Was wir von Island für eine zukunftsfähige Arbeitswelt lernen können

86% der isländischen Arbeitnehmer:innen haben entweder bereits kürzere Arbeitszeiten oder ein Recht darauf.
Foto: Mumemories, Adobe Stock

Der technologische Fortschritt hat die Produktivität pro Arbeitsstunde deutlich gesteigert – die vielfachen Anwendungsmöglichkeiten von Automatisierung und KI werden dies fortsetzen. Diese Entwicklung wurde bisher primär in Unternehmensgewinne kanalisiert. Es ist höchste Zeit, sie auch für eine Entlastung von Arbeitnehmer:innen zu nutzen. Das ist nicht nur fair, sondern auch ökonomisch sinnvoll.

Das isländische Erfolgsmodell: Mehr an Lebensqualität und Produktivität

Island hat vorgemacht, wie eine moderne Arbeitszeitpolitik aussehen kann. 2014 startete die Stadt Reykjavík ein wegweisendes Pilotprojekt: Die Arbeitszeit wurde bei vollem Lohnausgleich reduziert. Dabei entwickelten sich zwei Versuchsreihen:

Ab 2015 begann der Reykjavík-Versuch mit zunächst 66 und schließlich 2.500 Beschäftigten. 2017 startete zusätzlich ein staatlicher Versuch mit rund 440 Beschäftigten in verschiedenen Behörden. Insgesamt waren über 100 verschiedene Betriebe beteiligt – von Büros über Kindergärten bis hin zu Krankenhäusern und Polizeistationen. Die Arbeitszeit wurde durch kürzere oder weniger Arbeitstage von 40 auf 35-36 Stunden pro Woche reduziert. Die Ziele waren klar definiert: Steigerung der Produktivität und Verbesserung der Work-Life-Balance. Jeder Betrieb entwickelte dabei eigene Strategien zur Umsetzung, etwa durch optimierte Arbeitsabläufe oder kürzere Besprechungen. Die Ergebnisse waren so überzeugend, dass in den Jahren 2019-2021 neue Kollektivverträge mit verkürzten Arbeitszeiten ausgehandelt wurden. Heute haben 86% der isländischen Arbeitnehmer:innen entweder bereits kürzere Arbeitszeiten oder ein Recht darauf.

Vorreiter:innen in Österreich: eMagnetix (OÖ)

Das Beispiel der oberösterreichischen Online-Marketing-Agentur eMagnetix zeigt eindrucksvoll, wie Arbeitszeitverkürzung auch in Österreich funktionieren kann. Die Firma führte 2018 die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ein. Die Ergebnisse sind bemerkenswert: Produktivität und Umsatz erhöhten sich. Die Zahl der Mitarbeiter:innen hat sich mehr als verdreifacht und die Fluktuation sank massiv, was auch Kosten sparte. Die Gründe dafür sind nachvollziehbar: An einem guten Arbeitsplatz mit guten Arbeitsbedingen bleibt man gern. Diese Erfolge basieren auf einer effizienteren Arbeitsorganisation und der Eliminierung von „Zeitfressern“. Die wissenschaftliche Evaluierung durch die XIMES GmbH bestätigt: Beschäftigte können ihre Arbeitsaufgaben ohne erhöhte Belastung erledigen und verfügen nach der Arbeit noch über Energiereserven für Familie, Hobbys und Sport.

Individuelle Lösungen sind gut, kollektive Lösungen sind besser!

Das österreichische Beispiel ermutigt, denn es zeigt: Arbeitszeitverkürzung funktioniert nicht nur in diesem fernen Island, sondern auch bei uns. Derartige Einzelprojekte hängen aber stark vom Willen, Mut und nicht zuletzt Geschick ihrer Entscheidungsträger:innen ab. Als Gewerkschaften kämpfen wir aber nicht nur für Verbesserungen in einzelnen Unternehmen, sondern für alle Arbeitnehmer:innen.

Deshalb ist klar: Es braucht kollektive Lösungen mit systemischen Ansätzen und begleitenden Maßnahmen. Nur so kann aus einer Arbeitszeitverkürzung der größtmögliche Nutzen für alle herausgeholt werden. Hier sind nicht nur Sozialpartner:innen gefordert, sondern auch der Gesetzgeber. Es müssen verbindliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die diese Umstellung aktiv fördern und unterstützen. Die österreichische Solidaritätsprämie ist ein derartiges Beispiel für die Förderung von Arbeitszeitreduktion, das leider viel zu selten genutzt wird.

Arbeitszeitverkürzung: ein vielseitiges Werkzeug

Ist die Arbeitszeitverkürzung richtig angelegt, hat sie das Potenzial eine Reihe an Problemen zu adressieren:

  • Fachkräftemangel: Attraktivere Arbeitsbedingungen ziehen mehr Bewerber:innen an, die einem oder einer guten Arbeitgeber:in auch über viele Jahre verbunden bleiben. Die damit reduzierte Personalfluktuation spart Rekrutierungs- und Einarbeitungskosten.
  • Effiziente Nutzung der Zeit: Durch eine kluge Planung der Arbeitszeitverkürzung kann die zur Verfügung stehende Zeit besser genutzt werden, indem man „Zeitfresser“ eliminiert und Prozesse effizienter anlegt.
  • Gesundheit fördern – Kosten sparen: Eine bessere Work-Life-Balance wirkt sich nicht nur positiv auf die Gesundheit aus. Sie reduziert in weiterer Folge auch die Fehlzeiten, weil mehr Freizeit mehr Erholung ermöglicht.
  • Hebel der Gleichstellungspolitik: Eine Arbeitszeitverkürzung verteilt nicht nur die Arbeitszeit im Betrieb fairer auf mehr Kopfe, sondern auch die unbezahlte Arbeit zuhause. Das hilft Frauen, aus der Teilzeitfalle herauszukommen. Dazu müssen Arbeitgeber:innen auch mehr Vollzeitstellen anbieten, was viele derzeit nicht in ausreichendem Maß tun.

Das isländische Modell zeigt, dass eine gut geplante Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich sowohl die Produktivität des Unternehmens als auch die Lebensqualität der Beschäftigten steigern kann.

Fazit: Zeit für den nächsten Schritt

Die Erfahrungen aus Island, Österreich und anderen Ländern zeigen: Eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich ist nicht nur machbar, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll. Sie steigert die Produktivität, verbessert die Gesundheit der Beschäftigten und trägt zur Gleichstellung bei.

Für eine erfolgreiche Umsetzung braucht es:

  • Politischen Willen zu systemischen Veränderungen
  • Starke Sozialpartnerschaft und Mitsprache von Arbeitnehmer:innen im Betrieb
  • Bereitschaft zum Trial-and-Error
  • Öffentliche Unterstützung und Förderung

Die Zeit ist reif für eine breite gesellschaftliche Debatte über moderne Arbeitszeitmodelle, die sowohl den Bedürfnissen der Beschäftigten als auch den Anforderungen einer zukunftsfähigen Wirtschaft gerecht werden.

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