ILO prognostiziert anhaltend große Herausforderungen am Arbeitsmarkt

Laut einem Bericht der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) ist weltweit die Zahl der „extreme working poor“, also jener Menschen, die trotz Arbeit sich selbst und ihre Familie nicht ernähren können, durch die Pandemie um acht Millionen gestiegen.
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Besonders betroffen von den ökonomischen Verwerfungen der Corona-Pandemie sind Frauen, junge Menschen und prekär Beschäftigte. Die ILO fordert tiefgreifende Reformen, ein „Zurück zur Normalität“ dürfe nicht das Ziel sein.

Einiges habe in der zweiten Jahreshälfte 2021 auf eine moderate Erholung des globalen Arbeitsmarktes hingedeutet, schreiben die AutorInnen des Reports „World Employment and Social Outlook. Trends 2022“ der International Labour Organization (ILO). Prognosen, die mitunter voreilig optimistisch waren. Mit dem bevorstehenden 3. Corona-Jahr seien die Aussichten auf eine Erholung unsicher und fragil, heißt es in dem Mitte Jänner veröffentlichten Bericht.  

Die Pandemie habe in sämtlichen Ländern quer über den Globus zu großen wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Verwerfungen geführt. Ohne gemeinsame, globale Anstrengungen werde es Jahre dauern, diese Schäden zu reparieren, warnt ILO-Generaldirektor Guy Ryder. Die Aussichten für die kommenden Jahre hätten sich im Vergleich zur Prognose vom Juni 2021 (dem letzten Trends-Bericht) „substantiell verschlechtert“.

Ärmere Staaten besonders betroffen

Rückblickend stellen die AutorInnen fest, dass sich Länder und Regionen höchst unterschiedlich von den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Corona-Krise erholten. Staaten, die bereits vor der Krise zu den wirtschaftlich privilegiertesten zählten, seien besser durch die vergangenen zwei Jahre gekommen als Länder mit geringem oder mittlerem Einkommen (low- and middle-income countries). Entscheidend für die ungleiche Entwicklung sind laut AutorInnen unterschiedliche Impfraten, Vermögens- und Einkommensungleichheit innerhalb der betreffenden Länder und fehlende soziale Sicherungssysteme.

Länder mit einem nur schwach ausgeprägten Sozialstaat bekamen die Auswirkungen der Krise besonders zu spüren. Die AutorInnen sprechen von einem „vicious circle“, einem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Armut und sinkender Nachfrage. Im Ergebnis wurden Millionen von Kindern in die Armut gedrängt, 2020 mussten zusätzliche 30 Millionen Menschen von weniger als 1,90 $ pro Tag leben. Auch die Zahl der „extreme working poor“ – Menschen, die trotz Arbeit sich selbst und ihre Familie nicht ernähren können – stieg um acht Millionen.

Besonders betroffen von diesen Entwicklungen waren Lateinamerika, Staaten der Karibik und Südostasien. Europa sei vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Auch in Österreich zeichnet sich derzeit eine Erholung ab. Im Frühjahr 2020, zu Beginn der Pandemie, erreichte die Zahl der Erwerbsarbeitslosen hierzulande mit 560.000 arbeitslos gemeldeten Menschen (inklusive SchulungsteilnehmerInnen) einen Höchststand. Erst mit Sommer vergangenen Jahres bewegte man sich wieder im Bereich des Vorkrisenniveaus. Ende 2021 waren es dann noch 402.378 Arbeitslose bzw. SchulungsteilnehmerInnen, knapp 23 Prozent weniger als im Vergleich zum Vorjahresmonat, und rund 5.000 weniger als im Dezember 2019.

Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit in Österreich

Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) sprach unlängst von einer „Arbeitsmarktlage, die so gut ist wie seit ungefähr zehn Jahren nicht mehr“, AMS-Vorstand Johannes Kopf von „sensationellen“ Prognosen, „wie in den Siebzigern“. Vergessen wird hierbei oft, dass nicht alle gleichermaßen von der Erholung am Arbeitsmarkt profitieren. Zwar scheint das Vorkrisenniveau erreicht, doch lässt sich ein stetig größer werdender Sockel an Langzeitarbeitslosen beobachten. Ende Dezember 2021 waren mit 115.743 Betroffenen um 20.877 Personen mehr in Langzeitarbeitslosigkeit als im Vergleichszeitraum 2019.

Eine zusätzliche Belastung für Wirtschaft und Arbeitsmarkt stellen laut ILO-Bericht Unsicherheit und Instabilität des globalen Handels dar. Steigende Rohstoffpreise, unterbrochene Lieferketten sowie mehr und mehr Onlinehandel ließen auf ein unsicheres „Business-Klima“ schließen. Eine bevorstehende „Rekonfiguration“ globaler Handels- und Produktionsbeziehungen könnte wiederum starke, aber im Detail unvorhersehbare Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben.

„Seit Beginn der Pandemie ist es Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen am schlimmsten ergangen, und sie sind es, die sich am langsamsten erholen“

World Employment and Social Outlook. Trends 2022

Diese Entwicklungen berücksichtigend prognostiziert die ILO ein sattes Defizit bei den global geleisteten Arbeitsstunden, das im Vergleich zum vierten Quartal 2019 etwa 52 Millionen Vollzeitstellen (bei einer 48 Wochenstunde) entspricht. Die weltweite Arbeitslosenrate werde damit „bis mindestens 2023“ über jener von 2019 liegen. Auch hier sei zu beobachten, dass sich ökonomisch privilegierte Länder schneller erholen: „Seit Beginn der Pandemie ist es Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen am schlimmsten ergangen, und sie sind es, die sich am langsamsten erholen“, resümieren die AutorInnen des Berichts.

ILO will Problem an den Wurzeln packen

Doch nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb von Staaten seien die Unterschiede beträchtlich. Auch in sogenannten high-income-countries seien Frauen, junge Menschen und prekär Beschäftigte besonders von den ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Pandemie betroffen. Es bestehe die Gefahr, dass es sich hierbei um keine vorübergehenden Phänomene handele; werde nicht entsprechend gegengesteuert, könnten sich diese Entwicklungen strukturell verfestigen, warnt die ILO.

Daher ist es laut ILO wichtig, den verheerenden Auswirkungen der Krise auf mehreren Ebenen und mittels globaler Solidarität zu begegnen. Das Credo dürfe nicht lauten, zu einem „normalen“ Zustand, ähnlich den vorpandemischen Zeiten, zurückkehren zu wollen. Denn strukturelle Defizite am Arbeitsmarkt, Formen prekärer und informeller Beschäftigung sowie Ungleichheiten innerhalb und zwischen Staaten haben bereits vor Pandemiebeginn bestanden. Es gehe darum, die „Wurzeln“ zu adressieren.

Bereits im Juni 2021 einigten sich die 187 ILO-Mitgliedsstaaten daher auf den „Global Call to Action for a Human-Centred Recovery from the COVID-19 Crisis”. Darin fordern die UnterzeichnerInnen den gleichen Zugang zu Corona-Vakzinen, globale Umschuldungen, umfassende soziale Sicherung für ArbeitnehmerInnen sowie eine Transformation hin zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft.

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