„Solidarität ist ein Überlebensprinzip“

Wolfgang Maderthaner, Historiker und ehemaliger Direktor des Österreichischen Staatsarchives.

Auch in einer Zeit der Umbrüche ist kollektive Solidarität mehr denn je gefragt. Der Historiker Wolfgang Maderthaner analysiert die Entwicklung von Solidarität unter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. „Heute“, sagt er, geht solidarisches Verhalten Hand in Hand mit einer „großen Bildungsbewegung. Es geht um ein neues sozial-egalitäres Bewusstsein“.

Fragt man Wolfgang Maderthaner, den bekannten Historiker und ehemaligen Direktor des Österreichischen Staatsarchives, nach der Bedeutung von Solidarität in der Gewerkschaftsbewegung, dann holt er weit aus: „Es gibt eine Begrifflichkeit, die sehr früh von jenen Intellektuellen verwendet wurde, die sich der Arbeiterbewegung zugehörig fühlten, damals am Beginn der industriellen Revolution. Die Rede war von Atomisierung.“ Der Begriff bedeutet nichts Anderes als dass Arbeitnehmer unter den neuen Formen der Produktion, genannt industrieller Kapitalismus, ihre Arbeitskraft laufend unter ihrem Wert verkaufen.

Maderthaner beschreibt es aber anschaulicher und spannt den Bogen zur Jetzt-Zeit: „Der Terminus der Atomisierung charakterisiert die Vereinzelung des Ausgebeuteten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts paradigmatisch. Aber, und das ist der Punkt: Das passiert heute in viel, viel radikalerer Weise. In orthodoxer Weise“, findet der Universitätsprofessor und skizziert die neue Entwicklung. „Seit dem Jahr 2000 gehen wir durch eine permanente Krise. 2008/2009 gab es den Zusammenbruch der Banken und des Finanzsystems mit der Folge steigender Arbeitslosigkeit in manchen EU-Staaten, vor allem Jugendliche waren damals extrem betroffen. Dann kam das Ringen um Griechenland mit den hohen Staatsschulden und seinen Verbleib in der Währungsunion. Unmittelbar danach begann 2015 die Flüchtlings- und Migrationskrise, die bis heute nicht gelöst ist. Und schließlich landeten wir in der Corona-Pandemie und damit in einer Gesundheits- und Sozialkrise.“ Die Lockdowns haben Folgen für viele Arbeitnehmer: „Das Zurückgeworfensein auf sich selbst durch das Arbeiten vor dem Bildschirm zu Hause oder in Form von Kurzarbeit hat zu einer radikalen Vereinzelung geführt und sich massiv als Normalität verfestigt. Viele haben das Bewusstsein verloren, Teil eines großen Ganzen zu sein“, analysiert Maderthaner und fügt nachdenklich hinzu: „Diese Entwicklung rührt an den Grundfesten der Arbeiterbewegung.“

Solidarität war immer ein Grundpfeiler der Gewerkschaft. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reagierte die internationale Arbeiterschaft mit dem Bewusstsein, kein isoliertes Einzelnes zu sein, sondern unbesiegbar als Masse.

Wolfgang Maderthaner

Der Historiker empfiehlt in der aktuellen Situation einen Blick zurück: „Solidarität war immer ein Grundpfeiler der Gewerkschaft. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reagierte die internationale Arbeiterschaft mit dem Bewusstsein, kein isoliertes Einzelnes zu sein, sondern unbesiegbar als Masse.“ Die damalige Erzählung las sich wie folgt: „Wir sind es, die die Werte schaffen. Wir haben das Recht auf einen angemessenen Teil des gesellschaftlichen Reichtums. Unsere vornehmste Aufgabe ist es, die Arbeiterschaft mit dem Bewusstsein ihrer Lage zu erfüllen, nämlich mit ihrem Wert.“

Ja, und was heißt das heute? „Die Generation nach 1945 war die Generation der Hoffnung und der Erfüllung. Das Prinzip der Solidarität wurde in der Nachkriegszeit plötzlich zu einem verfestigten gesellschaftlichen Wert. Gemeinsam wurde der Wohlfahrtsstaat aufgebaut. Man hat Kollektivverträge erzielt, an die man nicht zu denken wagte. Soziale Standards wurden eingeführt, zum Beispiel die Altersabsicherung, die für eine Generation davor einfach nicht vorstellbar war. Diese Entwicklungen wurden als gewaltige Gesellschaftsleistung wahrgenommen. Heute werden sie als etwas Selbstverständliches, als immer Dagewesenes, betrachtet.“

Im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz, einer neuen technologischen Revolution, die unser Bewusstsein rasch verändert, sind die kollektive Solidarität und die errungenen Wohlfahrtssysteme mit ihrer Absicherung keineswegs passé.

„Wir sind in einer Zeit des Umbruches“, betont Maderthaner. Die Technik schreitet voran, die Appelle an Solidarität sind so unglaublich verständlich, auch die Sehnsucht nach gesellschaftlichem Zusammenhalt und einem erfolgreichen Zusammenwirken von Frauen und Männern. „Es gibt massive Appelle an den alten Wert der Solidarität, an Wertschätzung, Emanzipation und einem konstruktiven Dialog. Wir kommen in einer technologischen und sozialen Revolution auf die alten Werte zurück, weil diese in einer Umbruchsituation Sicherheit garantieren können“, beschreibt der Historiker die neuen Entwicklungen.

Der Grundwert der Solidarität könnte erst dann wieder relevant werden, wenn es einem großen Teil unserer Gesellschaft schlechter geht. Das ist meine Sorge.

Wolfgang Maderthaner

Der Appell für mehr Solidarität geht mit der zunehmenden Fremdbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Hand in Hand. „Die Entfremdung von unserem Arbeitsprodukt ist heute noch radikaler als in der Vergangenheit. Deswegen ist das solidarische Zusammenwirken der Vielen notwendig. Damit soll verhindert werden, dass uns die Lebensgrundlage entzogen wird. Kurzum: Solidarität ist ein Überlebensprinzip.“

Wolfgang Maderthaner weist darauf hin, dass die „radikale Transformation der Produktivkräfte zwar Fortschritt schafft, gleichzeitig aber auch zu einer Zerstörung führt, die im Augenblick auch als Zerstörung unserer Umwelt greifbar ist“. Auch hier ist Solidarität gefragt. „Aber nicht nur als Sicherung unserer sozialen und kulturellen Standards, sondern auch als Rettung der Umwelt, des Raumes, in dem wir leben und arbeiten.“

Auch wenn das zuversichtlich klingt, Maderthaner ist vorerst noch skeptisch: „Der Grundwert der Solidarität könnte erst dann wieder relevant werden, wenn es einem großen Teil unserer Gesellschaft schlechter geht. Das ist meine Sorge“.

Was müssen die Gewerkschaften jetzt tun, um dieses Szenario zu vermeiden? „Sie müssen alles unternehmen, dass es nicht so weit kommt“, sagt der Historiker. Dabei spielt der Faktor Bildung eine große Rolle. „Es geht um massive Bildung. Nicht im alten Sinne. Aus der alltäglichen Praxis, aus den Vereinzelungserfahrungen, muss eine große Bildungsbewegung entstehen. Es muss Gegenwissen vermittelt werden und das Bewusstsein, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Werte schaffen. Es geht um ein neues sozial-egalitäres Bewusstsein.“

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