Wir können froh sein, dass es den Sozialstaat gibt. Er finanziert sich aber nicht von selbst. Ein wesentlicher Teil der Sozialleistungen wird in Österreich aus den Lohnnebenkosten finanziert.
Wer schon einmal im Auslandsurlaub krank geworden ist, weiß das österreichische Gesundheitssystem in der Regel danach sehr zu schätzen. Wer Freunde in Deutschland hat, die bereits in Rente sind, stellt fest, dass die Pensionen in Österreich deutlich höher sind. Und wer schon einmal von Arbeitslosigkeit betroffen war, konnte sich auf das Arbeitslosengeld verlassen. Hand aufs Herz: Österreichs Sozialstaat ist – bei allen Mängeln und Verbesserungsbedarf – einer der besten der Welt. Er will aber auch finanziert werden.
Das Geld für Gesundheitsleistungen, Pensionen und Arbeitslosenunterstützung kommt zu einem gewaltigen Teil aus den sogenannten Lohnnebenkosten. Je nach Einkommen des oder der Beschäftigten muss der Arbeitgeber Beiträge zur Sozialversicherung zahlen. Die Wirtschaftskammer fordert jetzt lauthals eine Kürzung der Lohnnebenkosten. Dabei wird sie nicht müde, das Märchen von ‚mehr Netto vom Brutto‘ zu erzählen. „Tatsache ist, dass durch eine Senkung der Lohnnebenkosten den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern kein Cent mehr in der Tasche bleibt“, sagt Barbara Teiber, Vorsitzende der Gewerkschaft GPA: „Wann immer Lohnnebenkosten gesenkt wurden, kam das ausschließlich den Unternehmen zugute. Das Geld fehlt aber dann im Sozialstaat.“
Weniger Beiträge heißt weniger Leistungen
„Die Senkung des Krankenversicherungsbeitrags der Arbeitgeber um auch nur 0,1 Prozentpunkte würde der Gesundheitskasse etwa 140 Millionen Euro kosten. Wir könnten dann 350 Kassenarztstellen weniger zur Verfügung stellen“, sagt einer, der es wissen muss: David Mum vertritt Arbeitnehmerinteressen im Verwaltungsrat der ÖGK. Der GPA-Chefökonom und Sozialversicherungsexperte erklärt: „Es gäbe zwei Möglichkeiten mit einer Senkung des Beitrags umzugehen: Höhere Steuern für alle, also auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, oder weniger Leistungen von der ÖGK – also Kassenärzt:innen, Heilbehelfe und vieles mehr.“
Einen ähnlichen Befund stellt Agnes Streissler-Führer. Die stellvertretende Bundesgeschäftsführerin der Gewerkschaft GPA ist Verwaltungsratsmitglied der Pensionsversicherungsanstalt. Auf KOMPETENZ-Anfrage sagt sie: „Wenn der Pensionsbeitrag der Arbeitgeber gekürzt wird, dann ist unser Pensionssystem langfristig nicht finanzierbar. Das macht es Parteien einfach, die jetzt schon das Antrittsalter erhöhen oder Pensionsbezüge senken wollen. Auf kurz oder lang wären es die Versicherten, die draufzahlen.“
„Wann immer Lohnnebenkosten gesenkt wurden, kam das ausschließlich den Unternehmen zugute. Das Geld fehlt aber dann im Sozialstaat.“
Barbara Teiber
Beim Beitrag in die Arbeitslosenversicherung ist bereits jetzt Not am Mann, findet Robin Perner. Der Volkswirt aus der GPA-Grundlagenabteilung ist Experte für die Arbeitsmarkt und befasst sich mit der Finanzierung des Arbeitsmarktservice (AMS): „Mit 1. Jänner 2024 wurden bereits die Beiträge gesenkt. Damit muss das AMS jetzt bereits auf Rücklagen zugreifen, wenn es die vom Arbeitsminister definierten Schwerpunktthemen wie Jugendliche mit Behinderung, Frauen am Arbeitsmarkt, Ökologisierung oder Deckung des Fachkräftebedarfs angehen will.“ Er sieht „keinen weiteren Spielraum“ für Beitragssenkungen in diesem Bereich. Im Gegenteil. Für eine Qualifizierungsoffensive im Bereich Digitalisierung und Green Jobs bräuchte es eigentlich 100 bis 150 Millionen Euro zusätzlich. Wie sich der Bundeskanzler die Gegenfinanzierung vorstellt, hat er bereits bekanntgegeben: Nehammer möchte das Arbeitslosengeld von momentan 55 Prozent auf unter 50 Prozent des Letzteinkommens kürzen. Vielen Arbeitslosen reicht die auch im europaweiten Vergleich niedrige Ersatzrate aber jetzt schon nicht zum Leben.
Absicherung bei Arbeitsunfällen und Insolvenz
Neben der Kranken-, Pensions- und Arbeitslosenversicherung zählen zu den Lohnnebenkosten auch noch die Beiträge zur Unfallversicherung und dem Insolvenzentgeltfonds. Hinter diesem schwierigen Wort verbirgt sich ein wichtiges Prinzip: Geht eine Firma pleite, werden aus diesem Fonds die ausständigen Löhne und Gehälter bezahlt. Dass eine Kürzung hier dramatische Folgen haben könnte, erklärt sich von selbst.
„Die Wirtschaftskammer fordert zwar eine Senkung der Lohnnebenkosten, sagt aber nicht dazu, was genau gesenkt werden soll.“
Barbara Teiber
Auch Familienleistungen und der Wohnbauförderungsbeitrag werden in die Lohnnebenkosten eingerechnet. In Zeiten hoher Teuerung und ständig steigender Mieten wichtige Finanzierungstöpfe. GPA-Vorsitzende Teiber bringt noch ein weiteres Argument für die Wichtigkeit der Lohnnebenkosten ins Spiel: „Internationale Konzerne, die sich mit absurden Konstruktionen vor der Steuerpflicht in Österreich drücken, müssen trotzdem Abgaben leisten – und zwar die Lohnnebenkosten.“ Sobald ein Konzern nämlich Beschäftigte in Österreich hätte, würden diese automatisch eingehoben, erklärt die GPA-Vorsitzende. Würde man diese weiter senken, würde man weltweite Multis noch weiter aus der Verantwortung entlassen.
Wirtschaftskampagne von Unehrlichkeit getragen
„Die Wirtschaftskammer fordert zwar eine Senkung der Lohnnebenkosten, sagt aber nicht dazu, was genau gesenkt werden soll. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn dann müsste sie auch sagen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer künftig weniger Leistungen erhalten sollen. Es ist aber schlicht unehrlich, das nicht dazuzusagen“, ist sich die Gewerkschafterin sicher.
Ihr schweben andere Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft vor: „Wir haben als Gewerkschaftsbund schon vor Monaten einen Plan für Standort und Beschäftigung vorgestellt. Es braucht Investitionen in einen Ausbau der Stromnetze und der erneuerbaren Energie, um die Klimawende zu schaffen. Die Schwellenwerte für Ausschreibungen von Dienstleistungen und Bauaufträgen bei öffentlichen Vergaben könnten angehoben werden – so könnte man öfter auf regionale Anbieter zurückgreifen.“ Diese und weitere Forderungen wurden der Regierung von Gewerkschaftsseite überreicht. „Aber auf konkrete Maßnahmen warten wir immer noch“, so Teiber.