Europa wird sozial sein, oder es wird nicht sein

Auch digitale Arbeitgeber müssen
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Unter dieser Prämisse lässt sich die Zukunft der EU, in Anbetracht der bevorstehenden aktuellen und fundamentalen Herausforderungen, sehr gut beschreiben. Die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise sind vor allem für die arbeitenden Menschen in Europa nach wie vor deutlich spürbar.

Die gescheiterte Krisenbewältigungspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten hat zu einem Abbau der Lohn- und Sozialstandards geführt und dadurch auch den darauffolgenden wirtschaftlichen Aufschwung abgeschwächt.

Der Richtungsstreit zwischen den Mitgliedstaaten über die politische Weiterentwicklung der EU, vor allem durch die beiden Regierungschefs von Frankreich und Ungarn ausgetragen, führt zu einer lähmenden Handlungsunfähigkeit der Union insgesamt. Dies wird nicht nur innereuropäisch, vor allem bei den Themen Flucht und Migration, deutlich, sondern auch anhand der Stellung Europas im Gefüge der Weltordnung. Die Polarisierung zwischen einer EU der Eliten sowie der weiteren Liberalisierung des Binnenmarktes, wie Macron sie verkörpert, einerseits und einem Europa indem Grenzzäune, Abschottung und die Einschränkung der Demokratie auf der politischen Agenda stehen andererseits, wie Orban sie verkörpert, gilt es aufzubrechen. Allen voran die Gewerkschaften müssen diesem Richtungsstreit einen eindeutigen Sozialen Pol entgegenstellen und eine Politik im Sinne der Beschäftigten einfordern. Es braucht also eine klare politische und ökonomische Alternative zu diesen beiden Modellen.

Die Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses muss daher eine Festschreibung Sozialer Rechte sein. Europa darf nicht nur aus Fiskalregeln und budgetären Kennzahlen bestehen, sondern muss vor allem ökonomischen Wohlstand, der auch gerecht verteilt ist, für alle ermöglichen.

Ein rechtlicher Rahmen für eine Sozialunion

Die Grundlage der Europäischen Union ist ihr Vertragswerk, das Primärrecht. In diesem sind allen voran die die vier Marktfreiheiten (freier Personen-, Dienstleistungs-, Waren-, und Kapitalverkehr) festgeschrieben. Dies hat zur Folge, dass der freie Binnenmarkt oberste Priorität in der EU genießt und diesen vier Freiheiten alle anderen politischen Erfordernisse untergeordnet werden. Daraus ergibt sich eine systematische und einseitige Bevorzugung von Interessen der Wirtschaft. Sozialpolitik, die Verteilungsgerechtigkeit und Wohlstand für die breite Masse garantieren soll, sowie Gewerkschaftsrechte und Kollektivverträge werden stets nachrangig behandelt. Sichtbar wird diese vertragliche Schieflage vor allem an den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes, die stets eine Rechtsprechung zugunsten der Marktfreiheiten und zulasten sozialer Rechte bedeuten.

Diese Vertragskonstruktion der EU ist aus gewerkschaftlicher Sicht mehr als fehlerhaft. Europa kann nur funktionieren, wenn soziale Fragen zumindest dieselbe rechtliche Wertigkeit erlangen wie Fragen der wirtschaftlichen Freizügigkeit. Es braucht daher ein Soziales Fortschrittsprotokoll, welches im Primärrecht verankert ist und soziale Fragen in den Vordergrund rückt.

Die Konstruktionsfehler der Währungsunion

Das Ziel der Währungsunion, die Wirtschaftspolitik zu koordinieren und einen stabilen Euro zu schaffen, konnte bisher nur teilweise erreicht werden. Einzelne Mitgliedstaaten schaffen sich durch eine unsolidarische Wirtschafts- und Sozialpolitik Vorteile, die zulasten anderer Länder gehen. Dadurch wird ein innereuropäisches „Race to the bottom“ um die höchste Wettbewerbsfähigkeit, auf Kosten der ArbeitnehmerInnen, erzeugt.

Vor der Euro-Einführung konnten die Mitgliedstaaten aufgrund der verschiedenen Wechselkurse unterschiedliche Preisniveaus durch das Abwerten ihrer Währung ausgleichen und somit durch günstigere Exporte an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen. Mit der Einführung des Euro gab es jedoch keine unterschiedlichen Wechselkurse mehr, was Ländern mit höherer Inflation Wettbewerbsnachteile aufgrund der teureren Exporte bescherte.

Manche Mitgliedsländer haben im Zuge der Euro-Einführung daher eine „innere Abwertung“ durchgeführt, die die Senkung von Lohn- und Sozialstandards zur Folge hatte (z.B.: Hartz IV in Deutschland). Dies führte zu einer geringeren Inlandsnachfrage, die mit einer höheren Exportquote ausgeglichen werden musste. Die Folgen dieser relativen Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit waren niedrigere Inflationsraten, die durch die stagnierenden Löhne erzielt werden konnten (Hingegen hatten jenen Staaten, die aufgrund des Wachstums steigende Löhne und somit auch höhere Inflationsraten zu verbuchen hatten, höhere Inflationsraten).

Diese niedrigeren Inflationsraten führten zu höheren Realzinsen, die einen Investitionsrückstau in diesen Staaten zur Folge hatten. Dadurch wurden Investitionen vermehrt in jenen Ländern (Italien, Spanien, …) getätigt, deren Realzinsentwicklung aufgrund der höheren Inflation günstiger war. Zur Finanzierung dieser Investitionen wurden Finanzmittel jener Staaten, die durch ihre innere Abwertung verfügbares Investitionskapital aufgestaut hatten, herangezogen. Diese Entwicklung hatte langfristig unausgeglichene Leistungsbilanzen zwischen den einzelnen EU-Staaten zur Folge, die zu einer höheren Verschuldung einzelner Staaten führten.

Diese Wirtschaftspolitik führt zu einem Wettbewerb zwischen den Staaten, der vor allem durch den Abbau von Lohn- und Sozialstandards gekennzeichnet ist und daher auf Kosten der ArbeitnehmerInnen geht. Ein soziales Europa muss jedoch durch eine starke nachfrageseitige Investitionspolitik in den jeweiligen Staaten gekennzeichnet sein. Der gemeinsame Binnenmarkt darf nicht zur Kompensation fehlender Inlandsinvestitionen herangezogen werden.

Um die Ungleichheit innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion auszubalancieren, braucht es eine gemeinsame Transferunion, die einen regelmäßigen Finanzausgleich zwischen den Staaten ermöglicht und dadurch mehr Konvergenz herstellt. Hier kann das österreichische Beispiel des Finanzausgleiches durchaus als Vorbild dienen. Die unfaire innere Abwertungspolitik mancher EU-Staaten, die durch erhöhte Exportquoten nicht nur die anderen EU-Partner in Schwierigkeiten bringt, sondern vor allem auch auf Kosten der ArbeitnehmerInnen geht, darf kein Erfolgsmodell sein. In einer gemeinsamen Währungsunion müssen wirtschaftspolitische Aktivitäten abgestimmt und solidarisch miteinander funktionieren, ansonsten wird es ökonomischen Erfolg immer nur einseitig, auf Kosten anderer EU-Partner und jedenfalls zulasten der ArbeitnehmerInnen geben.

Gescheiterte Europäische Krisenbewältigungspolitik

Nach Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise folgte im Jahr 2010 die Europäische Austeritätspolitik (ESM, Troika, …), die größtenteils außerhalb der EU-rechtlichen Rahmenstrukturen verankert wurde. Dabei kam es vermehrt auch zu Eingriffen in die Lohnpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten zulasten der ArbeitnehmerInnen. Dies geschah, obwohl die EU in diesem Politikfeld keine Kompetenzen hat. Mit der Einführung des Europäischen Semesters im Jahr 2010 wurden neoliberalen Grundsätze zur Koordinierung der Budget-, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in der EU festgeschrieben. In den jährlichen Länderberichten werden den Mitgliedstaaten Reformvorschläge (Strukturreformen, Abbau von Sozialstandards, …) übermittelt und deren Umsetzung eingefordert.

Der Fiskalpakt, eine weitere Reaktion auf die Krise, ist ein völkerrechtlicher Vertrag, ebenfalls außerhalb des EU-Rechtes, der starre Defizit- und Schuldenregeln für öffentliche Haushalte vorschreibt (max. 3 % öffentliches Defizit, öffentlicher Schuldenstand max. 60% des BIP, niedrige Inflationsraten: max. 1,5 % über dem preisstabilsten Land). Im Pakt inbegriffen sind die nationalen Schuldenbremsen und automatische Korrekturmechanismen bei Regelüberschreitungen.

Rückwirkend betrachtet ist die Austeritätspolitik der EU jedenfalls gescheitert, denn sie hat die höchste Arbeitslosigkeit verursacht, die Staatsschulden stark ansteigen lassen (Bankenrettung), öffentliche und private Investitionen brachen ein und die Löhne sind gesunken. Auch die Einführung der dringend notwendigen Finanztransaktionssteuer ist bis heute nicht gelungen. Obwohl die Wirtschafts- und Währungskrise nun Großteils überwunden scheint, ist die Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa weiterhin sehr hoch.

Diese starren und ökonomisch falschen Haushalts- und Budgetregeln der EU engen die finanziellen Spielräume der Mitgliedstaaten massiv ein und verhindern wichtige Investitionen. Anstatt dieser Vorgaben bräuchte es eine „goldene Investitionsregel“. Höhere öffentliche Ausgaben sollen dadurch leichter ermöglicht werden, um beispielsweise die Ziele der Europäischen Säule Sozialer Rechte verwirklichen zu können, in die Infrastruktur, das Bildungssystem oder die Forschung zu investieren. Unter Anwendung der sogenannten „goldenen Investitionsregel“ (d.h. die Herausrechnung von Zukunftsinvestitionen aus der Berechnung der strukturellen Budgetdefizite) würden die Mitgliedstaaten mehr Flexibilität in ihren Haushalten bekommen. Darüber hinaus würden diese zusätzlichen Investitionen ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum erzeugen.

Die Vormachtstellung der Konzerne brechen

Konzerne haben in der EU, vor allem gegenüber den ArbeitnehmerInnen, eine eindeutige Vormachtstellung und geben deshalb den Takt vor. Dies wird beispielsweise bei der Export- und Freihandelsstrategie, aber auch bei zahlreichen beschlossenen Verordnungen und Richtlinien erkennbar. Ein genauerer Blick auf die Lobbylandschaft zeigt, dass lediglich 1 % davon VertreterInnen von Organisationen der ArbeitnehmerInnen sind, die restlichen 99% sind Unternehmen zuzurechnen. Deutlich sichtbar wurde diese Schieflage beispielsweise bei den Verhandlungen zu JEFTA, dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan, bei dem 89% der VerhandlerInnen Konzern-LobbyistInnen waren. In einer aktuellen Studie der Organisation Alliance for Lobbying Transparency and Ethics Regulation (ALTER-EU) unter dem Titel „Corporate Capture“, was so viel bedeutet wie „gekaperte Gesetzgebung“ wurden in den letzten Jahren zahlreiche Beispiele gesammelt, anhand derer klar wird, wie Großkonzerne die Gesetzgebung nachweisbar zu ihren Gunsten beeinflusst haben. Dies betrifft neben den Freihandelsabkommen beispielsweise auch den Banken- oder Automobilsektor.

Das Ziel muss daher sein, diese Vormachtstellung zu brechen und ArbeitnehmerInnen sowie andere Interessensgruppen, die unterrepräsentiert sind, auf allen Ebenen stärker einbinden. Die EU muss durch stärkere demokratische Strukturen, wie einer Aufwertung des EU-Parlaments und mehr Transparenz bei gewissen Entscheidungsfindungsprozessen umgestaltet werden. Die politische Agenda in Europa darf nicht durch Großkonzerne, die mit intransparenten Strukturen im Hintergrund Einflussnahme betreiben, bestimmt werden, sondern muss von der Bevölkerung durch Wahlen und zusätzlichen Partizipationsmöglichkeiten festgelegt werden.

Hat die EU das Potenzial, Europa sozialer und demokratischer zu machen?

Die europäische Union ist in ein Bündnis von Staaten, das in erster Linie auf wirtschaftlichen Interessen beruht. Aus gewerkschaftlicher Sicht ist die EU daher einseitig und unvollständig, weil sie sozialen Fragen nur wenig Aufmerksamkeit schenkt. Dennoch ist es in den letzten Jahren gelungen, die EU im Sinne der ArbeitnehmerInnen ein Stück besser zu machen. Nicht zuletzt die im November 2017 ins Leben gerufene Säule Sozialer Rechte (EPSR) ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung – allerdings hat sie keine rechtliche Verbindlichkeit und entspricht daher noch nicht den Idealvorstellungen. Auch konkrete EU-Verordnungen und Richtlinien bilden ein wichtiges Fundament, um Angriffe auf sozialstaatliche Errungenschaften sowie Tendenzen zur völligen Liberalisierung einzuschränken. Sogar in einem sozialen Vorzeigeland wie Österreich sind die ArbeitnehmerInnen aufgrund des neuen Arbeitszeitgesetzes auf die Regelungen in der Arbeitszeit-Richtlinie angewiesen. Ebenso was den ArbeitnehmerInnenschutz im Allgemeinen anbelangt oder die Gleichbehandlung von Männern und Frauen, konnten auf europäischer Ebene bereits gesetzliche Meilensteine erzielt werden.

Damit kann natürlich noch von keinem Sozialen Europa im Sinne der ArbeitnehmerInnen die Rede sein, aber zumindest wurden in manchen Politikfeldern bereits Mindeststandards eingezogen, die von den Staaten nicht unterschritten werden dürfen. Unser Auftrag muss es nun sein, auch in Zukunft mit aller Kraft für eine progressive Weiterentwicklung Europas zu kämpfen, in dem nicht die Konzerne und das Kapital das Sagen haben, sondern in dem die ArbeitnehmerInnen im Fokus des politischen Handelns stehen. Nur so können wir den Menschen den Glauben an ein vereintes Europa vermitteln und rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften etwas entgegensetzen. Der ÖGB hat beim Bundeskongress 2018 die wichtigsten Meilensteine am Weg zu einem Sozialen Europa, die wie folgt lauten, bereits beschlossen:

  1. Das Soziale Fortschrittsprotokoll jetzt durchsetzen
  2. Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping
  3. Investitionen in Wachstum und qualitativ hochwertige Arbeitsplätze
  4. Sicherung starker ArbeitnehmerInnenrechte – sozialpolitisches Aktionsprogramm jetzt
  5. Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit – Schaffung neuer Chancen
  6. Kampf gegen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung
  7. Stärkung der Rechte von Frauen und ihrer Beteiligung am Arbeitsmarkt
  8. Ausbau von Demokratie und sozialem Dialog
  9. Die EU nach dem Brexit
  10. Digitalisierung und die Zukunft der Arbeit
  11. EU-Finanzrahmen nach 2020
  12. EU-Handelspolitik gerecht gestalten

 

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