Paolo Gentiloni will eine rasche Reform des EU-Stabilitätspakts, um die Wirtschaft anzukurbeln und möchte verschuldeten Staaten mehr Spielraum geben.
Den Regierungen der Euro-Staaten stehen 2022 harte Auseinandersetzungen über die Reform des EU-Stabilitätspaktes bevor. Gleich zum Jahreswechsel befeuerte Paolo Gentiloni mit einem neuen Vorschlag den Streit über die Schuldenkriterien.
Der EU-Wirtschafts- und Währungskommissar will den Schuldenabbau künftig für jeden einzelnen Mitgliedstaat maßgeschneidert regeln. „Wir können nicht alle Länder über einen Kamm scheren“, sagte der ehemalige italienische Ministerpräsident. Er verlangt eine „differenzierte Betrachtung“ der Länder mit hohen Defiziten und für jeden Staat die Festlegung „eigener Ziele“ zum Abbau der Schulden. Er könne sich auch vorstellen, den Ländern „mehr haushaltspolitische Spielräume als bisher“ zu gewähren. Mit anderen Worten: Ein hohes Maß an Flexibilität. Einen umfassenden Plan inklusive „wirkungsvoller Instrumente zur Durchsetzung der Haushaltsvorschriften für die EU-Kommission“ will Gentiloni den Regierungen in den nächsten Monaten vorlegen.
Schuldenregeln nie durchgesetzt
Bisher gelten für alle Staaten, deren Verschuldung den Referenzwert von 60 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung überschreitet, dieselben Regeln für den Schuldenabbau. Allerdings wird der Wert nicht eingehalten, was den italienischen Sozialdemokraten beherzt eingestehen lässt: „Seien wir ehrlich, die Schuldenregel haben wir nie durchgesetzt“, sagte er kurz vor Silvester der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Griechenland hat eine Schuldenquote von 210 Prozent, Italien 155, Deutschland 69 und Österreich 82 Prozent. Die durchschnittliche Schuldenquote im Euro-Raum liegt derzeit bei 100 Prozent.
Während der Corona-Krise wurde der Stabilitätspakt ausgesetzt, er soll aber 2023 wieder in Kraft treten. Besonders hoch verschuldete Länder fürchten, dass eine rasche Rückkehr zu strengen Vorgaben dem Aufschwung schaden könnte.
Frankreich, das seit 1. Jänner 2022 turnusmäßig die EU-Präsidentschaft für sechs Monate inne hat, drängt auf eine rasche Reform des Stabilitätspaktes. Ausdrücklich fordert Staatspräsident Emmanuel Macron umfassende Änderungen der europäischen Haushaltsregeln, um den Mitgliedstaaten mehr Spielraum bei Zukunftsinvestitionen zu geben. Macron zeichnet ein klares Bild, wie er sich „Europa im Jahr 2030“ vorstellt. Es gehe darum, ein „neues europäisches Wachstumsmodell“ zu definieren. Dazu werde er am 10. und 11. März einen Sondergipfel veranstalten. Bei dem Treffen soll es „strategische Überlegungen“ geben, wie die Haushaltsregeln in der Europäischen Union angepasst werden können. Angesichts der notwendigen Investitionen in eine grünere und digitalere Wirtschaft „können wir nicht zu einem Haushaltsregelwerk zurückkehren, das vom Beginn der 1990er-Jahre stammt“, sagte Macron kürzlich bei der Vorstellung des Programmes des französischen EU-Vorsitzes. Paris hält die 60-Prozent-Grenze bei der Staatsverschuldung für obsolet und liebäugelt auch mit der Idee, Zukunftsinvestitionen nicht auf die Drei-Prozent-Grenze beim jährlichen Haushaltsdefizit anzurechnen.
Dabei wähnt sich der französische Präsident einig mit Italiens Regierungschef Mario Draghi. Damit wird das Duo für Berlin zur Herausforderung. Denn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich bislang – wohl auch aus Rücksicht gegenüber der FDP – skeptisch zu einem Umbau der Schuldenregeln geäußert.
Pakt flexibler auslegen
Im Macron-Lager hofft man auf einen Kompromiss mit Blick auf das Ampel-Abkommen: „Der Koalitionsvertrag in Deutschland hat uns einer Einigung mit Berlin näher gebracht“. Wenn eine Annäherung zwischen Paris und Berlin gelingt, „kann das eine gute Basis für eine Reform sein, die alle Euro-Staaten mittragen“, heißt es aus dem Élysée.
Viel Zeit bleibt den Franzosen nicht. Im April findet die Präsidentschaftswahl statt und der liberale Politiker Macron will mit der Reform des Stabilitätspaktes im Wahlkampf punkten und sein Amt verteidigen.
In Brüssel arbeitet indessen Wirtschafts- und Währungskommissar Gentiloni an seiner Reform. Den Vorschlag von Klaus Regling, Chef des Euro-Krisenfonds ESM, den Maastrichter Grenzwert von 60 auf 100 Prozent heraufzusetzen, lehnt Gentiloni ab. „Meiner Idee einer differenzierten Betrachtung der Staaten entspricht das gerade nicht.“
Außerdem müssten für eine Änderung der Referenzwerte die EU-Verträge geändert werden, was unrealistisch sei. Gentiloni widersprach auch der Position der deutschen Bundesregierung, wonach der Stabilitätspakt gar nicht geändert werden müsse, weil dieser hinreichend flexibel sei. „Es stimmt, der Pakt lässt sich sehr flexibel auslegen. Als Mitglied verschiedener italienischer Regierungen habe ich das mehrfach erfahren“, bemerkte der Kommissar in mehreren Interviews zum Jahreswechsel süffisant und fügte hinzu: „Aber wenn sich eine flexible Auslegung von Regeln irgendwann nicht mehr von deren kompletter Missachtung unterscheiden lässt, ist etwas schiefgegangen.“ Staaten, die eine gemeinsame Währung haben, sollten sich möglichst auch an gemeinsame Regeln halten, hielt Gentiloni fest.
Wie eine Einigung über realistische Schuldenregeln und die Unterstützung für öffentliche Investitionen in der Euro-Gruppe aussehen könnte, steht derzeit noch nicht fest. Es gibt nach wie vor unterschiedliche Interessen, etwa die südlichen Länder oder die Gruppe der Sparsamen, zu der auch Österreich gehört.
Die Wiener Regierung hält am bisherigen strikten Kurs fest: Am Stabilitätspakt dürfe nicht gerüttelt werden. „Wir wollen keine permanente Schuldenunion“, stellte Kanzler Karl Nehammer unmissverständlich zu Weihnachten gegenüber der deutschen Tageszeitung Die Welt fest. Dabei machte er Berlin das Angebot einer „strategischen Partnerschaft“. Beide Staaten sollten sich „mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass die Aufnahme von Schulden durch die EU-Kommission als Antwort auf eine außergewöhnliche Krise durch die Corona-Pandemie einmalig bleiben muss und nicht zum Einfallstor für noch mehr gemeinsame Schulden und noch mehr gemeinsame Haftung wird“.
Zur Finanzierung der EU-Corona-Hilfen in Höhe von rund 750 Milliarden Euro verschuldete sich die EU-Kommission 2021 erstmalig am Kapitalmarkt. Sollten ein Land oder mehrere Länder ihre Schulden nicht zurückzahlen können, so müssen die restlichen Mitglieder der Währungsunion dafür geradestehen.