Sozialexperte Thomas Leoni vom WIFO erklärt im Interview, warum arbeitsbedingte Erkrankungen in Österreich mittlerweile signifikant höhere Kosten verursachen, als Arbeitsunfälle und wie eine erfolgreiche Wiedereingliederung erkrankter Personen in die Betriebe gelingen kann.
KOMPETENZ: Im Rahmen der Europäischen Woche für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit haben Sie eine neue WIFO-Studie präsentiert, aus der hervorgeht, dass arbeitsbedingte Erkrankungen mittlerweile weit höhere Kosten verursachen, als Arbeitsunfälle.
LEONI: Das ist richtig. Von den 9,9 Milliarden Euro Gesamtkosten pro Jahr sind 8,1 Milliarden auf arbeitsbedingte Erkrankungen zurückzuführen. Das sind 82 Prozent der Kosten. Wir sehen, dass die Zahl der Unfälle am Arbeitsplatz rückläufig ist und auch die Kosten, die durch Arbeitsunfälle entstehen, tendenziell niedriger geworden sind. Der Großteil der negativen Folgen und Folgekosten entsteht aktuell durch arbeitsbedingte Erkrankungen.
KOMPETENZ: Wie kann man die Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen aufschlüsseln?
LEONI: Nur etwa zehn Prozent der Gesamtkosten entfallen auf medizinische Behandlungen oder Aufwendungen für Pflege. Die Folgekosten im Lebensverlauf der Menschen sind viel gravierender: Zum einen geht es um entgangenes Einkommen am Arbeitsplatz und in den Haushalten. Zum zweiten erleiden Betroffene teils massive Wohlfahrtseinbußen durch verlorene Lebensjahre und durch Einschränkungen ihrer Lebensqualität. Diese beiden Komponenten sind zwar sehr schwer quantifizierbar aber zweifelsohne vorhanden.
KOMPETENZ: Wer trägt die Hauptlast dieser Kosten?
LEONI: Die Hauptlast tragen die Beschäftigten, nämlich rund 60 Prozent der Kosten, die aufgrund arbeitsbedingter Erkrankungen entstehen. Dabei geht es einerseits um akute Einkommensverluste aber auch um Einbußen, die Betroffene über einen langen Zeitraum oder sogar für das restliche Erwerbsleben erleiden – vor allem in Fällen, in denen sie nach einer längeren Erkrankung tatsächlich nicht mehr arbeiten gehen können. Auch Einschränkungen im Haushalt können erhebliche Kosten verursachen.
„Die moderne Arbeitswelt hält für die Beschäftigten eine Reihe von starken psychosozialen Risiken parat.“
Thomas Leoni
KOMPETENZ: Wie kann man dieser Entwicklung gegensteuern?
LEONI: Zum einen wäre Prävention wichtig: es gilt arbeitsbedingte Unfälle und Erkrankungen zu vermeiden. Dabei geht es schon längst nicht mehr nur um körperliche Belastungen oder Gefahrenstoffe. Die moderne Arbeitswelt hält für die Beschäftigten eine Reihe von starken psychosozialen Risiken parat. Es geht um den Arbeitsdruck und die Handlungsspielräume, die Beschäftigte haben, um damit umzugehen. Es geht aber auch um andere Aspekte der Organisation und Gestaltung von Arbeit, einschließlich der Unterstützung und Wertschätzung durch KollegInnen und Vorgesetzte.
Das Bewusstsein darüber, dass psychosoziale Faktoren eine große Rolle spielen und es nicht nur um die ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes geht, wächst. Ein mitarbeiterorientierter Arbeitsplatz enthält ein gewisses Maß an Selbstbestimmung, auch was die Arbeitsrhythmen und Pausen angeht.
Unsere Studie zeigt aber auch, dass die konsequente Reintegration erkrankter Menschen in den Arbeitsmarkt wichtig wäre. Die Abwesenheit dieser Personen vom Arbeitsmarkt macht einen relevanten Anteil des gesamten Kostenvolumens aus, deshalb müssen wir sicherstellen, dass Betroffene nicht komplett aus dem Arbeitsleben herausfallen.
KOMPETENZ: Warum ist die Wiedereingliederung so wichtig?
LEONI: Wenn jemand so schwerwiegend erkrankt ist, dass sie oder er längerfristig aus dem Arbeitsprozess herausfällt, bringt das Nachteile für alle Beteiligten: ArbeitnehmerInnen erleiden Einkommenseinbußen und möglicherweise den Verlust sozialer Anerkennung als individuelle Nachteile. Die Betriebe verlieren menschliche Ressourcen: Kompetenzen und Wissen. Gesamtgesellschaftlich gesehen werden Betroffene plötzlich zu Leistungsbeziehern statt zu Einzahlern.
KOMPETENZ: Welche Form der Wiedereingliederung ist am sinnvollsten?
LEONI: Es kann verschiedene Formen der Wiedereingliederung in den Job geben. Sinnvoll ist alles, was dazu beitragen kann, dass Personen trotz Krankheit oder zeitweiliger Abwesenheit beschäftigt bleiben und sich graduell an ihren Arbeitsplatz zurückbewegen können.
„Die meisten Menschen sind nach einer schweren Krankheit nicht von einem Tag auf den anderen wieder voll leistungsfähig, hier macht es Sinn ein Teilkrankengeld zu beziehen und in Teilzeit in den Job zurückzukehren.“
Thomas Leoni
KOMPETENZ: Wie funktioniert diese schrittweise Rückkehr am besten?
LEONI: Es muss ein Eingliederungsmanagement geben, das sicherstellt, dass Personen nach einem längeren Krankenstand weiterhin in ihrem Job bleiben können. Als taugliches Instrument hat sich auch die seit 2017 bestehende Wiedereingliederungs-Teilzeit erwiesen. Die meisten Menschen sind nach einer schweren Krankheit nicht von einem Tag auf den anderen wieder voll leistungsfähig, hier macht es Sinn ein Teilkrankengeld zu beziehen und in Teilzeit in den Job zurückzukehren.
Die Wiedereingliederungs-Teilzeit kann erst ab einem Krankenstand von sechs Wochen beantragt werden. Für kürzere Abwesenheiten und leichtere Erkrankungen braucht es modifizierte Lösungen um das System nutzbar zu machen.
KOMPETENZ: Wann tun sich ArbeitnehmerInnen besonders schwer, in ihren Job zurückzukehren?
LEONI: Bei psychischen Erkrankungen ist es besonders schwierig, die Menschen in Beschäftigung zu halten. Das negative Stigma derartiger Erkrankungen gehört beseitigt, das Angebot sollte so angepasst werden, dass Beschäftigte nach Krankenständen mit entsprechenden Unterstützungsangeboten ausgestattet werden und rasch wieder in ihren Job zurückkommen können.
KOMPETENZ: Wo sehen Sie Hindernisse?
LEONI: Oft spießen sich die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Akteure miteinander, beispielsweise weil es für einen einzelnen Betrieb ökonomisch günstiger sein kann, sich – bei ausreichender Verfügbarkeit – nach neuen Beschäftigten umzusehen. Auch die Abstimmung zwischen den Stakeholdern (Unternehmen, Beschäftigte, unterschiedliche Träger des Sozialsystems) bringt große Herausforderungen mit sich.
KOMPETENZ: Wo könnte man noch ansetzen?
LEONI: Das betriebliche Eingliederungsmanagement müsste ausgebaut werden. Das derzeit praktizierte „Fit-2-work“ Programm ist ein sehr unverbindliches Instrument mit einem freiwilligen und nicht gut verzahnten Beratungsangebot für Unternehmen und Beschäftigte. Hier bräuchte es verbindlichere Angebote zur Wiedereingliederung, die bereits frühzeitig ansetzen und möglichst stark auf die individuellen Bedürfnisse eingehen. Solche Modelle könnten auch die Kooperation zwischen Unternehmen und Beschäftigten stärken.
KOMPETENZ: Was wären die Vorteile?
LEONI: Heute setzen viele Maßnahmen, wie jene der beruflichen oder medizinischen Rehabilitation spät an, oft zu einem Zeitpunkt zu dem die betreffenden Personen schon sehr lange im Krankenstand oder bereits arbeitslos sind. Viele Menschen bleiben dann im Rehabilitationsgeld „hängen“ und schaffen die Rückkehr in den Arbeitsmarkt nicht mehr.
Es wäre wichtig, möglichst früh einzugreifen und Unterstützungsangebote zu geben. Je nach Situation können Kombinationen aus medizinischen, beruflichen und sozialen Maßnahmen erforderlich sein. Auch die Selbstständigen bräuchten Unterstützung und sollten in ein derartiges System hineingeholt werden. Wenn die Gesellschaft möchte, dass alle bis 65 Jahre arbeitsfähig bleiben, dann müssen derartige Programme an Bedeutung zunehmen.
Link zur Studie „Die Kosten arbeitsbedingter Unfälle und Erkrankungen in Österreich“ von Thomas Leoni, Anna Brunner und Christine Mayrhuber.
Zur Person:
Thomas Leoni lebt in Wien, ist 45 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder im Teenageralter. In seiner Freizeit geht der Experte für Arbeitsmarkt- und Sozialthemen gerne in die Berge.