen dazu, dass die Schule selbst ihren Aufgaben bei der Unterstützung der Kinder nicht nachkommen kann, die Schule kann also die fehlende Hilfe zu Hause und die Benachteiligung nicht kompensieren. Es fehlen dafür einfach die Ressourcen.
Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, haben ein weiteres Problem: Ihre Mehrsprachigkeit stellt während der Schullaufbahn oft kein Asset dar. Diese Kompetenzen werden entwertet, statt gefördert.
KOMPETENZ: Wie ließe sich das ändern?
Julia Hofmann: Man muss endlich aufhören, die Kinder für das schlechte Abschneiden bei Pisa verantwortlich zu machen und stattdessen Schulen mit besonderem Bedarf stärker unterstützen, indem man ihnen mehr Mittel und v.a. mehr Personal zur Verfügung stellt. Als Arbeiterkammer fordern wir hier schon seit vielen Jahren ein Umdenken und eine bedarfsorientierte Zuteilung der finanziellen Mittel an Schulen mit großen Herausforderungen – wir können aber nur sehr schleppende Fortschritte sehen. Und wir treten auch seit Jahrzehnten schon vehement für ein weniger selektives Schulsystem ein, auch hier bewegt sich kaum etwas.
„Nur 7 Prozent der Kinder, bei denen die Eltern ihre Ausbildung mit einer Pflichtschule beendet haben, erlangen einen Hochschulabschluss. In dieser Gruppe schließen außerdem 27 Prozent selbst nur eine Pflichtschule ab.“
Julia Hofmann
KOMPETENZ: In Österreich ist der soziale Aufstieg schwieriger als anderswo, weil der Bildungsweg der Eltern jenen der Kinder extrem stark reproduziert. Was heißt das in konkreten Zahlen?
Julia Hofmann: 68 Prozent der Kinder aus AkademikerInnenhaushalten schließen selbst wieder mit einem Hochschulstudium ab. Aber nur 7 Prozent der Kinder, bei denen die Eltern ihre Ausbildung mit einer Pflichtschule beendet haben, erlangen einen Hochschulabschluss. In dieser Gruppe schließen außerdem 27 Prozent selbst nur eine Pflichtschule ab.
Diese Bildungsungleichheit setzt sich später natürlich auch im Berufsleben fort. Die Chancen auf einen gut bezahlten Job, mit mehr Autonomie, besseren Aufstiegschancen etc., hängen ebenfalls vom Bildungswegs und damit wieder von der sozialen Herkunft ab.
Wie niedrig die soziale Mobilität in Österreich tatsächlich ist, wird auch ersichtlich, wenn man einen Vergleich mit anderen Ländern zieht: In den skandinavischen Ländern haben z.B. Kinder aus ArbeiterInnenfamilien weitaus bessere Chancen, Fach- und Führungskraft zu werden. In Österreich bräuchte man laut Berechnungen der OCED fünf Generationen um sozial von ‚ganz unten’ in die ‚Mitte’ zu klettern – in Dänemark bräuchte es dafür „nur“ zwei Generationen.
KOMPETENZ: Viele dieser Probleme sind seit Jahren bekannt. Gibt es auch Fortschritte?
Julia Hofmann: Natürlich gab es Fortschritte über die Jahre. Immer mehr junge Menschen erlangen höherwertige Abschlüsse. Wir wissen auch, dass es heute mehr Hochschulabschlüsse gibt als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Aber bei den Startchancen bewegt sich viel zu wenig! Bei den Unis ist die Reproduktion der Bildungswege nach wie vor sehr groß, sie bleiben immer noch den Eliten vorbehalten und sind für ArbeiterInnenkinder kaum erreichbar. Verschiebungen finden eher in der Mitte statt, also bei mittleren Schulen und bei den Lehrabschlüssen.
Damit soll jedoch der mittlere Bereich, besonders die Lehre, nicht abgewertet werden, ganz im Gegenteil! Die Lehre ist nach wie vor ein Erfolgsmodell. Wenn ArbeiterInnenkinder eine Lehre absolvieren und so zu FacharbeiterInnen werden, dann ist das auch gut so.
„Bei der Bildung haben Frauen also aufgeholt, am Arbeitsmarkt leider noch nicht, da bedeutet ihre bessere Ausbildung nicht automatisch ein besseres Einkommen.“
Julia Hofmann
Was wir als Arbeiterkammer aber kritisieren, sind die ungleichen Startchancen von Kindern. Kinder aus finanziell benachteiligten Familien dürfen nicht von Anfang an, um ihre Chancen gebracht werden.
KOMPETENZ: Trifft niedrige soziale Mobilität und vererbte Bildung Frauen stärker als Männer?
Julia Hofmann: Lange Zeit besuchten nur wenige Mädchen höhere Schulen oder die Universitäten. Mittlerweile überholen die Mädchen die Burschen sogar bei Abschlüssen. Das bedeutet allerdings leider nicht, dass die Mädchen nachher die besseren Jobs haben. Mädchen entscheiden sich oft für klassische „Frauenberufe“ oder arbeiten später in Branchen, die schlechtere Löhne zahlen. Bei der Bildung haben Frauen also aufgeholt, am Arbeitsmarkt leider noch nicht, da bedeutet ihre bessere Ausbildung nicht automatisch ein besseres Einkommen.
KOMPETENZ: Abschließend noch zu den Auswirkungen der Corona-Krise auf die Bildungschancen: Hat die Pandemie nachweisbar zu Verschlechterungen geführt?
Julia Hofmann: Aus Ungleichheitsperspektive sind geschlossene Schulen sehr problematisch, das wurde in den letzten eineinhalb Jahren oft thematisiert. Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, wie Home Schooling die Bildungsschere weiter öffnet. Befragungen von LehrerInnen haben ergeben, dass sich das Kompetenzniveau insbesondere bei schon vorher benachteiligten Gruppen verschlechtert hat.
Die Gründe dafür sind einerseits fehlende Infrastruktur wie Laptops, Internetzugang, etc., dann natürlich auch beengte Wohnverhältnisse, und eben wiederum Eltern, die keine Unterstützung bieten können. Home Schooling ist nur dann gut möglich, wenn die Eltern – meist ist es die Mutter – Zeit haben und über über genügend formale Bildung verfügen, um die Kinder zu unterstützen.
Die Frage ist auch: Wann und wie werden die Kinder ihre Lernlücken schließen, wer holt mit ihnen den Stoff nach? Das erzeugt zusätzlichen Druck auf diese Kinder, die ja ohnehin von der Situation überfordert sind.
Zur Person
Julia Hofmann arbeitet in der Abteilung Wirtschaftswissenschaft in der Arbeiterkammer Wien. Die promovierte Soziologin forscht schwerpunktmäßig über soziale Ungleichheit und zu (europäischen) Arbeitsbeziehungen.
Broschüre
Viele Errungenschaften des gut ausgebauten Sozialstaats in Österreich sind wieder in Diskussion und umkämpft. Gleichzeitig steigt die Ungleichheit in vielen Lebensbereichen, z.B. bei Wohnen, Gesundheit, Lebenszufriedenheit oder Demokratie. Daher braucht es einen klugen Ausbau des Sozialstaats.
Die Arbeiterkammer Wien hat gemeinsam mit dem Marie Jahoda-Otto Bauer-Institut die Broschüre “Ungerechte Verteilung: Wie Ungleichheit unser Leben prägt” herausgegeben. Die wichtigsten Felder der Ungleichheit in Österreich werden darin aufgezeigt, die zentralen Forderungen der Arbeiterkammer für mehr Verteilungsgerechtigkeit zusammengefasst. Im Mittelpunkt stehen dabei soziale Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle!
Günther Sandner, Boris Ginner (Hrsg.) Emanzipatorische Bildung. Wege aus der sozialen Ungleichheit.
Mandelbaum Verlag.