EU: Neue Regeln für Plattformarbeit

Scheinselbständigkeit, schlechte Entlohnung, Umgehung des Arbeitsrechts – die Plattformarbeit unterbietet alle Standards. Apps und Algorithmen kontrollieren die Beschäftigten. Um deren Arbeitsbedingungen zu verbessern und ihre Rechte zu schützen, ist nun eine europäische Richtlinie in Vorbereitung.

Immer mehr Dienstleistungen werden über Online-Plattformen vermittelt und abgewickelt. Von den in den Städten allgegenwärtigen Lieferdiensten und FahrradbotInnen über Reinigungskräfte und ClickworkerInnen bis hin zu ÜbersetzerInnen, NachhilfelehrerInnen und Kreativschaffenden, das Geschäftsmodell breitet sich mehr und mehr aus.

Auf den ersten Blick bietet diese Arbeitsorganisation scheinbar Vorteile für beide Seiten. Für die Beschäftigten sind die Einstiegsbarrieren meist niedrig: Für Lieferservices benötigt man z.B. ein Fahrrad oder einen Führerschein, aber keine Ausbildung oder Sprachkenntnisse.

Die meisten Plattformen verstehen sich allerdings als reine Vermittler, nicht als Arbeitgeber. Auf diesem Weg können sie das geltende Arbeitsrecht umgehen: Sie finanzieren sich über Provisionen und kommen um die Zahlung von Sozialabgaben und KV-Löhnen herum. Damit liegt das gesamte Risiko bei den ArbeiterInnen. Sie sind nicht fest angestellt, sondern selbständig – was in Wahrheit bedeutet: scheinselbständig, da da sie Weisungen von der Plattform bekommen und daher de facto wie ArbeitnehmerInnen tätig sind.“

Gegen diese Scheinselbständigkeit bringen Gewerkschaften und ArbeitnehmerInnen-Vertretungen schon seit Jahren massive Bedenken vor, da die zumeist international agierenden Plattformen das Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht umgehen: „Ein neuer rechtlicher Rahmen auf EU-Ebene ist längst überfällig!“ betont Sophia Reisecker, Internationale Sekretärin in der Gewerkschaft GPA. Sie kritisiert vehement die Arbeitsbedingungen der Plattformbeschäftigten: „Kein Anspruch auf Urlaub oder bezahlten Krankenstand, kein Kündigungsschutz, Überwachung während der Arbeitszeiten – die Liste ist lang! Das Geschäftsmodell vieler Plattformbetreiber fällt hinter alle arbeitsrechtlichen Standards zurück und beruht darauf, Kosten durch prekäre Arbeitsbedingungen zu sparen und selbst daran gut zu verdienen.“

Da es notwendig wurde, die Plattformarbeit in Europa zu regulieren, legte die EU-Kommission 2021 einen Vorschlag für eine Richtlinie für Plattform-ArbeiterInnen auf den Tisch. Ende 2022 hat sich der Sozialausschuss des EU-Parlaments auf eine gemeinsame Position zu den neuen Regelungen geeinigt. Nun verhandeln Parlament, Kommission und Ministerrat im Trilog, Anfang Februar wird es voraussichtlich zur Abstimmung im Plenum des europäischen Parlaments kommen.

Stark wachsender Sektor

Die Zahl der Plattformbeschäftigten ist in den letzten Jahren schnell gewachsen, noch dazu war die Pandemie ein Booster für Online-Services aller Art. Laut EU-Kommission wird sich die Zahl der Menschen, die Aufträge via Apps annehmen, von derzeit rund 28 Millionen europaweit auf 43 Millionen Menschen bis 2025 erhöhen. Fast alle dieser ArbeiterInnen – die Kommission schätzt sie auf 90 Prozent – arbeiten derzeit formal als Selbstständige.

„Die Rechte dieser Millionen Menschen müssen wir schützen, sie verdienen faire Arbeitsbedingungen und eine soziale Absicherung!“ fordert Reisecker. Abhängigkeitsverhältnisse brauchen Regulierungen, also Mindeststandards und Schutzbestimmungen. „Viele dieser ArbeiterInnen nehmen Apps und Algorithmen mittlerweile als ChefIn wahr, die ihnen die Arbeit zuteilt oder sie sogar kündigt. Wir wollen jedoch, dass die Verantwortung für den Schutz von Beschäftigten bei den ArbeitgeberInnen liegt. Und wir wollen natürlich Zugangsrechte für Gewerkschaften, damit wir die Beschäftigten informieren und unterstützen können.“

Für die Plattformen hingegen ist die Provisionsbasis – d.h. die finanzielle Beteiligung an der Vermittlung – ein ein sehr gutes Geschäft: Sie konnten ihre Umsätze in der EU um 500 Prozent in den vergangenen fünf Jahren steigern – zuletzt auf 20 Milliarden Euro im Jahr 2020. Entsprechend laufen die LobbyistInnen und Interessenverbände der Plattformen in Brüssel gegen die geplante Richtlinie Sturm und behaupten, sie würde die Arbeitsbedingungen verschlechtern anstatt verbessern. „Noch schlechtere Arbeitsbedingungen für die Plattformbeschäftigten als jetzt, das wäre nur schwer möglich“, kommentiert Reisecker solche Aussagen.

Beweislastumkehr

Was verbessert die Richtlinie nun? Der Entwurf sieht vor, dass bei PlattformarbeiterInnen rechtlich vermutet wird, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen als ArbeitnehmerInnen anzusehen sind, mit allen geltenden Rechten. Das Kernstück dabei ist die sog. Beweislastumkehr: Bisher mussten die Beschäftigten vor Gericht nachweisen, dass sie in Wahrheit Angestellte sind und nicht Selbständige. In Zukunft soll nun das Gegenteil gelten: Die Plattformen müssen beweisen, dass sie mit echten Selbstständigen arbeiten.

„Nur so lässt sich das tatsächliche Verhältnis der Beauftragung bestimmen“, erklärt Reisecker. „Und diejenigen, die professionell als Selbstständige arbeiten und das auch weiterhin tun wollen, werden durch die Richtlinie nicht in die abhängige Beschäftigung gezwungen. Arbeitgeberverbände, die das behaupten, liegen falsch.“

Ein weiterer wichtiger Fortschritt im Richtlinien-Entwurf betrifft das „algorithmische Management“. Auch wenn sich die Plattformen vorgeblich als Arbeitsvermittler definieren – das Verhältnis zwischen KundInnen und PlattformarbeiterInnen bestimmen sie sehr wohl, oft auch äußerst detailliert. Die Arbeitsleistung wird streng durch Algorithmen kontrolliert und aufgezeichnet. Die neue Richtlinie würde dies eingrenzen: Permanente Überwachung, undurchsichtige Ratingsysteme, kurzfristige Sperrungen von Beschäftigten oder Ausschluss ohne Erklärung, all diese arbeitsrechtliche Willkür würde endlich in Schranken gewiesen.

Faire Entlohnung und Kollektivvertrag

Auch Evelyn Regner, Vize-Präsidentin des EU-Parlaments, Gewerkschafterin und Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, zeigt sich zufrieden mit dem Entwurf: „Mit Hilfe dieser neuen Richtlinie wollen wir in Zukunft sicherstellen, dass die Einstufung der Beschäftigten auf deren tatsächlichen Arbeitsverhältnissen und auf Transparenz beruht. Bei Menschen, die über Plattformen beschäftigt sind, soll in Zukunft angenommen werden, dass sie als ArbeiterInnen agieren. Wenn Plattformen dieser Annahme widersprechen, müssen die Plattformen selbst – und nicht die ArbeiterInnen – beweisen, dass es sich um eine selbständige Tätigkeit handelt. Diese starke Position gilt es jetzt gegenüber den Mitgliedsstaaten zu verteidigen.“

Ebenfalls in der neuen Richtlinie vorgesehen sind Zugangsrechte für Gewerkschaften. „Dieser Punkt ist für uns klarerweise ganz zentral“, betont Reisecker. Das würde den oft vereinzelt arbeitenden Beschäftigten eine bessere Kommunikation untereinander ermöglichen, sowie auch mit ihrer Interessenvertretung. Sie erhalten damit Zugang zu Informationen und Unterstützung. Nur auf diesem Weg wird man erreichen können, dass mittels Kollektivverträgen und Tarifverhandlungen endlich angemessene Löhne bezahlt werden. „Denn schließlich geht es uns als GewerkschafterInnen um eine faire Entlohnung und natürlich auch um die Möglichkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren und KV-Verhandlungen zu führen.“

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