Es braucht fantasievolle Modelle zur Bewältigung der Pflegeaufgaben

Tom Schmid ist Professor für Sozialpolitik und Pflegeexperte.
Foto: Nurith Wagner-Strauss

Pensionsexperte und Sozialwissenschafter Tom Schmid erklärt, warum eine Pflegeversicherung ohne Beitragserhöhung unrealistisch ist, warum ein steuerfinanziertes System langfristig günstiger ist und wie alternative Zukunftsmodelle zur Gestaltung der Pflege aussehen könnten.

KOMPETENZ: Ex-Kanzler Sebastian Kurz hat die Einführung einer Pflegeversicherung als vierte Säule der Sozialversicherung vorgeschlagen. Was halten Sie davon?

Tom Schmid: Der Vorschlag reiht sich in die Reihe undurchdachter und unkonkreter politischer Schnellschüsse ein, für die Kurz bekannt ist. Das Schlagwort einer „Pflegeversicherung“ soll nach einer guten Idee klingen, Kurz hat aber nicht dazu gesagt, welche Beiträge es zur Finanzierung bräuchte und wer diese zahlen sollte.

Die Diskussion, ob Pflege über eine Sozialversicherung oder über Steuern finanziert werden solle, ist nicht neu. Bereits bei der Einführung des Pflegegeldes 1993 wurde darüber diskutiert. Man hat sich damals für die Steuerfinanzierung entschieden, um keine zusätzliche Bürokratie und keine höheren Lohnnebenkosten zu schaffen. Seit damals werden die Pflegeleistungen über die Gemeinschaft der Steuerzahler finanziert Gegenwärtig machen die Ausgaben von Bund und Ländern für die Pflege rund vier Milliarden Euro aus, dazu kommt eine weitere Milliarde, die von Privaten finanziert wird.

„Männer müssen damit rechnen, die letzten 10 Jahre, Frauen die letzten 5 Jahre ihres Lebens pflegebedürftig zu sein, vor allem wegen chronisch-degenerativer Erkrankungen wie Diabetes oder Demenz.“

Tom Schmid

KOMPETENZ: Welche zusätzlichen Beiträge bräuchte es für ein Pflege-Versicherungssystem?

Tom Schmid: Diese vier Milliarden Euro in das System der Sozialversicherung einzugliedern, würde eine Erhöhung der Beiträge um sechs Prozentpunkte bedeuten. Die Verteilung dieser zusätzlichen Beiträge zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern ist noch völlig offen. Kurz argumentiert, dass der AUVA aufgrund der rückläufigen Zahl an Arbeitsunfällen rund 300 Millionen Euro im Jahr übrig blieben. Er sagt aber nicht dazu, dass dies nicht einmal ein Zehntel der zu erwartenden Kosten für eine Pflegeversicherung wäre. Der Rest, also zumindest dreieinhalb Milliarden müsste – wie bisher – aus dem Bundesbudget kommen. Oder eben über deutlich erhöhte Sozialversicherungsbeiträge.

KOMPETENZ: Wer müsste die zusätzlichen Kosten tragen?

Tom Schmid: Kurz hat nicht auf den Tisch gelegt, wer die Kosten für eine Pflegeversicherung übernehmen soll. Die Erfahrung zeigt, dass der Alt-Kanzler knallhart die Interessen der Wirtschaft vertritt – höhere Dienstgeberbeiträge sind also nicht zu erwarten. Für die Versicherten hieße das in letzter Konsequenz, zusätzlich zu den gegenwärtigen rund 18 Prozent Sozialbeiträgen bis zu sechs Prozent weiterer Sozialbeiträge zu zahlen.  Und das wäre erst der Anfang. Aus demografischen Gründen – die stark besetzten Geburtsjahrgänge der frühen 60er Jahre werden alt – ist um 2045 mit einer Verdoppelung der Zahl pflegebedürftiger Menschen zu rechnen. Das über eine Sozialversicherung abzudecken hieße, in 30 Jahren bereits rund 12 Prozentpunkte zusätzliche Beiträge zu zahlen.

KOMPETENZ: Die Unfallversicherung administriert doch auch jetzt bereits Pflegegeldanträge. Könnten die das nicht administrieren?

Tom Schmid: Ja, aber nur rund 20.000 der insgesamt 400.000 Pflegegeldfälle pro Jahr. Die Mehrzahl der Pflegegeldleistungen wird von der Pensionsversicherung verwaltet, dort gibt es bereits den entsprechenden Verwaltungsapparat, der bei der AUVA erst aufgebaut werden müsste. Die PVA hat die ExpertInnen, die Einstufungen und Bewertungen durchführen. Warum sollte man dafür in der Unfallversicherung eine neue Administration aufbauen?

Sozialexperte Tom Schmid im KOMPETENZ-Interview
Fotos: Nurith Wagner-Strauss

KOMPETENZ: Die Fachleute könnten einfach für einen anderen Träger arbeiten.

Tom Schmid: Das wäre nicht sinnvoll, weil die ExpertInnen der Pensionsversicherung auch verwandte Themenbereiche wie Rehabilitation abwickeln.

KOMPETENZ: Braucht es ein neues Konzept für die Zukunft der Pflege?

„Die Probleme der Gegenwart sind nur ein Wetterleuchten der Probleme in 25 Jahren. Heute bewältigen Angehörige bei 44 Prozent aller Pflegebedürftigen die Betreuung alleine.“

Tom Schmid

Tom Schmid: Die überwiegende Pflegearbeit wird in den Familien geleistet, weil die Betroffenen und ihre Angehörigen dies so wünschen. Aber in 20 bis 25 Jahren wird es doppelt so viele pflegebedürftige Menschen geben wie heute, wenn die geburtenstarken Jahrgänge alt werden und gleichzeitig eine Generation mit relativ wenigen Kindern heranwächst, welche die Pflege übernehmen könnten.

KOMPETENZ: Wie sieht der Pflegebedarf in den nächsten Jahrzehnten aus?

Tom Schmid: Die Probleme der Gegenwart sind nur ein Wetterleuchten der Probleme in 25 Jahren. Heute bewältigen Angehörige bei 44 Prozent aller Pflegebedürftigen die Betreuung alleine, weitere 37 Prozent leben betreut von Diensten und Familien zu Hause.

Männer müssen damit rechnen, die letzten 10 Jahre, Frauen die letzten 5 Jahre ihres Lebens pflegebedürftig zu sein, vor allem wegen chronisch-degenerativer Erkrankungen wie Diabetes oder Demenz. Allein aus demografischen Gründen werden die Familien um 2040 erheblichen außerfamiliären Beistand zur Bewältigung der Pflegeaufgaben benötigen.

Wir müssen daher die Pflegedienste ausbauen und vor allem intensiv über alternative Modelle nachdenken.

KOMPETENZ: Welche Modelle könnten das sein?

Tom Schmid: Ich denke da an Wohngemeinschaften oder an Garconnierenverbünde für ältere Menschen und auch an die Möglichkeit, nahe Angehörige mit ins Pflegeheim zu nehmen und dort gemeinsam zu wohnen. Wenn ein Partner beispielsweise in Pflegestufe 4 eingereiht ist und der/die PartnerIn „nur“ Pflegestufe 2 hat, können die beiden derzeit nicht gemeinsam in einem Pflegeheim wohnen. Für viele bedeutet das eine plötzliche Trennung nach Jahrzehnten gemeinsamen Lebens. Wären individuelle Lösungen möglich, könnten beide PartnerInnen im Pflegeheim wohnen und ein Teil der Pflege würde (wie bisher) vom Angehörigen erledigt werden, allerdings je nach Bedarf unterstützt durch professionelle Betreuung.

Für diese Thematik braucht es eine Reihe fantasievoller Lösungen: Denkbar wäre beispielsweise, die Rolle des Hausbesorgers derart aufzuwerten, dass er für demente Personen, die kaum gepflegt, aber ständig beaufsichtigt werden müssen, als familienentlastende Hilfe zur Verfügung stünde. Diese Dienste könnten dann von der Hausverwaltung über die Betriebskosten der Solidargemeinschaft in einem Wohnhaus abgerechnet werden.

KOMPETENZ: Wie könnten derartige Modelle finanziert werden?

Tom Schmid: Wo man das Geld für den zusätzlichen Bedarf an Pflegeleistungen hernimmt, muss man sich genau anschauen. Denkbar ist eine Finanzierung über eine Erbschaftssteuer. Früher wurden die Kosten für die stationäre Pflege vom Erbe abgezogen, heute ist der Regress im Fall von Pflegebedürftigkeit abgeschafft, eine solidarische Steuerfinanzierung durch die erbende Generation wäre also vertretbar. Möglich wäre auch eine Finanzierung über die Umsatzsteuer.

KOMPETENZ: Warum funktioniert eine Finanzierung der Pflege aus dem Steuertopf aus Ihrer Sicht besser?

Tom Schmid: Geld aus dem allgemeinen Steuertopf hat im Gegensatz zu Geldern aus einem Versicherungstopf kein „Mascherl“, also keine Zweckwidmung. Der Vergleich der internationalen Gesundheitsleistungen zeigt überdies, dass steuerfinanzierte Systeme – wie etwa die skandinavischen – bei gleicher Versorgungsqualität deutlich billiger sind als beitragsfinanzierte, wie dies in Mitteleuropa üblich ist.

KOMPETENZ: Was spräche noch gegen eine Pflegeversicherung?

SCHMID: Wenn Versicherte einkommensabhängige Beiträge zur Sozialversicherung leisten, wollen sie auch, dass die Geldleistungen, die sie zu erwarten haben, in einem Verhältnis zu den Beiträgen stehen. Das sieht man bei den typischen Geldleistungen Arbeitslosengeld und Pension: Wer mehr verdient hat, erwartet höhere Leistungen. Nun ist aber das Pflegegeld einkommensunabhängig und nur vom Schweregrad des Pflegebedarfs abhängig. Wird es aus einer Versicherung finanziert, erwarten sich Besserverdienende – aus ihrer Sicht mit Recht, denn sie haben ja höhere Beiträge geleistet – bei gleicher Pflegestufe ein höheres Pflegegeld. Das würde unser System erst recht unfinanzierbar machen. Stellen wir uns vor, der alternde Herr Kurz bekäme dann das dreifache Pflegegeld wie sein gleich alter, gleich dementer Chauffeur. Wollen wir so eine Gesellschaft?

„Eine Umstellung auf Sachleistungen wäre extrem teuer. Derzeit deckt das Pflegegeld pro Stufe etwa 15 Prozent der tatsächlichen Kosten ab.“

Tom Schmid

KOMPETENZ: Was wäre mit Menschen, die gar keine Beiträge bezahlt haben?

Tom Schmid: In einem einkommensabhängigen Modell der Pflegefinanzierung müsste ein zweites, staatliches Netz für nicht versicherte oder arbeitslose Personen geschaffen werden. Diese Menschen würden dann nur eine Minimalpflege erhalten.

KOMPETENZ: Wäre die Umstellung auf Sachleistungen eine sinnvolle Alternative?

Tom Schmid: Eine Umstellung auf Sachleistungen wäre extrem teuer. Derzeit deckt das Pflegegeld pro Stufe etwa 15 Prozent der tatsächlichen Kosten ab, das Gesetz spricht daher von einem „Zuschuss zu pflegebedingten Mehraufwendungen“. Bei einer Umstellung auf Sachleistungen müsste man die Leistungen erheblich kürzen oder die Kosten erheblich erhöhen, entweder durch höhere Versicherungsleistungen oder durch deutlich höhere Zuzahlungen der Betroffenen.

Zur Person:

Tom Schmid wurde 1955 in Wien geboren und hat Volkswirtschaften sowie Politikwissenschaft und Geschichte studiert. Er ist Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule St. Pölten, hat weitere Lehraufträge und ist als Geschäftsführer von „DAS BAND“ tätig. Seine wissenschaftliche Expertise zeigt sich in zahlreichen Forschungsprojekten zu sozialwissenschaftlichen Themen und der Teilnahme an Beratungsgremien zur sozialpolitischen Entscheidungsfindung.

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