Simon Dubbins: „Die einzige Möglichkeit ist, weiter zu streiken!“

Simon Dubbins von der britischen Gewerkschaft UNITE erzählt, warum es gar keine andere Chance gibt als weiter zu streiken.
Foto: Edgar Ketzer

Großbritannien erlebt die größte Streikwelle seit Jahrzehnten. Ein Gespräch mit dem britischen Gewerkschafter Simon Dubbins über den „Albtraum“ Margaret Thatcher und das wiedergewonnene Selbstbewusstsein der britischen Gewerkschaften.

KOMPETENZ: Laut Streikkalender des Guardians gibt es in Großbritannien diese Woche im Gesundheitsbereich Montag einen Streik, Mittwoch einen Streik, Donnerstag einen Streik, Freitag einen Streik. Was ist los bei euch?

Simon Dubbins: Wir erleben eine Inflationskrise. Offiziell liegt die Inflation bei 10,5 Prozent, die Regierung bietet 4,5 Prozent Lohnerhöhung und sie bleibt knallhart bei ihrem Angebot, sie bewegen sich nicht. Die einzige Möglichkeit, die die Beschäftigten im Gesundheitssektor sehen, um Druck zu machen, ist weiter zu streiken. COVID war sehr schwierig für viele Leute im Gesundheitsbereich, 130.000 Stellen sind nicht besetzt, weil es wegen dem Brexit an Personal fehlt. Die Beschäftigten im Gesundheitsbereich haben einfach die Schnauze voll. Dabei geht es nicht nur um Löhne und Gehälter, sondern auch dem wahnsinnigen Druck, dem wegen fehlender Arbeitskräfte sie ausgesetzt sind. Sie wissen, dass die öffentliche Meinung hinter ihnen steht und zu streiken, ist alles, was sie haben.

KOMPETENZ: Das heißt, die Gründe für diese Zuspitzung liegen sehr viel weiter zurück?

Simon Dubbins: Ja, da kann man viele Jahrzehnte zurückgehen, bis zur Zeit von Margaret Thatcher (Premierministerin von 1979 bis 1990; Anm. d. Red.), als viele Arbeitsplätze in Bereichen, die gut organisiert und gut bezahlt waren, weggefallen sind. Dazu zählen auch der Schiffbau, die Schwerindustrie, der Bergbau und so weiter. Viele dieser Menschen arbeiten jetzt hauptsächlich im Dienstleistungssektor, einem klassischen Niedriglohnsektor. Wir haben einen sehr hohen Anteil an Leiharbeit, Teilzeitarbeit und prekären Arbeitsverhältnissen. Nach der Finanzkrise sind die Reallöhne für eine lange Zeit gesunken, die Lohnanpassungen waren immer niedriger als die Inflation. Dann kam Corona hinzu und jetzt die Inflationskrise. Die Wurzeln von all dem liegen weit zurück, derzeit kommt es zu einer Art Explosion.

„Die Beschäftigten im Gesundheitsbereich haben einfach die Schnauze voll. Sie wissen, dass die öffentliche Meinung hinter ihnen steht und zu streiken, ist alles, was sie haben.“

Simon Dubbins

KOMPETENZ: Das Streikrecht in Großbritannien ist enorm restriktiv. Wie organisiert ihr euch?

Simon Dubbins: Ja, es ist sehr schwierig, in Großbritannien zu streiken. Vor jedem Streik müssen wir per Post eine Urabstimmung durchführen. 50 Prozent aller Mitglieder müssen daran teilnehmen und mehrheitlich dafür stimmen. Anschließend muss dem Arbeitgeber zwei Wochen vorher bekannt gegeben werden, wo gestreikt wird, welche Abteilungen streiken und wie lange der Streik dauern wird. Das alles kommt noch aus der Zeit von Thatcher. Man will es uns möglichst schwierig machen, überhaupt zu streiken und den Arbeitgebern mehr Möglichkeiten geben, sich darauf einzustellen. Doch über die Jahre haben die Gewerkschaften viel Erfahrung gesammelt und wissen mittlerweile besser, wie sie sich organisieren müssen.

KOMPETENZ: Die Regierung hat angekündigt, das Streikrecht jetzt noch mehr einzuschränken zu wollen…

Simon Dubbins: Ja, anstatt ehrliche Verhandlungen zu führen und Lösungen zu finden! Sie bleiben knallhart bei ihrem Angebot von 4,5, Prozent. Aber weil diese großen Streiks sehr wichtige Bereiche betreffen, die Eisenbahn, den Gesundheitsbereich, den Bildungsbereich, die Grenzkontrolle und so weiter, haben sie in Rekordgeschwindigkeit ein neues Gesetz eingeführt. Das Streikrecht in diesen „Essential Services“ soll massiv beschränkt werden. Betroffen von diesem Gesetz sind ausgerechnet all jene Bereiche, in denen derzeit gestreikt wird. Streiken ist unsere einzige Chance und sie versuchen, uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

 In Großbritannien hat am 1. Februar der die größte Streik- und Protestwelle seit mehr als einem Jahrzehnt begonnen. Alleine am ersten Februar waren 500.000 Menschen auf der Straße.
Foto: Martyn Wheatley / Eyevine / picturedesk.com 

KOMPETENZ: Die Regierung argumentiert, es sei kein Geld vorhanden für Lohnerhöhungen bzw. Lohnerhöhungen würden die Inflation nur noch weiter nach oben treiben …

Simon Dubbins: Es ist Schwachsinn zu behaupten, dass die Inflationskrise etwas mit Löhnen und Gehältern zu tun hat. Wir haben seit Jahren sinkende Reallöhne! Jeder weiß, die Inflation ist wegen der Energiekrise durchs Dach gegangen, nicht weil ArbeitnehmerInnen zu viel Geld bekommen hätten. Einer der Hauptgründe ist der Brexit, der Pfund ist seither schwächer als früher. Die Nahrungsmittel, die wir importieren, sind dadurch noch teurer geworden als im Rest Europas. Die ArbeitnehmerInnen leiden unter rasant steigenden Inflation, aber hätten laut Regierung überhaupt kein Recht, eine Lohnerhöhung zu fordern. ArbeitnehmerInnen sollten also einfach den Mund halten und noch weiter tiefe Einschnitte akzeptieren.

„Die ArbeitnehmerInnen leiden unter rasant steigenden Inflation, aber hätten laut Regierung überhaupt kein Recht, eine Lohnerhöhung zu fordern.“

Simon Dubbins

Schauen Sie sich das an! Da ist zunächst ein Milliardär an der Spitze der Regierung, Rishi Sunak. Die gesamte Spitze der Tory Partei ist voll mit reichen Menschen. Die meisten Menschen wissen das, und dann sehen sie Firmen, wie Shell und BP, die Rekordgewinne einstreichen, während sie selbst wahnsinnig hohe Summen für Energie bezahlen müssen.  Ich denke, das ist normal, dass Leute, die die Schnauze voll haben, dagegen etwas unternehmen wollen. Es bleibt nicht viel anderes übrig, als zu streiken. Aber die Regierung reagiert darauf mit einem Gesetz, um das zu unterbinden. Ich weiß nicht, wo die damit hinwollen. Ich denke, es ist sehr gefährlich, wenn Leuten nicht mehr erlaubt wird, dass sie ihre Wut und ihren Frust auf normale, friedliche Art und Weise rauslassen können.

KOMPETENZ: Am 1. Februar waren in Großbritannien 500.000 Menschen auf der Straße. Das zeigt auch, dass die Gewerkschaft großes Mobilisierungspotential hat…

Simon Dubbins: Erstens hoffe ich, dass wir die Streiks so lange fortsetzen können, bis die Regierung und die Unternehmen sich bewegen und ein akzeptables Angebot machen. Das ist keine Streikwelle, die von irgendwelchen obsessiv politisch aktiven Gewerkschaftsfunktionären organisiert wurde. Das kommt von Leuten, die es derzeit unheimlich schwierig finden, mit ihren Löhnen um die Runden zu kommen. Wir reden hier über den Lebensstandard und die Gesundheit von Millionen von Familien, Kindern und zukünftigen Generationen.

Zweitens hoffe ich, dass wir als Gewerkschaftsbewegung, als ArbeiterInnenbewegung ein gutes Stück Selbstvertrauen wiedergewinnen können – das wir während der Thatcher-Ära verloren haben. Wir haben jahrzehntelang mit den Niederlagen dieser Zeit gelebt, jahrzehntelang unter diesem Albtraum gelitten. Wenn diese Streikwelle jetzt dazu führt, dass wir wieder an uns selbst glauben, dass wir daran glauben, dass wir doch etwas bewegen können, etwas beeinflussen können, dass wir unsere Zukunft wieder selbst gestalten können – das wäre ein sehr wichtiger Schritt nach vorne.

Zur Person:

Simon Dubbins ist internationaler Sekretär der Gewerkschaft UNITE, der zweitgrößten Gewerkschaftsorganisation in Großbritannien (rund 1,25 Mio. Mitglieder). UNITE vertritt ArbeiterInnen in 20 Fachbereichen, unter anderem im Gesundheitsbereich.

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