Ingrid Reischl, bis Jahresende Vorsitzende im Dachverband der Sozialversicherungsträger, fordert vom Bund einen raschen und umfassenden Ausgleich jener Kosten, die aufgrund der Covid-19 Krise in der Sozialversicherung anfallen.
Das Leistungsniveau der Krankenversicherung müsse weiter angeglichen und die Prävention ausgebaut werden. Selbstbehalte und Leistungskürzungen lehnt die Leitende Sekretärin für Grundsatzfragen im ÖGB als unsozial ab.
KOMPETENZ: Welche Auswirkungen hat die Corona Pandemie auf die Sozialversicherung?
Reischl: ExpertInnen rechnen mit Kosten von 600 Millionen bis zu einer Milliarde Euro – alleine für die Gesundheitskasse. Durch die Pandemie sinken die Einnahmen in allen drei Sparten, vor allem aber in der Krankenversicherung beträchtlich, gleichzeitig steigen die Ausgaben.
KOMPETENZ: Warum sinken die Einnahmen?
Reischl: Die Beiträge in der Kranken- und Pensions- und Unfallversicherung sinken, weil mehr Menschen arbeitslos sind oder Einkommensverluste hinnehmen müssen – dadurch verringert sich die Beitragsgrundlage beträchtlich. Alleine im April waren die abgeführten Beiträge um 9,1 Prozent niedriger als im Voranschlag errechnet.
Auch viele Betriebe kämpfen mit den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und haben daher um eine Stundung der Sozialversicherungsbeiträge angesucht. Rechnet man diese Stundungen hinzu, liegt das Minus der Beitragseinnahmen im April sogar bei 17,2 Prozent.
KOMPETENZ: Sind diese Beiträge für die Sozialversicherung verloren oder werden sie nur später bezahlt?
Reischl: Noch lässt sich nicht seriös abschätzen, welcher Anteil der gestundeten Beiträgen nicht mehr hereinkommen wird, weil einige Firmen in Konkurs gehen könnten. Diese Beiträge müssten die Versicherungen dann abschreiben, sie wären für die Solidargemeinschaft verloren.
„ExpertInnen rechnen mit Kosten von 600 Millionen bis zu einer Milliarde Euro – alleine für die Gesundheitskasse.“
Ingrid Reischl
KOMPETENZ: Welche Faktoren sind für die steigenden Kosten verantwortlich?
Reischl: Wir spüren – gerade in der Österreichischen Gesundheitskasse – die Auswirkungen des Fusionsgesetzes SV-OG der vergangenen türkis/blauen Bundesregierung. Dazu zählt der erhebliche Mittelentzug im Bereich der Krankenversicherung, welchen wir bis 2024 auf in Summe rund eine halbe Million schätzen. Das umfasst etwa auch mehr Geld für die Privatkrankenanstalten – hier zahlen Millionen Versicherte für einige wenige Privilegierte. Aber auch die Fusion selbst hat erhebliche Kosten verursacht. Und natürlich hat auch die Corona-Krise selbst Mehrkosten verursacht.
KOMPETENZ: Bedroht die Corona Pandemie die Soziale Sicherheit in Österreich?
Reischl: Kurzfristig nicht, aber wir brauchen eine Perspektive für die Zeit nach der Krise. Für diese Legislaturperiode wurden Selbstbehalte ausgeschlossen, danach gibt es keine Sicherheit, dass nicht die Ärmsten zur Kasse gebeten werden, um die sich abzeichnenden Verluste auszugleichen. Daher bemühen wir uns bereits jetzt um Lösungen, wer die Mehrkosten übernehmen wird.
KOMPETENZ: Derzeit werden Selbstbehalte in der Krankenversicherung öffentlich nicht diskutiert.
Reischl: Das ist richtig, doch es ist absehbar, dass die Mittel im System knapper werden, wenn nicht gegengesteuert wird. Die Krankenversicherung ist zu einer einnahmenorientierten Ausgabepolitik verpflichtet. Wenn zuwenig Geld da ist, tendieren rechtskonservative Regierungen dazu im Leistungsrecht zu sparen – Selbstbehalte würden dann öffentlich als einziger Weg aus der Krise dargestellt werden.
Auch in der Pensionsversicherung könnten längerfristig sinkende Einnahmen zum Wiederaufflammen einer Diskussion über die Höhe der Pensionen führen. In der Unfallversicherung würden weitere Versorgungsleistungen eingespart – das wollen wir verhindern.
Wir spüren – gerade in der Österreichischen Gesundheitskasse – die Auswirkungen des Fusionsgesetzes SV-OG der vergangenen türkis/blauen Bundesregierung.
Ingrid Reischl
KOMPETENZ: In welchen Bereichen des Sozialsystems führt die Covid-19 Pandemie noch zu finanziellen Engpässen?
Reischl: Auch die Spitalsfinanzierung ist betroffen. Sowohl die Krankenversicherung wie auch Bund und Länder zahlen in die gemeinsame Spitalsfinanzierung ein. Wir sehen aber: nicht nur die Beiträge, sondern auch die Steuereinnahmen sinken. Es wird das Geld auch dort knapp werden. 2021 gibt es wieder Verhandlungen zur Aufteilung der Spitalskosten, da muss bereits jetzt darüber nachgedacht werden, wie die Löcher gestopft werden könnten. Der Kostendruck wird enorm sein, denn die Spitäler müssen mehr Intensivbetten bereitstellen – das hat die Corona Pandemie deutlich gezeigt.
KOMPETENZ: Wer soll die durch Covid-19 verursachten Mehrkosten übernehmen?
Reischl: Die Bundesregierung vergibt Finanzhilfen an private Unternehmen, also muss auch die Sozialversicherung als wichtiger Garant der sozialen Sicherheit in diesem Land, finanziell unterstützt werden. Die Sozialversicherung kann die Zusatzkosten nicht alleine tragen, der Bund muss hier mit einem Staatszuschuss einspringen um in der aktuellen Sozial- und Wirtschaftskrise das Herzstück unseres Sozialstaates abzusichern.
KOMPETENZ: Wie wollen Sie das erreichen?
Reischl: Wir erstellen derzeit ein Zahlengerüst, das alle durch Covid-19 verursachten Mehrbelastungen und Mindereinnahmen veranschaulicht. Mit dieser Übersicht werden wir im Herbst das Gespräch mit der Bundesregierung suchen um die Liquidität der Kranken-, Pensions- und Unfallversicherung langfristig abzusichern. Wir wollen nicht, dass finanzieller Druck entsteht, der sich in Kürzungen für die Menschen niederschlägt.
„Die Bundesregierung vergibt Finanzhilfen an private Unternehmen, also muss auch die Sozialversicherung als wichtiger Garant der sozialen Sicherheit in diesem Land, finanziell unterstützt werden.“
Ingrid Reischl
KOMPETENZ: Gibt es weitere negative Auswirkungen der Covid-19 Krise auf das Gesundheitssystem?
Reischl: Die aktuelle Situation führt dazu, dass die Menschen aus Angst vor einer Ansteckung viel weniger zum Arzt gehen. Das kann dazu führen, dass wichtige Vorsorgeuntersuchungen und Behandlungen aufgeschoben werden. Das ist nicht gut für die Gesundheit der Menschen. Wenn die Krise noch länger dauert, habe ich massive Sorge, dass es zu Folgeschäden kommt, die neben höheren Kosten für das System viel menschliches Leid verursachen würden.
KOMPETENZ: Welche Verhandlungsposition haben die VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen in der Sozialversicherung?
Reischl: Die Anliegen der ArbeitnehmerInnen werden von den derzeit politisch Verantwortlichen wenig gehört. Die Arbeitgeber dominieren mittlerweile alle Entscheidungsgremien in der Sozialversicherung. So ist es möglich, dass zweifelhafte Deals zugunsten einzelner Wirtschaftszweige durchgesetzt werden, welche die Allgemeinheit stark belasten.
Vor ein paar Wochen wurde beispielweise das sogenannte Preisband für Medikamente hinter dem Rücken der Sozialversicherung verlängert. Das bringt der Krankenversicherung jährliche Mindereinnahmen von 55 Millionen Euro, den Pharmakonzernen aber eine Ertragssteigerung. Diese Mittel könnte man sinnvoller einsetzen.
KOMPETENZ: Zum Beispiel wo?
Reischl: Im Bereich innovativer Medikamente und bei Forschung & Entwicklung könnte weit mehr investiert werden. Auch bauliche Vorhaben in der Sozialversicherung müssen weitergeführt werden. Das schafft Arbeitsplätze und sichert das Leistungsniveau – wir können uns keinen Stillstand leisten.
Langfristig brauchen wir einen sinnvollen finanziellen Ausgleich zwischen den Krankenversicherungsträgern, wie es ihn in Deutschland oder der Schweiz längst gibt. Eine Studie aus dem Sozialministerium über die Verbesserungsmöglichkeiten im österreichischen Sozialversicherungs- und Gesundheitssystem hat so einen Ausgleich empfohlen um gleiche Leistungen für alle sicherzustellen. Wir arbeiten auch daran, die Leistungen der Krankenversicherungen weiter anzugleichen – ein wichtiger Schritt zu mehr Gerechtigkeit.
„Langfristig brauchen wir einen sinnvollen finanziellen Ausgleich zwischen den Krankenversicherungsträgern, wie es ihn in Deutschland oder der Schweiz längst gibt.“
Ingrid Reischl
KOMPETENZ: Wo sehen Sie noch Veränderungsbedarf?
Reischl: Im Ausgleich zwischen den einzelnen Sozialversicherungssparten gibt es ebenfalls Verbesserungspotential, wie etwa bei den Arbeitsbedingten Erkrankungen. Es ist etwa nicht einzusehen, dass die Krankenversicherung alleine die Kosten für Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates oder bei Burn-Out trägt, die eindeutig durch schlechte Arbeitsbedingungen verursacht wurden.
Hinzu kommt, dass jener Beitrag, den die Unfallversicherung an die Krankenversicherung für die medizinischen Behandlungen von Unfallopfern abführt nicht mehr valorisiert und 2023 abgeschafft wird – auch ein Ergebnis des Fusionsgesetzes SV-OG. Dies hätte eine aufwendige Einzelverrechnung zur Folge. Wir müssen hier hin zu einem durchdachten Ausgleichssystem kommen. Auch im Bereich der Prävention und bei der Behandlung von psychischen Krankheiten müsste die AUVA einen Beitrag leisten.
KOMPETENZ: Verschärft die Covid-19 Pandemie soziale Ungleichheiten?
Reischl: Das könnte passieren. Wir müssen das System rechtzeitig stabilisieren um soziale Ungleichheiten nicht weiter zu verfestigen. Sozialmedizinische Untersuchungen belegen, dass der soziale Status gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Auch an den Daten der Pensionsversicherung kann man ablesen, dass Menschen mit besseren Einkommen deutlich länger leben als jene mit geringerem Einkommen. Wir wissen, dass ärmere Menschen die Zugänge im Gesundheitssystem schwieriger finden und leichter in die Altersarmut rutschen. Es ist daher wichtig, das System weiterhin niederschwellig zu gestalten: es darf keine Selbstbehalte oder andere Barrieren geben, die sozial schwächeren Menschen den Zugang zu medizinischen Leistungen erschweren.
Zur Person:
Die studierte Politikwissenschafterin Ingrid Reischl ist seit 1990 in der Gewerkschaft tätig. Sie absolvierte mehrere Managementausbildungen und vertritt seit 1993 die Arbeitnehmerseite in verschiedenen Gremien der Sozialversicherung. Von 2009 bis 2019 war sie Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse und Vorsitzende der Trägerkonferenz und seit Anfang des Jahres Obmann-Stellvertreterin in der AUVA und halbjährlich Vorsitzende des Dachverbandes der Sozialversicherung. Reischl ist seit vielen Jahren maßgeblich in Steuerungsprozesse und Reformverhandlungen im Gesundheitswesen eingebunden.