Wer in der Pflege arbeiten möchte, muss körperlich fit, kommunikativ und empathisch sein. Portrait einer Berufsgruppe, die jeder Mensch im Laufe seines Lebens braucht.
Frau Maria schwelgt in Erinnerungen. Nicht bloß angenehmen. Etwa, wie es damals nach dem Krieg noch kein fließendes Wasser am heimischen Bauernhof gab und es ihre Aufgabe war, jeden Samstag genügend Wasser für die gesamte Familie zu holen. Rund eine Viertelstunde zum Gemeindebrunnen hin, der Rückweg mit der schweren Last dauerte freilich länger. Ihre Jugend war hart und entbehrungsreich, ein Lichtblick als sie sich in ihren späteren Ehemann verliebte. „Das war am Palmsonntag, er war früher ein ganz fescher Bursch“, erzählt die Pensionistin. Auch an das erste Auto, das sich das Ehepaar gemeinsam leistete, hat Frau Maria noch genaue Erinnerungen – ein gebrauchter VW Käfer mit „Brezel“-Scheiben. „Wir waren sehr stolz auf das Auto, später sind halt die Gänge immer wieder raus gehüpft während der Fahrt“, schmunzelt sie. Bloß an die vergangene Woche kann sie sich nicht mehr so genau erinnern. Frau Maria ist sich nicht sicher, ob sie beim praktischen Arzt war oder die Zeit doch nur zu Hause verbracht hat. Es ist verblüffend, wie sich die 81-Jährige an Details einer Geschichte erinnert, die über 60 Jahre zurückliegt. Die Gegenwart ist der gebürtigen Steirerin fremd. Bei einer Demenzerkrankung purzeln die Erinnerungen gleich Dominosteinen dahin, das Gedächtnis verliert die Möglichkeit, wieder darauf zuzugreifen. Dabei arbeitet sich die Krankheit immer tiefer ins Gedächtnis hinein – was den erkrankten Menschen am längsten zur Verfügung steht, sind die Erinnerungen aus einer oft Jahrzehnte zurückliegenden Vergangenheit, in der sie nun wieder leben.
Frau Maria ist eine von rund 130.000 Demenzkranken in Österreich. Die Tendenz ist steigend, bis 2030 soll sich die Zahl verdoppeln und im Jahr 2050 sprechen die Prognosen gar von einer Verdreifachung.
Pflege länger daheim
„Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, was in den Pflegeberufen alles geleistet wird“, erklärt Ria Brandlhofer, diplomierte Sozialarbeiterin und Zentral -Betriebsrats-Vorsitzende in Vertretung beim Kuratorium Wiener Pensionisten-Wohnhäuser „Häuser zum Leben“. Brandlhofer vertritt immerhin circa 4.500 KollegInnen – vom diplomierten Pflegepersonal, PflegeassistentInnen, Heimhilfen, FachsozialbetreuerInnen, ÄrztInnen, PsychologInnen, Physio- und ErgotherapeutInnen SozialarbeiterInnen, technische HausbetreuerInnen, Büroangestellte und das Küchenpersonal von den Küchenhilfen bis zu den KöchInnen.
„Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, was in den Pflegeberufen alles geleistet wird“
Ria Brandlhofer, Zentral-Betriebsratsvorsitzende in Vertretung, Kuratorium Wiener Pensionisten-Wohnhäuser
Die meisten älteren Menschen, die in eines der „Häuser zum Leben“ übersiedeln, brauchen zu Beginn meist noch relativ wenig Unterstützung, doch mit der Zeit steigt der Pflegebedarf. „Wir haben 30 Standorte, die BewohnerInnen bleiben in der Regel bis sie sterben bei uns“, weiß die ZBR Vorsitzende in Vertretung. Für die BewohnerInnen wird ein individueller Pflege- und Betreuungsplan erstellt, die kleinen Wohnungen sind mit eigenen Möbeln beziehen. Daneben verfügen die „Häuser zum Leben“ über stationäre Bereiche, in zwei Häusern gibt es eine Remob-Station und eines ist mit einer Demenz Station ausgerüstet. Das Durchschnittsalter, in dem sich SeniorInnen für ein Pensionisten-Wohnhaus oder Altersheim entscheiden, ist in den letzten Jahren gestiegen. „Schuld“ daran ist ein eigentlich erfreulicher Aspekt. Ältere Menschen können heutzutage länger zu Hause leben, weil es weniger Substandard-Wohnungen gibt und immer mehr Häuser mit Liften nachgerüstet werden. „Es ist aber dann ein riesiger Schritt, wenn die Menschen eine Wohnung, in der sie bis zu 60 Jahre gelebt haben, für immer verlassen“, weiß Ria Brandlhofer. Vielleicht sogar der größte.
Persönlicher Kontakt wichtig
Durch die immer älter werdenden BewohnerInnen intensiviert sich die Arbeit der Pflegekräfte.Die Zahl der Demenz-, Diabetes- oder Depressionserkrankungen nimmt zu. Psychische Erkrankungen und psychische Auffälligkeiten kommen mehr zum Vorschein. Pflegekräfte sind dabei sehr gefordert. Demenz etwa tritt in unterschiedlichen Phasen auf – bei manchen Menschen merkt man sie kaum, andere werden intensiver. „Wir können die Menschen nur dort abholen, wo sie stehen“, erklärt Brandlhofer. Anfangs überspielen viele ihre Demenz und behaupten.„das habe ich jetzt vergessen“ oder „das hast du mir nie erzählt“. Es gehört auch zu den Aufgaben der Fachkräfte, das zu beobachten und zu erkennen. Dafür müssen die Betreuenden die zu pflegenden Menschen besser kennen lernen. „Da ist es wichtig, die Persönlichkeit einschätzen zu können und mit den Angehörigen Kontakt zu haben, die über Biographie und Historie der BewohnerInnen Bescheid wissen.“
Das erleichtert auch, die BewohnerInnen so anzunehmen, wie sie sich durch ihre Krankheit verändert haben. Im Umgang mit Demenzerkrankten sollten auch einige Regel beachtet werden. „Es ist ganz wichtig, die Menschen nicht dauernd auszubessern, wenn etwas falsch ist.“ Wichtig ist es auf die Gefühle einzugehen und die Realität der PatientInnen anzunehmen. Wenn etwa eine alte Frau auf ihre Mutter wartet, so hat es wenig Sinn zu sagen, dass diese schon längst verstorben ist. Es hilft eher über die Mutter zu reden und ein angenehmes Gesprächsklima zu erzeugen.
Trotzdem kann es ziemlich stressig werden. Oftmals wollen von Demenz Betroffene etwa nicht einsehen, dass eine Körperhygiene erforderlich ist oder es nötig ist, Nahrung zu sich zu nehmen. Diese Situationen verlangen von den Fachkräften viel Verständnis und ein Vorgehen mit reichlich Herz und Seele. „In unseren Berufen ist viel Eigenengagement notwendig. Ich muss professionell und empathisch sein“, gibt Brandlhofer zu Bedenken.
Tägliche Höchstleistungen
Kein Wunder, dass es laut Wifo bald einen Mangel an Pflegekräften geben wird. Etwa 20.000 Pflegekräfte in Krankenhäusern, Reha-Einrichtungen, Arztpraxen, in der Langzeitpflege und -betreuung oder in der Aus- und Weiterbildung werden bis 2030 fehlen. So unterschiedlich ihre Tätigkeit im Arbeitsfeld ist, eines haben alle Pflegekräfte gemeinsam: Sie erbringen täglich Höchstleistungen zum Wohle sehr verletzlicher Gruppen wie Ältere, Kranke oder Menschen mit besonderen Bedürfnissen.
Die Arbeiterkammer Oberösterreich hat untersucht welche Spitzenwerte ein Pflegedienst tagtäglich hervorbringt: 24.000 Schritte in einem Nachtdienst – also knapp 17 Kilometer – sind keine Seltenheit. Oft betreut eine Fachkraft im Nachtdienst eine ganze Station alleine und ist für mehr als 50 BewohnerInnen im Alten- und Pflegeheim zuständig. Zeit zum Verschnaufen bleibt da kaum. Einsatzkräfte in der mobilen Pflege und Betreuung legen teils mehr als 60 Kilometer im Stadtverkehr pro Tag im Auto zurück, um in einem Dienst bis zu 20 KlientInnen zu versorgen – für die auch dringend benötigte Zuwendung und Gespräche bleibt kaum ein Moment.
„Ohne dem enormen Engagement der Pflegekräfte würde das System schon längst vor sehr großen Problemen stehen.“
Eva Scherz, GPA-djp, Wirtschaftsbreichssekretärin, GPA-djp
Wer in der Pflege arbeiten möchte, der muss auch Gerüche vertragen, gerne Menschen um sich haben und etwas für sie tun wollen. Insbesondere ist aber auch Kompromissfähigkeit gefordert: „Es sollte ein Verständnis dafür geben, was ich persönlich gut finde, der andere aber gar nicht schätzt und wie deshalb ein besserer gemeinsamer Weg gefunden werden kann“, macht Brandlhofer deutlich. „Ohne dem enormen Engagement der Pflegekräfte würde das System schon längst vor sehr großen Problemen stehen“, ist sich Eva Scherz, Wirtschaftsbereichssekretärin der GPA-djp, sicher. Immerhin 73 Prozent der Pflegekräfte erleben ihre Arbeit als sinnstiftend, das zeigt der Arbeitsklima Index der Arbeiterkammer Oberösterreich. In anderen Branchen sind es bloß 64 Prozent. In der Pflege werden das gute Miteinander und die Teamarbeit geschätzt.
Hoher Dokumentationsaufwand
Stefan Kraker ist Betriebsrats-Vorsitzender bei der Caritas Steiermark und vertritt mehr als 2000 MitarbeiterInnen, rund die Hälfte davon ist in der Pflege beschäftigt. Der gelernte Programmierer ist auch für den Arbeitsschutz zuständig. „Die Arbeit im Sozialbereich ist sehr herausfordernd und wird immer anstrengender, das sehe ich, weil ich auch über den ArbeitnehmerInnenschutz in alle Einrichtungen komme“, erzählt Kraker. Er plaudert mit seinen KollegInnen und erfährt, wie es ihnen ergeht, wie die Arbeit mit den KlientInnen läuft.
Neben einer oft körperlich anstrengenden Tätigkeit, gehören der Beistand bei großen Schmerzen, Sterbebegleitung oder auch der Trost Angehörigen zu ihren Aufgaben. Hilfe, die wesentlich mehr wert ist, als dies derzeit sowohl in der Entlohnung als auch in der zur Verfügung stehenden Zeit zum Ausdruck kommt. Einige ArbeitnehmerInnen sind knapp vor dem Burnout. Stefan Kraker ist sich sicher, dass seine KollegInnen bei der Caritas eine hohe Frustrationstoleranz haben und ihre Klientinnen nicht im Stich lassen wollen. „Allerdings wäre es oft gesünder, wenn sich die Leute früher aus dem Stress raus nehmen“. Der Druck in der Arbeit steigt, die Fachkräfte müssen weit mehr als die reine KlientInnen-Arbeit meistern: Betriebsrats-Vorsitzender Kraker: „Tendenziell nimmt der Dokumentationsaufwand zu, was nicht bloß schlecht ist, denn die Fachkräfte müssen sich ja auch absichern. Doch die Arbeit wird nicht leichter, wenn ich jeden Arbeitsschritt zusätzlich dokumentieren muss.“
„Ich bin für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, weil ich einfach merke, wie der Wunsch nach mehr Freizeit unter den KollegInnen immer stärker wird.“
Stefan Kraker, Betriebsrats-Vorsitzender, Caritas Steiermark
Grundsätzlich ist es dringend notwendig die Pflegeberufe attraktiver zu machen. Die Ausbildung muss stärker beworben werden, die Gehälter müssen steigen und die Arbeitszeit verkürzt werden. „Es gibt ganz viele KollegInnen, die, wenn es sich finanziell ausgehen würde, nicht 38 Stunden, sondern weniger arbeiten wollen. Doch weil unser Lohnniveau insgesamt nicht so hoch ist, können sie es sich mit ihren Verpflichtungen nicht leisten“, erklärt Kraker „Ich bin für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, weil ich einfach merke, wie der Wunsch nach mehr Freizeit unter den KollegInnen immer stärker wird.“ sagt Kraker. In der Pflege sind immer mehr Teilzeitkräfte und AlleinerzieherInnen aktiv, Menschen die häufig armutsgefährdet sind. „Es wird höchste Zeit, dass sie von ihrem Engagement auch etwas haben“, fordert Ria Brandlhofer. Denn für die entsprechende Qualität die täglich erbracht wird, braucht es genug Zeit zur Entspannung. „Jeder soll seinen eigenen Tank wieder vollmachen können und genug Zeit für die eigene Familie haben“, führt Ria Brandlhofer vom Kuratorium Wiener Pensionisten-Häusern aus.
Maßnahmen gegen den Stress
Gemeinsam mit der Geschäftsleitung wird dort an der Umgestaltung der Arbeitszeitmodelle gearbeitet: „Wir wollen schauen, was die KollegInnen möchten und was möglich ist, wo wir einen Konsens finden müssen und wie wir das an die Arbeitszeit anpassen können“, sagt Brandlhofer. „Wir sind circa 4500 KollegInnen und müssen einen Weg finden, uns der modernen Zeit anzupassen – für unsere BewohnerInnen da sein und die Wünsche unserer MitarbeiterInnen einplanen.“ Keine einfache Aufgabe. Rund um die Uhr ist die Pflege in der stationären Abteilung tätig, je nach Bedarf von sieben bis 21 Uhr in den Wohnungen der „Häuser zum Leben“. In den Wiener Pensionisten-Wohnhäusern wird auf Stressabbau auch durch Kommunikation gesetzt. „Manchmal ist es gut, mit den KollegInnen Psychohygiene zu betreiben. Tod, Alter oder Krankheit dürfen kein Tabu sein und wir reden freilich auch im KollegInnen-Kreis darüber, wenn jemandem eine Pflege sehr nahe gegangen ist“, erklärt Brandlhofer.
Mit der Zeit hat die diplomierte Sozialarbeiterin ihre eigene Technik entwickelt Belastungen nicht nach Hause mitzunehmen: „Wenn ich mit BewohnerInnen zu tun habe und sie zum Lächeln bringen konnte oder wir gemeinsam ein kleines Ziel erreicht haben, ist das wirklich schön. Dann gehe ich zufrieden heim, weil ich einen Menschen für den Moment glücklich gemacht habe.“ I
In ihrem Beruf Sozialarbeiterin schätzt sie es, wenn sich Familien wieder näher kommen. „Eltern und Kinder, die schon jahrelang nicht mehr miteinander geredet haben, haben wieder miteinander Kontakt, weil BewohnerInnen merken, das Leben geht langsam zu Ende.“ Dabei gibt es noch so viel zu klären mit dem Sohn, der Tochter oder anderen Familienmitgliedern. „Das Vertrauen der BewohnerInnen geschenkt zu bekommen, ist bereichernd. Und sie wissen die Hilfe auch wertzuschätzen.“
KV-Verhandlungen im Herbst
Die gebürtige Burgenländerin ist gelernte Rauchfangkehrerin, doch in Wien kam ihr die Freude an Schornsteinen und Kamintürchen abhanden. „Die Arbeit war viel zu anonym. Deshalb habe ich umgesattelt und bin auf die Akademie für Sozialarbeit gegangen“, Mittlerweile arbeitet sie seit 14 Jahren im Kuratorium Wiener Pensionisten-Wohnhäuser. Im Herbst ist erstmals im engeren Kollektiv-Vertrag-Verhandlungsteam vertreten. Ihr Ziel ist es unter anderem eine Verbesserung bei den Arbeitszeiten zu erreichen. Angst vor den langwierigen Sitzungen hat sie keine. „Denn als Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern bin ich ausreichend verhandlungserprobt.“
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