Streiks sind in Österreich eher die Ausnahme – Arbeitskämpfe werden traditionell am Verhandlungstisch ausgefochten. Doch die Stimmung wurde zuletzt rauer, meint Zeithistoriker Florian Wenninger im Interview.
KOMPETENZ: Warum wurde in den vergangenen Jahrzehnten in Österreich nicht so oft gestreikt?
Florian Wenninger: Die österreichische Streitkultur ist seit 1945 stark geprägt durch den Versuch, Arbeits- und Lohnkonflikte sozialpartnerschaftlich zu lösen, den Klassenkampf also an den grünen Tisch zu verlagern, wie Bruno Kreisky das einmal genannt hat. In der Praxis heißt das, dass sich Arbeitgeber:innen und Gewerkschaften bemühen, Streiks nach Möglichkeit zu vermeiden. Gleichzeitig entfällt in Österreich von vornherein ein Streikgrund, der etwa in Frankreich oder in Italien eine wichtige Rolle spielt: Dort wird gestreikt, um die Arbeitgeber:innen überhaupt dazu zu bringen, in die Verhandlungen einzutreten. In Österreich ist das hinfällig, weil die Arbeitgeber:innen genau wissen, dass die Gewerkschaft stark ist und man nicht einfach sagen kann, „mit denen rede ich nicht“. Und schließlich ist hierzulande die Streikaktivität auch relativ gering, weil wir so einen hohen Kollektivvertragsdeckungsgrad haben.
KOMPETENZ: Wann und in welcher Branche kam es in Österreich zu den ersten Streiks?
Florian Wenninger: Streiks sind eine Konfliktform, die mit der industriellen Revolution verknüpft ist. Vorher wurden Arbeitskämpfe anders ausgetragen, beispielsweise durch öffentliche Beschämung des Arbeitgebers. Bekannt sind Streiks bereits von der Mitte des 19. Jahrhunderts, damals in der Textilindustrie, aber beispielsweise auch unter den Wiener Erdarbeiterinnen. Sie legten ihre Arbeit auf den Großbaustellen der Stadt nieder und forderten mehr Lohn. Da es sich hier mehrheitlich um Frauen handelte, solidarisierten sich die männlichen Arbeiter auf anderen Wiener Baustellen übrigens nicht mit ihnen. Dabei hätten auch sie ein Interesse an einem höheren Lohnniveau haben müssen. Eine lange Streiktradition gibt es in Österreich vor allem bei der Bahn und in der Metallindustrie. Das hat mit dem hohen Organisationsgrad, aber auch der Tatsache zu tun, dass diese Arbeitskräfte nicht leicht ersetzbar sind.
KOMPETENZ: Warum gibt es in Österreich kein Streikrecht?
Florian Wenninger: Weil die Gewerkschaften in erster Linie stark dahinter waren, dass es Materien gibt, die nicht gesetzlich, sondern durch das reale Machtverhältnis der Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen zueinander gelöst werden. Das kann man schön am deutschen Beispiel sehen: Wenn es ein Streikrecht gibt, obliegt es staatlichen Gerichten zu entscheiden, ob dieses Recht gerade zu Recht oder zu Unrecht in Anspruch genommen wird. Kein Streikrecht zu haben, vergrößert also den Spielraum der Gewerkschaften.
KOMPETENZ: Machen sich Arbeitnehmer:innen strafbar, wenn sie ohne Streikrecht die Arbeit niederlegen?
Florian Wenninger: Nein. Es sind dann auch keine Strafen zu zahlen. Es war daher auch ein Novum, dass manche Arbeitgeber:innen auf die Metallerstreiks im vergangenen Jahr mit finanziellen Einschüchterungsversuchen reagiert haben. Da erhielten Arbeitnehmer:innen Schreiben, in denen sie informiert wurden, dass sie persönlich haftbar seien. Dem ist rechtlich nicht so. Aber wenn einem ein Brief ins Haus flattert, in dem ein Anwalt 400.000 Euro fordert, kann einem schon flau werden. Und damit kalkulierten die Arbeitgeber:innen, sie verbreiteten gezielt Angst und Unruhe. International gehört das zu den Maßnahmen, die auf Streikbekämpfung spezialisierte Beratungsunternehmen bestreikten Unternehmen empfehlen. Es geht dann letztlich darum, die Streikenden zu spalten.
KOMPETENZ: In Österreich war das aber eine bisher ungewohnte Reaktion.
Florian Wenninger: Es war vor allem die Aggressivität, mit denen die Arbeitgeber:innen in diese Kollektivvertragsverhandlungen gegangen sind, etwas Ungewohntes. Das Eröffnungsangebot bei den Metallern war eine bewusste Provokation. Letztendlich ist davon nicht viel übrig geblieben. Der Verlauf der Herbstlohnrunde ist aber ein Indikator dafür, dass wir uns auch in Österreich künftig auf konfrontativere Lohnverhandlungen einstellen müssen.
KOMPETENZ: Ist es überhaupt so, dass ein Streik einem Betrieb immer schadet?
Florian Wenninger: Vorderhand schon: der Zweck eines Streiks ist es, wirtschaftlichen Druck aufzubauen. Dem Gegenüber wird zu verstehen gegeben: wenn ihr uns nicht entgegen kommt, wird das für euch eventuell teurer als nachzugeben. Man kann sich natürlich aber auch fragen, ob es einem Unternehmen nützt, wenn die Belegschaft sich schlecht behandelt fühlt. Erhöhtes Engagement ist dann zumindest eher nicht zu erwarten.
KOMPETENZ: Warum wird in manchen Branchen eher gestreikt?
Florian Wenninger: Traditionell wird in gut organisierten Branchen gestreikt, mit Beschäftigten, die schwer zu ersetzen sind. Wenn ich weiß, meine Gewerkschaft ist stark und die können mich hier nicht einfach rausschmeißen, dann hab ich ein anderes Selbstbewusstsein als jemand, der auf sich gestellt ist und Angst um seinen Job hat. In Branchen wie dem Handel oder der Gastronomie ist die Fluktuation der Arbeitnehmer:innen hoch. Für viele geht es eher darum, in eine bessere Branche zu wechseln, als für die Verbesserung ihrer jetzigen Situation zu kämpfen.
KOMPETENZ: Wovon hängt es ab, ob ein Streik gelingt?
Florian Wenninger: Streiks werden immer im Kopf gewonnen. Gelingt es, Streikenden Angst zu machen, sie auseinanderzudividieren, gewinnen die Arbeitgeber:innen. Schaffen es die Gewerkschaften, das Gefühl zu vermitteln, „wir sind viele, wir halten zusammen und wir schaffen das!“, gewinnen die Arbeitnehmer:innen. Starke Gewerkschaften sind daher das Um und Auf.
ZUR PERSON:
Florian Wenninger, geb. 1978 in Salzburg, ist Zeithistoriker. Er leitet das Institut für Historische Sozialforschung (IHSF), einer Einrichtung von ÖGB und AK, und lehrt und forscht am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien.