Rund ein Viertel der ArbeitnehmerInnen in der EU sind derzeit in Kurzarbeit. Trotz des Erfolgs der Maßnahme – langfristig muss man sich die Frage stellen: „Wer zahlt für diese Krise?“, warnt Politikwissenschafter Thorsten Schulten.
Es sind verblüffende Zahlen mit denen AMS-Vorstand Herbert Buchinger Ende April an die Öffentlichkeit geht. Rund einen Monat zuvor einigten sich Bundesregierung und Sozialpartner auf ein Corona-Kurzarbeits-Modell. Seither bewillige Buchingers Behörde nach eigenen Angaben bis zu 3.700 Kurzarbeitsanträge pro Tag. Statt bisher 20 waren Ende April 800 AMS-MitarbeiterInnen mit dem Abarbeiten der Anträge befasst. Ein Trend, der derzeit ganz Europa erfasst: Mehr als 42 Millionen ArbeitnehmerInnen befinden sich innerhalb der 27 EU-Staaten derzeit in Kurzarbeit oder einem vergleichbaren Modell. Das ist rund ein Viertel der gesamten EU-ArbeitnehmerInnenschaft. In Österreich sind es rund 1,3 Millionen KurzarbeiterInnen, knapp ein Drittel der Beschäftigten.
Gemeinsam mit Torsten Müller vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut (ETUI) in Brüssel verglich der Politikwissenschafter und Leiter des WSI-Tarifarchivs der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung Thorsten Schulten in einer Studie die Kurzarbeits-Modelle aller EU Länder. Kurzarbeit könne nicht nur Arbeitsplatzverlust verhindern, sondern sei auch „ein Instrument zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Stabilität“, erklärt Schulten gegenüber der KOMPETENZ.
Ein signifikanter Unterschied
Um die Vorteile der Kurzarbeit zu verdeutlichen, verweist Schulten auf die andere Seite des Atlantiks. Seit März haben in den USA mehr als 36 Millionen Menschen ihren Job verloren. Auch in Ländern mit Kurzarbeit stiegen die Arbeitslosenzahlen in Folge der Krise deutlich an, jedoch weit weniger drastisch als in den USA, einem Land, in dem das Modell maximal in einer sehr abgespeckten Version zum Einsatz kommt. Aus Sicht der UnternehmerInnen biete das Kurzarbeitsmodell den Vorteil, dass das Know-how der eigenen MitarbeiterInnen im Betrieb bleibt, erläutert Schulten.
Wie auch Österreich setzten viele der EU-Mitgliedsstaaten eigene Corona-Modelle auf, in der Hoffnung, eine Massenarbeitslosigkeit verhindern zu können. Im Rahmen des sogenannten SURE-Programms (European instrument for temporary Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency) stellte die EU ihren Mitgliedsstaaten insgesamt 100 Milliarden an Krediten für nationale Kurzarbeits-Modelle zur Verfügung. Die österreichische Bundesregierung machte insgesamt zwölf Milliarden Euro für heimische Unternehmen locker. So ging aus der Einigung der Sozialpartner und der Bundesregierung folgendes Modell hervor: Aus genannten Mitteln erhalten ArbeitnehmerInnen in Kurzarbeit weiterhin zwischen 80 bis 90 Prozent ihres Nettolohns, Lehrlinge das volle Gehalt. Zum Vergleich: Erwerbsarbeitslose beziehen nach dem Jobverlust nur noch zwischen 55 und 60 Prozent ihres Gehalts. Unternehmen können Kurzarbeit zunächst für drei Monate beanspruchen, eine Verlängerung um weitere drei Monate ist möglich.
Krise mit „völlig neuer Dimension“
Die Kurzarbeit hierzulande deckt sich größtenteils mit jenen Kriterien, die Schulten und Müller in ihrer Studie als Norm für ein arbeitnehmerInnenfreundliches Modell beschreiben. Demnach sollte eine Einigung auf sozialpartnerschaftlicher Basis getroffen werden und möglichst alle Branchen und Beschäftigungstypen umfassen. Beschäftigte sollen mindestens 80 Prozent des eigentlichen Lohns bekommen, wobei NiedrigverdienerInnen einen höheren Anteil beziehen sollten. Außerdem sollen laut Müller und Schulten jene Unternehmen, die Kurzarbeit beantragen, ihre Beschäftigten nicht kündigen dürfen – auch für eine gewisse Zeit nach Auslaufen der Kurzarbeiterregelung. Genau das gilt auch hierzulande: Beantragt ein Betrieb Kurzarbeit, darf dieser auch in den drei Monate nach der Kurzarbeit keine Beschäftigten entlassen. Dass MitarbeiterInnen nach der Kurzarbeit nicht gekündigt werden dürfen, sei auch „eine Verpflichtung der Unternehmen, eine entsprechende Gegenleistung zu bringen, ein Beitrag, den man von einem Unternehmen durchaus erwarten kann“, betont Schulten.
Laut Schulten begann das Modell Kurzarbeit nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und 2009 seinen „Siegeszug durch Europa“. Ein Großteil der mittel- und osteuropäischen Länder setzten auf diese Maßnahme, um eine drohende Massenarbeitslosigkeit zu verhindern – vielfach mit Erfolg. Der Vergleich zu 2008/2009 jedoch hinkt, wie Schulten klarstellt. War vor rund zwölf Jahren überwiegend die Industrie von der Krise betroffen, ist die derzeitige Krise „viel umfassender“. Sie betrifft neben der Industrie auch den Tourismus, die Gastronomie, die Dienstleistungs-Branche und den Einzelhandel. „Diese Krise“, warnt Schulten, „hat eine völlig neue Dimension“.
„Am Ende jeder Krise brechen Verteilungskonflikte besonders stark auf“
Thorsten Schulten
Unmittelbar ist die Kurzarbeit ein „unglaublich wertvolles Instrument“, erklärt Schulten, aber sie ist vor allem eines: „ein Übergangsinstrument“. Hält die Pandemie an, werden mittelfristig auch trotz Kurzarbeit Unternehmen insolvent gehen, MitarbeiterInnen entlassen. Dann seien andere, zusätzliche Mittel nötig. Die große Frage laute dann: „Wer zahlt für diese Krise?“
„Am Ende jeder Krise brechen Verteilungskonflikte besonders stark auf“, erklärt Schulten. Vorboten sind bereits erkennbar, etwa wenn es darum geht, ob Unternehmen, die Kurzarbeit beantragten, trotzdem Gewinne an AktionärInnen ausschütten dürfen. In Dänemark oder Schweden kennt der Gesetzgeber hier kein Pardon: Kurzarbeit oder Dividenden – beides geht nicht. Auch in Österreich ist diese Debatte längst entbrannt. So schickte das Unternehmen Pierer Mobility die gesamte Belegschaft in Kurzarbeit – und kündigte eine Ausschüttung von 6,8 Millionen Euro an. Nach öffentlichem Druck überlegte es sich Vorstand Stefan Pierer dann doch anders. Statt neoliberale Dogmen wiederzubeleben und die Kosten der Krise auf die ArbeitnehmerInnen abzuwälzen, plädiert Schulten dafür, „die Unternehmen nicht aus der Verantwortung zu befreien“.