10 Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers und dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise sind Politik und Wirtschaft wieder zur Tagesordnung übergegangen. Von den Lehren aus der Krise möchte kaum noch jemand etwas hören.
„Wir betreten eine neue Welt.“ So prophezeite der französische Ex-Präsident Nicolas Sarkozy im Jahr 2008 kurz nach dem Zusammenbruch des globalen Finanzsystems den Beginn einer neuen Ära. Die Ära der leeren Versprechungen. Für eine Weile kam kein Staatsoberhaupt umhin, sich öffentlich für eine Neustrukturierung der Finanzwelt auszusprechen. Allen voran Sarkozy, der verkündete, man müsse das ganze weltweite Finanz- und Währungssystem von Grund auf neu aufbauen und der Vorstellung, dass der Markt immer Recht hat, ein Ende setzen. Eine traumhafte Vorstellung damals und das sollte sie auch bleiben.
Der Fall von Lehman Brothers
Zehn Jahre ist es nun her, dass der Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers eine weltweite Kettenreaktion auslöste. Den ersten Dominostein stellte dabei das Platzen einer Spekulationsblase im Immobiliensektor in den USA dar, infolge dessen sich die Krise wie ein Lauffeuer in der globalen Finanzwelt ausbreitete. Zuvor waren Kredite immer risikoreicher vergeben, dann in neue Pakete verpackt und weitergehandelt worden. Nach einer starken Anhebung des Leitzinses gerieten mehr und mehr Personen in Zahlungsschwierigkeiten. Ein Schuldschein nach dem anderen erwies sich als wertloser als das Papier auf dem er geschrieben wurde; eine Anleihe als 100-mal weniger wert, als sie es zu den wildesten Spekulationszeiten in den Köpfen der Anleger war, und die Sicherheiten als Fundament der Banken wirkten wie auf Treibsand gebaut.
Als das globale Ausmaß dieser Krise ersichtlich wurde, kamen im Rahmen der G20 die mächtigsten Staatsoberhäupter der Welt zusammen. Ihr Ziel war, dieses Lauffeuer in den Griff zu bekommen und ein neues Zeitalter der globalen ökonomischen Stabilität einzuleiten. Was übrig blieb, waren große Worte und kleine Taten. „Hochspekulative Hedgefonds sollen reguliert werden. Wir benötigen globale Kontrollgremien, die der grenzüberschreitenden Verflechtung der Finanzindustrie Rechnung tragen“, so die Versprechungen in der Erklärung der G20.
In Österreich stellte man eine Betroffenheit durch das Platzen der Blase in den USA zuerst in Abrede, bevor dann eine Bank nach der anderen unter den Schutzschirm der staatlichen Beihilfe huschte. Insgesamt mussten in Österreich öffentliche Gelder in der Höhe von 14,1 Milliarden Euro für die Rettung der Banken aufgewendet werden. In den folgenden Jahren flossen 4,1 Milliarden Euro durch die Stabilitätsabgabe (vulgo „Bankenabgabe“) wieder an den Fiskus zurück. Die Stabilitätsabgabe wurde im Jahr 2016 quasi abgeschafft, bevor die vollständige Summe wieder zurückbezahlt war, trotz Millionengewinnen bei Banken und hohen Boni-Auszahlungen. Als Konsequenz stieg die Staatsverschuldungsquote stark an, die Arbeitslosigkeit schoss in die Höhe und zurück blieb eine insgesamt ärmere Gesellschaft.
Die Reaktionen in der EU
In der EU wurde als Antwort auf die Krise die Bankenunion geschaffen, in welcher die Aufsicht über systemrelevante Banken bei der Europäischen Zentralbank (EZB) konzentriert wurde. Neben einer Harmonisierung der Einlagensicherung trat außerdem eine Abwicklungsrichtlinie in Kraft, welche eine Intervention bei einer krisenbetroffenen Bank ermöglichte und außerdem eine Abwicklung einer insolventen Bank ohne die Verwendung von öffentlichen Geldern vorsah. Durch dieses Bail-in-Programm sollte in Zukunft keine Bank mehr mithilfe von Steuergeld gerettet werden. Darüber hinaus wurde das Regelwerk Basel II, welche die Qualität des Eigenkapitals der Banken heben sollte, erweitert. Durch den verbesserten Risikopuffer sollten systemische Risiken reduziert werden.
Reiche retten
Doch diese Maßnahmen sollten sich als Tropfen auf dem heißen Stein herausstellen. Die Aufsicht über systemrelevante Banken hat sich schlicht von einer nationalen auf eine internationale Ebene verschoben, wobei die nationalen Aufseher nun auf europäischer Ebene stark für ihre nationalen Banken lobbyieren. Und das Versprechen, nie wieder eine Bank mit Steuergeld zu retten, sollte sich ebenso als falsch erweisen. Als die italienische Bank Monte dei Paschi di Siena im Jahr 2016 nach der neuen Abwicklungsrichtlinie behandelt und die Gläubiger an den Kosten beteiligt werden sollten, setzten sich die italienische Aufsicht und die Regierung dafür ein, die Bank doch mit Steuergeld aufzufangen. Im Ausnahmefall ist nach diesem Bail-in-Programm zwar noch eine Kapitalhilfe aufgrund bestimmter Gründe möglich, keiner dieser Gründe lag aber offensichtlich vor.
Warum wurden also die Gläubiger vor einer Beteiligung bewahrt? Eine Untersuchung kam zu dem Schluss, dass die Gläubiger zu den Top 12 Prozent, also zu den reichsten der italienischen Haushalte zählten. „Warum Renzi lieber Reiche rettet“ titelte damals Maria Kader zu dem Fall im Mosaik-Blog. Das öffentlich erzeugte Medienbild über die Gläubiger der Bank stimmte also mit der Realität nicht ganz überein.
Auch das Bild der Finanzkrise hat sich in den 10 Jahren stark verändert. Gab es zu Beginn noch große Versprechungen einer völligen Umstrukturierung und einem Ende des Zeitalters der Spekulation, so traten Forderungen nach Regulierungen mit der Zeit immer mehr in den Hintergrund. Die finanzielle Last der Bankenrettung wurde von der Öffentlichkeit übernommen und diese musste nun einen Weg finden, damit umzugehen. Lag die österreichische Staatsverschuldung vor der Krise noch etwa bei 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts, so kletterte diese auf über 80 Prozent im Jahr 2010. Die Macht der Finanzmärkte war ungebrochen und so mussten laut dem Diktat der Finanzmärkte Sparmaßnahmen der Staaten folgen, denn „ein Nachlassen bei den haushaltspolitischen Zielen würde umgehend Reaktionen an den Märkten auslösen“, so Mario Draghi, ehemaliger Vizepräsident von Goldman Sachs International und EZB- Chef seit 2011. Die Krise wurde von einer Bankenkrise zu einer Staatsschuldenkrise umgedeutet, die dem Fehlverhalten der Staaten und ihrer BürgerInnen geschuldet war. Stieg die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien aufgrund der Krise auf 50 Prozent, so war das angeblich die Schuld des großzügigen Sozialstaatmodells. „Es gab mal eine Zeit, da sagte (der Ökonom) Paul Dornbusch, Europäer sind so reich, dass sie es sich leisten können, jeden Einzelnen fürs Nichtstun zu bezahlen. Doch das ist vorbei“, so Draghi in einem Interview mit dem Wall Street Journal. Er beendete das Interview mit dem Zitat: „Die Krise hat gezeigt, dass das vielgepriesene europäische Sozialstaatmodell ausgedient hat.“
Und so war die Erzählung der Staatsschuldenkrise komplett. Vergessen waren die leeren Versprechungen von Nicolas Sarkozy und den anderen G20-Mitgliedern. Die Schuld sei nicht bei einem entfesselten internationalen Finanzsystem zu finden, welches durch den Handel mit riskanten und gefährlichen Finanzprodukten Wirtschaft und Gesellschaft in den Abgrund zu reißen drohe. Stattdessen sei nun das Sozialstaatsmodell an allem Schuld. Es brauche keine Regulierungsmaßnahmen wie etwa die Finanztransaktionssteuer oder ein Verbot des Handels mit hochspekulativen Finanzprodukten. Dafür ging die Politik dazu über, Sozialleistungen zu kürzen, Arbeitsrechte aufzuweichen und öffentliches Eigentum zu verscherbeln.
Kürzungen auch in Österreich
Die österreichische Debatte wird dabei von den Kosten für die Sozialversicherungen, für das Pensionssystem und für die Versorgung von Geflüchteten dominiert. Die türkis-blaue Regierung ist gegen eine Mindestsicherung und Notstandshilfe in einem Ausmaß, das ein würdevolles Leben ermöglicht. Unabhängig davon, wie es zu dem Umstand der Arbeitslosigkeit kam. Denn ein Mensch ohne Arbeit ist gemäß ihrer neoliberalen Ideologie als würdeloser Mensch zu behandeln, der an seiner Situation selbst schuld ist. Und somit wird die Person privat ruiniert und steht gleichzeitig öffentlich am Pranger bis sie ein Arbeitsverhältnis eingeht, egal wie schlecht die Arbeitsbedingungen in diesem auch sein mögen. Soziale Absicherung zu beseitigen ist ein erklärtes Ziel, denn ohne diese Absicherung sind die Menschen den Bedingungen der Konzerne ausgeliefert. Wie diese aussehen, kann man in den Textilfabriken in Bangladesh oder in den chinesischen Werken zur Herstellung von Handys sehen. Die ersten Ziele wurden dabei bereits getroffen: Kindergärten, Schulen, Fraueninitiativen, selbst Krisenpflegefamilien, die Kinder in Not bei sich aufnehmen, sie alle sind von Einschnitten betroffen. Der öffentliche Aufschrei hält sich dabei in Grenzen. Die Idee der Staatsschuldenkrise und der Kürzungspolitik als einzige Maßnahme ihrer Beseitigung hat sich so stark in den Köpfen der Menschen manifestiert, dass scheinbar gar keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als in all diesen Bereichen Leistungen zu kürzen. Und so verwundert einen die große Zustimmung in der Bevölkerung für die jetzigen Maßnahmen auch nicht sonderlich. „Es kann sich ja niemand mehr was leisten“, ist dabei die gängige Meinung. Wobei dies tatsächlich für einen Großteil der Gesellschaft mehr und mehr der Fall ist. Die Finanzkrise und die darauffolgenden Jahre brachten nämlich vor allem eines: eine Umverteilung von Kapital von unten nach oben. Die Kosten für den Erhalt dieses Systems wurden von der Allgemeinheit getragen und nun wird diese erneut zur Kassa gebeten, in der Form von Reduktionen der Leistungen im Sozial- und Pensionsbereich. Unabhängig davon, wie viel Widerstand oder von welcher Seite dieser kommt.
Unrealistische Vorhaben
So sprach Rechnungshof-Präsidentin Margit Kraker vor kurzem von einem Wunschdenken der Regierung bei dem von ihnen propagierten Sparpotenzial von einer Milliarde bei den Sozialversicherungen. Sie sei „sehr skeptisch“ bei dieser Zahl, da der Verwaltungsaufwand in der gesamten Sozialversicherung gerade einmal 750 Millionen beträgt. Und so wird es wohl bei den angestrebten Kürzungen so kommen, wie es Wolfgang Schüssel 2008 im Parlament prophezeit hat: Nämlich dass für die Staatsschulden entweder künftige Generationen bezahlen werden oder die vielen kleinen Leute. Im Hinblick auf die jüngsten Einsparungen trifft beides zu, denn zukünftige Generationen werden nur schwer dieselben Leistungen wie in der Vergangenheit in Anspruch nehmen können, wenn diese Maßnahmen nicht endlich gestoppt werden können.