Der AK-Experte Adi Buxbaum fordert im Gespräch mit der KOMPETENZ mehr Vergütungsmoral in den Unternehmen. Strukturell wäre es Zeit für eine breite Debatte zum Thema Arbeitszeitverkürzung und die Einführung einer sechsten Urlaubswoche.
KOMPETENZ: Der Anteil der unbezahlten Überstunden an der geleisteten Mehrarbeit sinkt zwar seit rund zehn Jahren kontinuierlich. Dennoch leisten die Österreicherinnenn und Österreicher jedes Jahr eine Menge an gratis Mehrarbeit. Wie sehen die Zahlen für 2018 aus?
ADI BUXBAUM: Das Volumen an Mehr- und Überstunden betrug im Vorjahr 255 Millionen und davon blieben 43 Millionen unvergütet, das heißt sie wurden weder in Geld ausbezahlt noch in Zeit abgegolten. Der Trend ist zwar grundsätzlich positiv, die Vergütungsmoral hat sich gegenüber den Vorjahren verbessert. Gleichzeitig sehen wir, dass immer noch dieses enorme Volumen von 43 Millionen Mehr- und Überstunden nicht abgegolten wurde. Würde man das umrechnen in Beschäftigungsverhältnisse, dann entspricht das der Gratis-Arbeit von 25.000 Vollzeit-Beschäftigten.
KOMPETENZ: Wurden bei dieser Berechtigung die Arbeitszeiten von Beschäftigten mit All-Inclusive-Verträgen mitberücksichtigt?
„Das Volumen an Mehr- und Überstunden betrug im Vorjahr 255 Millionen und davon blieben 43 Millionen unvergütet, das heißt sie wurden weder in Geld ausbezahlt noch in Zeit abgegolten.“
Adi Buxbaum
BUXBAUM: Die Datenquelle ist die Arbeitskräfteerhebung. Da werden die Menschen gefragt, wieviel arbeitest du, wieviel davon sind Mehr- oder Überstunden und dann ganz konkret, wieviele Stunden davon sind nicht bezahlt. Wenn ArbeitnehmerInnen sagen, das ist durch mein All-In gedeckt, dann passt das. Wenn sie das Gefühl haben, dass dieses Volumen nicht gedeckt ist, geben sie die Stunden an, die nicht abgegolten werden.
KOMPETENZ: Gibt es Branchen, in denen es wahrscheinlicher ist, dass Mehr- und Überstunden nicht bezahlt oder nicht in Zeit abgegolten werden als in anderen?
BUXBAUM: Uns ist aufgefallen, dass bei Frauen die Vergütungsmoral von Mehr- und Überstunden schlechter ist als bei Männern. Klassische Frauenbranchen dürften also eine schlechtere Vergütungsmoral haben. Grundsätzlich ist es aber so, dass es diese Unart der Nichtvergütung in allen Branchen geben dürfte.
KOMPETENZ: Warum gibt es bei der Abgeltung von Überstunden eine tendenziell unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen?
BUXBAUM: Ich würde sagen, das ist eine Frage der Verhandlungsmacht. Frauen finden oft eine schlechtere Arbeitsmarktsituation vor und haben damit eine schlechtere Arbeitsmarktposition. Sie sind exponierter. Das dürfte einerseits damit zu tun haben, dass sie durch Teilzeitarbeit von betrieblicher Weiterbildung weniger profitieren können oder einen schwierigeren Zugang zu höheren Positionen haben. Oder sie finden, dass sie hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein Regime gefunden haben, das für sie passt und sie dafür die Nichtvergütung in Kauf nehmen. Es wird ihnen also manchmal deutlich schwerer gemacht, zu mehr Geld oder mehr Freizeit zu kommen.
KOMPETENZ: Ist es nur subjektiv so, dass Frauen sich in einer schlechteren Verhandlungsposition sehen oder haben hier Männer tatsächlich die besseren Karten?
BUXBAUM: Man muss sich da das wirtschaftliche Umfeld und die Rahmenbedingungen ansehen. Es ist jetzt so, dass wir nach wie vor rund 100.000 Arbeitslose mehr haben als vor der Finanzkrise 2008. Dadurch schwingt Unsicherheit mit. Und Unsicherheit macht biegsam. Ich fürchte, viele denken, es ist besser, im Arbeitsmarkt irgendwie drinnen zu sein, selbst wenn man mit Ungerechtigkeiten konfrontiert ist, als aufzubegehren und das Risiko einzugehen, den Arbeitsplatz zu verlieren.
„Uns ist aufgefallen, dass bei Frauen die Vergütungsmoral von Mehr- und Überstunden schlechter ist als bei Männern.“
Adi Buxbaum
KOMPETENZ: Wieviel Geld entging ArbeitnehmerInnen 2018 durch das Nichtvergüten von Mehr- und Überstunden – und wieviel ersparten sich damit Unternehmen?
BUXBAUM: Wenn man den Durchschnittsstundenverdienst von 15 Euro nimmt und den Überstundenzuschlag dazugibt, also 50 Prozent, bin ich bei 22,50 Euro. Wenn ich das mit dem Volumen von 43 Millionen Stunden multipliziere, komme ich auf rund eine Milliarde Euro. Die Unternehmen streifen also eine Milliarde Euro ein.
KOMPETENZ: Wie sehen die gesetzlichen Rahmenbedingungen derzeit aus: wo ist festgehalten, wann und in welchem Ausmaß Überstunden ausbezahlt bzw. mit Zeitausgleich abgegolten werden müssen?
BUXBAUM: Im Arbeitszeitgesetz ist geregelt, dass geleistete Überstunden bezahlt werden müssen, soferne es keine andere Vereinbarung gibt, etwa im Kollektivvertrag, in einer Betriebsvereinbarung oder im Einzelvertrag. Für Überstunden, die eine Tagesarbeitszeit von zehn Stunden oder eine Wochenarbeitszeit von 50 Stunden überschreiten, besteht ein gesetzliches Wahlrecht, ob eine Abgeltung in Geld oder Zeit erfolgen soll. Das Arbeitszeitgesetz sieht dabei einen Zuschlag in Höhe von 50 Prozent vor, in einigen Kollektivverträgen finden sich auch höhere Zuschläge.
KOMPETENZ: Und wann verfallen Überstunden?
BUXBAUM: Verfallsbestimmungen finden sich oftmals in Kollektivverträgen oder Einzelvereinbarungen. Der OGH hat diesbezüglich grundsätzliche eine Untergrenze von drei Monaten etabliert. Werden in diesem Zeitraum Ansprüche entsprechend geltend gemacht, kommen die allgemeinen Verjährungsfristen zur Anwendung. Wird nicht geltend gemacht, gehen die Ansprüche nach Verstreichen der Frist unter.
KOMPETENZ: Ist es grundsätzlich besser, wenn Überstunden ausbezahlt werden oder wenn sich ArbeitnehmerInnen dafür an einem anderen Tag frei nehmen können?
BUXBAUM: Was wir sehen, ist, dass die Arbeitszeitregime in Österreich immer noch sehr Arbeitgeber-gesteuert sind. Im Grunde genommen geht es um Autonomie. Menschen sind bereit, längere Blöcke intensiv zu arbeiten, wenn sie dann auch längere Blöcke der Freizeit und Erholung haben. So lange das nicht gewährleistet ist, ist es schwer zu sagen, was besser ist. Es gibt Lebensphasen, vielleicht die Hausbau-Zeit oder dann, wenn Kinder ein Studium absolvieren, wo es aus finanziellen Gründen interessant ist, Mehrarbeit in Geld abgegolten zu bekommen. Aber je älter man wird, umso mehr wird Freizeit zum höheren Gut. Daher ist es gut, hier individuell selbst bestimmen zu können.
Kollektiv wäre es besser, wenn es eine generelle Arbeitszeitverkürzung gäbe. Wir haben im europäischen Vergleich bei den Vollzeitbeschäftigten die drittlängsten Arbeitszeiten, sie arbeiteten 2018 im Schnitt 41,2 Stunden pro Woche. Wenn man ArbeitnehmerInnen befragt, sagen zwar sieben von zehn Menschen, dass sie gleich viel arbeiten wollen wie bisher. Allerdings sinkt die Zufriedenheit mit bestehenden Arbeitszeiten ab der 40. Arbeitsstunde in der Woche signifikant. Es ist eine Mär, dass alle noch Projekte fertig machen und lange arbeiten wollen.
KOMPETENZ: Spielt hier auch der Faktor Gesundheit eine Rolle?
BUXBAUM: Ja. Es ist auch kein Zufall, dass mit der Einführung des 12-Stunden-Tages immer mehr Leute sagen, ich schaffe es nicht mehr, bis zum gesetzlichen Pensionsalter in meinem Beruf zu arbeiten. 2018 meinten dies bereits 40 Prozent der ArbeitnehmerInnen, Basis für unsere Berechnung für den AK-Wohlstandbericht 2019 war eine Befragung der AK Oberösterreich im Rahmen des AK-Arbeitsklima-Index. Eigentlich haben wir erwartet, dass in der Hochkonjunktur die Arbeitsbedingungen besser werden, weil in den Unternehmen mehr finanzieller Spielraum da ist. Aber das Gegenteil ist passiert. Das dürfte die These bestätigen, dass in vielen Betrieben trotz guter Auftragslage die Personaldecke nicht ausreichend angehoben und dann mit Überstunden gepuffert wird.
Das überlange Arbeiten und der immer weiter steigende Druck in der Arbeitswelt spiegelt sich auch im Arbeitsklima-Index wider. Dieser zeigt einen deutlichen Knick von 2018 auf 2019. Ein Beispiel wäre etwa das Investieren in altersgerechte Rahmenbedingen am Arbeitsplatz – dem kommen manche Unternehmen nach, viele aber eben nicht.
Gegen diese Entwicklungen kann sich der Einzelne schlecht stemmen. Daher fordern wir auch generell die Einführung einer sechsten Urlaubswoche. Denn wir haben nicht nur eine hohe Wochenarbeitszeit, sondern auch eine hohe Jahresarbeitszeit. Hier liegen wir mit 1.738 Stunden im EU-Vergleich zum Beispiel noch vor den sehr wettbewerbsfähigen Staaten Deutschland (1.681 Stunden), Schweden (1.664 Stunden) und Dänemark (1.635 Stunden). Das liegt daran, dass es in Deutschland eine freie Woche mehr gibt, in Schweden sind es eineinhalb Wochen, in Dänemark sogar etwas mehr als zwei Wochen.
KOMPETENZ: Kann der Einzelne aber zumindest erreichen, dass seine Mehr- oder Überstunden abgegolten werden?
BUXBAUM: Alleine zu kämpfen, ist immer schwierig. Das hängt dann auch mit der individuellen Lebenssituation zusammen. Ein 55-Jähriger wird sich nicht trauen, groß aufzubegehren. Umgekehrt lässt sich die junge Generation so etwas tendenziell nicht sehr lange gefallen. Wobei mit dem nächsten Konjunkturabschwung auch hier wieder ein Turnaround kommen könnte – dass noch mehr Menschen verunsichert sind und vieles in Kauf nehmen. Wir hoffen, dass es nicht so sein wird.
Man merkt aber, dass die Vergütungsmoral in Unternehmen, in denen es einen Betriebsrat gibt, tendenziell besser ist. Sich in der Belegschaft gewerkschaftlich zu organisieren, ist hier also von Vorteil. Und wir merken auch, dass unsere Versuche, auf das Thema aufmerksam zu machen, Wirkung zeigen – grundsätzlich wird die Vergütungsmoral ja über die Jahre besser.
KOMPETENZ: Was kann man strukturell verändern, damit Arbeit, die geleistet wird, auch abgegolten wird?
BUXBAUM: Es gibt zwei Ebenen, auf denen man ansetzen kann. Das eine sind die Unternehmen selbst, da geht es um Respekt und Wertschätzung gegenüber den MitarbeiterInnen. Arbeit, die geleistet wird, die soll auch vergütet werden – sei es in Zeit oder Geld. Dabei geht es aber auch um eine realistischere Personalplanung. Es kommt oft zu einer Überforderung, weil die Personaldecke zu knapp bemessen ist. Es gibt hier aber auch Unternehmen, die innovative Arbeitszeitmodelle haben und die dann auch ökonomisch besser dastehen.
KOMPETENZ: Können Sie hier ein Beispiel nennen?
BUXBAUM: Ja, in Oberösterreich gibt es die Agentur eMagnetix. Dort wird 30 Stunden gearbeitet, aber ein Vollzeitgehalt bezahlt. Und das Unternehmen fährt gut damit und ist ein attraktiver Arbeitgeber in der Region.
„Wir haben deshalb gemeinsam mit dem ÖGB den #NoPayDay ins Leben gerufen. Der fiel heuer auf den 31. Oktober. Ab dem #NoPayDay werden die Mehr- und Überstunden nicht mehr bezahlt.“
Adi Buxbaum
KOMPETENZ: Was ist der zweite Punkt, an dem strukturell angesetzt werden sollte?
BUXBAUM: Handlungsbedarf gibt es auch auf der gesetzlichen Ebene. Wir brauchen effektivere – nicht planbare – Arbeitszeitkontrollen. Und es braucht bessere Mittel zur Abschreckung. Wenn jemand ArbeitnehmerInnen Ansprüche absichtlich vorenthält, soll er oder sie das Doppelte zahlen, wenn es eingeklagt wird. Das könnte eine Präventivwirkung haben.
Und wichtig ist grundsätzlich, das Problem zum Thema zu machen. Wir haben deshalb gemeinsam mit dem ÖGB den #NoPayDay ins Leben gerufen. Der fiel heuer auf den 31. Oktober. Ab dem #NoPayDay werden die Mehr- und Überstunden nicht mehr bezahlt. Und das macht sicher auch unter dem Weihnachtsbaum einen Unterschied, was da liegt, wenn die Menschen ihre Mehr- und Überstunden bezahlt oder eben nicht bezahlt bekommen. Schön wäre, wenn wir hier irgendwann einmal auf Null kommen – dass also jede geleistete Arbeitsstunde auch abgegolten wird.
Zur Person:
Adi Buxbaum, geb. 1979, studierte Volkswirtschaftslehre in Kombination mit internationaler Politik an der Wirtschaftsuniversität Wien und der Université Louis Pasteur in Straßburg/Frankreich. Seit 2003 in der Arbeiterkammer beschäftigt. Heute arbeitet er in der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien vorrangig zu Verteilungsfragen, dem Wohlfahrtsstaatsregimen und Investivem Sozialstaat sowie zu Arbeitszeitfragen. Zudem erstellt er Arbeitsmarktanalysen.