„Ein bisschen Langeweile wäre gesund“

Foto: Nurith Wagner-Strauss

Der Gesundheitspsychologe Gerhard Blasche erklärt im Interview, warum wir jeden Tag eine Dosis Erholung brauchen um leistungsfähig zu bleiben und wie man in Zeiten von Corona neue Ressourcen entdecken kann. In seinem Buch „Erholung 4.0“ zeigt er, wie ArbeitnehmerInnen den Ausgleich zwischen Belastungen und Entlastung schaffen können.

KOMPETENZ: Sie weisen auf die Wichtigkeit von regelmäßigen Pausen und Erholungsphasen im Arbeitsalltag hin. Haben wir verlernt uns zu erholen?

BLASCHE: Es kommt nicht von ungefähr, dass man begonnen hat, sich mit Erholung wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Meine ersten Arbeiten vor 20 Jahren drehten sich um das Thema Urlaub, seitdem hat sich die Thematik intensiviert, heute beschäftigt sich die Wissenschaft mit allen Facetten der Erholung. Es gibt einen Bedarf, das Thema fundiert aufzuarbeiten, das kann man an drei zentralen Faktoren festmachen: an der Veränderung der Balance zwischen Arbeit und Freizeit, der Digitalisierung und an der Intensivierung von Arbeitsprozessen.

KOMPETENZ: Inwiefern hat sich die Arbeit intensiviert?

BLASCHE: Alle Abläufe werden ständig schneller. Die Arbeit wird dadurch auf eine gewisse Weise effizienter und für viele auch zufriedenstellender. Wir kommen beispielsweise durch Internetrecherchen heute deutlich rascher zum Ziel als durch händische Literatursuche in vergangenen Jahrzehnten. Dadurch werden unsere Tätigkeiten aber auch fordernder: wir müssen ein Mehr an Informationen verarbeiten, leiden aber auch an ständigen Unterbrechungen durch hereinkommende Informationen. Die Erwartung einer erhöhten Effizienz ist allgegenwärtig. Die Kommunikation via E-Mail baut die Aussicht auf eine rasche Antwort beispielhaft auf.

KOMPETENZ: Die digitalen Medien erhöhen den Arbeitsdruck?

BLASCHE: Durch die zunehmende Digitalisierung wird Arbeit verfügbarer, das geht mit einer gewissen Entgrenzung einher. Wenn ich meine beruflichen Nachrichten immer und überall abrufen kann wird es zunehmend schwieriger klar definierte Zeit einzuhalten, in denen man sich von seinen Verpflichtungen distanziert. Wir können immer und überall arbeiten und tun das auch. Teilweise wird das erwartet, viele haben aber auch nur das Gefühl, dass es erwartet wird. Manche können damit gut umgehen, viele fühlen sich unter Druck gesetzt und können nicht mehr abschalten.

„Wenn ich meine beruflichen Nachrichten immer und überall abrufen kann wird es zunehmend schwieriger klar definierte Zeit einzuhalten, in denen man sich von seinen Verpflichtungen distanziert.“

Gerhard Blasche

KOMPETENZ: Und das verändert unsere Einstellung zur Arbeit?

BLASCHE: Ja, mit positiven und negativen Auswirkungen. Arbeitspsychologische Untersuchungen im deutschsprachigen Raum zeigen, dass ArbeitnehmerInnen grundsätzlich zufriedener sind, wenn sie mehr Autonomie im Arbeitsprozess haben. Sie zeigen dann höheres Engagement und sind produktiver. Das ist aber kein Naturgesetz, sondern von individuellen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst.

Es gibt jedoch auch negative Effekte. Wenn die Arbeit derart stark in den Alltag integriert ist, dann geraten wir in Gefahr, kein Ende zu finden. Wir investieren mehr, identifizieren uns stärker mit den Aufgabenstellungen und zeigen ein gewisses Überengagement. Viele Beschäftigte mit all-inklusive Verträgen berichten, dass Erholung für sie zum Störfaktor geworden ist – ständig sind andere Dinge wichtiger.

Fotos: Nurith Wagner-Strauss

KOMPETENZ: Welchen Ausweg sehen Sie?

BLASCHE: Man muss sich bewusst sein, dass jede neue Entwicklung, jede vorteilhafte Technologie Vorteile hat, aber auch Gefahren birgt. Als ArbeitnehmerIn muss ich lernen damit umzugehen. Dazu braucht es einerseits faire arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen und andererseits individuellen Fähigkeiten. Studien zeigen uns, dass die modernen Arbeitsbedingungen nicht alle Arbeitenden gleichermaßen belasten. Manche können mit dem ständigen Druck gut leben, sie zeigen keine Zunahme der Ermüdung, andere erleben die steigenden Anforderungen als extrem negativ.

KOMPETENZ: Ist also jeder selbst dafür verantwortlich, wie sehr ihn die Arbeit ermüdet?

BLASCHE: Nein, man kann hier nicht die gesamte Verantwortung auf den einzelnen verschieben, das wäre eine krasse Überforderung. Es braucht Rahmenbedingungen seitens des Gesetzgebers, aber auch auf betrieblicher Ebene müssen effiziente Wege gefunden werden, damit sich Arbeit und Erholung besser die Balance halten können.

KOMPETENZ: Warum ist es so wichtig, Erholungsphasen bewusst einzuplanen?

BLASCHE: Erholung hat für unseren Körper und unsere Psyche einen ebenso wichtigen Stellenwert wie körperliche Aktivität, Ernährung und aktives Gesundheitsverhalten. Wir sollten uns jeden Tag eine Dosis Erholung servieren, damit unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden und letztlich auch unsere Leistungsfähigkeit erhalten bleibt.

Auf der Mikroebene lässt sich das so erklären: Arbeit und neue Medien stellen sehr dominante Ablenkungsfaktoren dar. Die Arbeit ist spannend, es ist immer was zu tun, wir legen dadurch immer weniger Augenmerk auf eine aufkeimende Ermüdung. In vielen Fällen maskiert die Arbeit unsere Ermüdung, wir bemerken sie nicht oder überspielen sie.

KOMPETENZ: Wir sollten also höheres Augenmerk auf die Ermüdung legen?

BLASCHE: Ja unbedingt, wir müssen uns bewusst werden, dass es Mikropausen braucht um zu erkennen, wie es uns geht. Wir müssen unsere Konzentration wieder bewusster auf das eigene Wohlbefinden hinlenken.

„Selbst kurze Phasen der Langeweile können durchaus gesund sein und helfen, Ermüdungs- und Erschöpfungszustände zu vermeiden.“

Gerhard Blasche

Erholungszeiten soll man überlegt einplanen. Selbst kurze Phasen der Langeweile können durchaus gesund sein und helfen, Ermüdungs- und Erschöpfungszustände zu vermeiden.

KOMPETENZ: Beliebte Freizeit-Aktivitäten sind aufgrund der Covid-19 Pandemie derzeit nicht möglich. Wie können wir uns erholen, wenn Flugreisen, Thermenaufenthalte, Theater oder Schifahren derzeit nicht oder nur eingeschränkt möglich sind?

BLASCHE: Die Zeit ist eine beunruhigende, wir sehen dass viele Menschen einen höheren Sorgenpegel haben, unter erhöhten Ängsten oder schlechterem Schlaf leiden und insgesamt ein schlechteres Wohlbefinden zeigen. Zusätzlich sind die Möglichkeiten zur Erholung stark eingeschränkt. Ein sinnvoller Ausweg wäre es zu versuchen, neue Ressourcen der Erholung für sich selbst zu entdecken.

Wir müssen aus den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten das Beste machen. Wir können die Natur nutzen, Bewegung machen, mit anderen telefonieren. Am Ende des Tages braucht es nicht allzu viel Spezielles um Erholung zu finden. Viele Menschen tanken in diesen Tagen Kraft in neu entdeckten Dingen, wie zum Beispiel der Stille oder kreativen Projektideen.

KOMPETENZ: Ist Home-Office erholsamer als Arbeit im Büro?

Auch wenn Home-Office eigene Herausforderungen mit sich bringt – Stichwort Platzverhältnisse und Kinderbetreuung – bietet Arbeiten zuhause die Möglichkeit zu selbstbestimmten Pausen, die nachhaltiger und unkontrollierter ablaufen können als im Arbeitsalltag. So ist es beispielsweise möglich, sich mit dem Haustier zu beschäftigen, den Garten zu gießen oder ein Power-Napping zu machen, ohne dass die Produktivität leidet. Viele Menschen können im Home-Office besser auf ihre Bedürfnisse achten, sie fühlen sich unbeobachteter und können mehr auf sich selbst achten. Zeitfresser des Arbeitsalltages fallen weg und schaffen einen Zeitgewinn, der als zusätzliche Ressource für Erholung genutzt werden kann.

KOMPETENZ: Wie sieht eine gelungene Pausensetzung aus?

BLASCHE: Gerade in angespannten Zeiten, wenn man viel um die Ohren hat, sind regelmäßige Erholungsphasen wichtig. Man muss sich bewusste Auszeiten schaffen, soweit man sich das einrichten kann.

Jeder muss hier seine Balance finden, wichtig ist, dass man ehrlich zu sich selbst ist und ein vertretbares Ausmaß an gesunder Erholung findet. Dazu ist Abgrenzung ebenso notwendig wie das Ziehen individueller Belastungsgrenzen. Der erste Schritt ist, sich selbst zuzugestehen, dass für nachhaltige Erholung und produktive Arbeit regelmäßige und wirkungsvolle Pausen notwendig sind. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass Erholung notwendig ist und unsere Leistungsfähigkeit erhöht, obwohl sie auf den ersten Blick Zeit zu kosten scheint.

KOMPETENZ: Gönnen wir uns zu wenige Auszeiten?

BLASCHE: Da sind sehr oft Schuldgefühle mit im Spiel, die ein großes Hemmnis für Erholung darstellen. Ich muss mir bewusst machen, dass ich – wenn ich nicht erholt bin – weniger wirksam bin, dann bin ich im arbeitstechnischen Sinn eigentlich nutzlos.

KOMPETENZ: Im ersten Halbjahr 2020 sind die Krankenstandszahlen gesunken. Denken Sie, dass die Menschen aufgrund der höheren Home-Working Raten eine bessere Balance zwischen Arbeit und Erholung gefunden haben?

BLASCHE: Ich denke in Grenzfällen kann man leichter zuhause eingeschränkt weiterarbeiten und muss nicht gleich einen Krankenstandtag nehmen. Es ist sicherlich auch vorteilhaft, dass daheim der Stresspegel geringer ist und die Selbstbestimmung höher. Das verbessert für viele Menschen die Arbeitssituation und nimmt Druck heraus.

Erholung 4.0

Warum sie wichtiger ist denn je

In seinem aktuellen Buch „Erholung 4.0“ erklärt Gerhard Blasche, warum Erholung in Zeiten ständiger Erreichbarkeit wichtiger ist denn je um die Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten, wie sich Überlastung auswirkt und gibt praxisnahe Ratschläge und viele konkrete Tipps zur bewussten Planung von Erholungsphasen. Der Wissenschafter identifiziert die wichtigsten Erholungskiller, erklärt die Hintergründe der Ermüdung, beschreibt wirksame Erholungsaktivitäten und gibt Tipps zur Pausengestaltung. Blasche mahnt und belehrt nicht in diesem Buch, sondern bietet eine hilfreiche Anleitung zur Selbsthilfe.

ISBN/EAN978-3-99002-1156

Maudrich Verlag 2020

256 Seiten

Zur Person

Der Gesundheitspsychologe, klinische Psychologe und Psychotherapeut Gerhard Blasche ist 57 Jahre alt und unterrichten am Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien. Wissenschaftlich beschäftigt er sich mit der Frage, wie es am besten gelingt, die arbeitsbedingte Ermüdung durch Erholungsaktivitäten wieder abzubauen. Dabei geht es um Zeitmanagement ebenso wie um Pausengestaltung aber auch um die Auswirkungen fehlender Erholung auf die Gesundheit. Privat erholt sich der verheiratete Wiener, der Vater von vier Kindern ist, am liebsten bei Wanderungen in der Natur und beim Arbeiten mit Holz.

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