„Kürzungen am Sozialstaat unnötig und destabilisierend“

Foto: Nurith Wagner-Strauss

Die Ökonomin Lea Steininger schätzt die aktuell höheren Inflationsraten als vorübergehend ein und spricht sich angesichts der Klimakrise für Investitionen und Konjunkturstabilisation aus. Die Idee, Kosten der Coronakrise durch sozialstaatliche Kürzungspolitik hereinbekommen zu wollen, hält sie für kontraproduktiv. Warum, verrät sie im Interview mit der KOMPETENZ.

KOMPETENZ: Die Corona-Pandemie ist zwar noch nicht vorbei, das Schlimmste scheint aber inzwischen hinter uns zu liegen. Viele Menschen sind bereits aus dem Home-Office zurückgekehrt, die Arbeitslosigkeit ging deutlich zurück. Deutlich spürbar ist aber eine hohe Inflation. Sie lag im August laut Statistik Austria bei 3,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Wie erklärt sich das?

Lea Steininger: Ich bin nicht sicher, ob das Schlimmste der Corona-Pandemie schon hinter uns liegt – immerhin steigen die Zahlen derzeit wieder an. Auch die Arbeitslosigkeit ist für meine Begriffe noch zu hoch. Aber zur Inflation: ja, sie ist in manchen Bereichen spürbar. Aber machen wir vielleicht zuerst einen Schritt zurück: Was ist überhaupt Inflation? ÖkonomInnen bezeichnen damit die Entwertung des Geldes. Das heißt, dass Geld seine Kaufkraft verliert, das allgemeine Preisniveau steigt. In einer Volkswirtschaft gibt es aber unzählige Preise. Was Inflation jetzt konkret für eine Person oder einen Haushalt bedeutet, ist deswegen unklar und hängt davon ab, was man typischerweise kauft. Arme Haushalte sind beispielsweise anders von Inflation betroffen als reiche Haushalte, weil sie einen größeren Anteil ihres Budgets zum Beispiel für Energiekosten und Miete ausgeben.

Und dann ist es so, dass sich Preise oft in komplett unterschiedliche Richtungen entwickeln, es ist also kein einheitliches Phänomen. Die Preise für viele handelbare Güter sinken eher, unter anderem durch Preisdruck unter Wettbewerb, Effizienzsteigerungen in der Produktion sowie Marktversagen bei der Bepreisung von Umweltverschmutzung. Aber auch die steigende Ungleichheit trägt dazu bei. So werden etwa elektronische Geräte tendenziell günstiger. Gleichzeitig sehen wir, dass viele nicht handelbare Güter und speziell was Leute zum Mittelstand erklärt, immer teurer wird. Dazu gehören Gesundheitskosten, Wohnkosten, Bildung. Der harmonisierte Preisindex der Europäischen Zentralbank, den sie zur Messung der Inflation heranzieht, ist nur eine einzelne Zahl und bildet dadurch nicht immer die Vielschichtigkeit dieses Phänomens ab.

KOMPETENZ: Wer ist dann nun im Moment konkret von Inflation betroffen – diese spielt ja nun auch in den Herbstlohnrunden eine Rolle?

Lea Steininger: Betroffen von Preisänderungen sind immer jene Leute, die etwas konsumieren. Was jetzt in Österreich passiert, wird von MarktteilnehmerInnen, den meisten ÖkonomInnen und ZentralbankerInnen als vorübergehende Preissteigerungen eingeschätzt, die vor allem durch Produktions- oder Lieferengpässe zustande kommen. Menschen haben wegen Corona zum Beispiel Kaufentscheidungen aufgeschoben oder keinen Urlaub gemacht, und wenn dann Corona-bedingte Maßnahmen gelockert werden und alle gleichzeitig auf Urlaub fahren – dann steigen typischerweise die Preise in dem Bereich.

„Die Angst vor Inflation wird aktuell politisch instrumentalisiert oder ist zumindest fehlplatziert.“

Lea Steininger

KOMPETENZ: Sie gehen also eher nicht davon aus, dass von der aktuell steigenden Inflation eine Gefahr ausgeht? Menschen müssen sich zum Beispiel nicht um ihre Ersparnisse sorgen?

Lea Steininger: Die kurze Antwort ist nein. Die lange Antwort: die Markterwartungen sind, dass wir langfristig ungefähr 1,6 Prozent gemessene Inflation haben werden, das liegt unter dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent. Die Angst vor Inflation wird aktuell politisch instrumentalisiert oder ist zumindest fehlplatziert. Es gibt andere Probleme, die unser Leben viel mehr beeinträchtigen, wie die hohe Arbeitslosigkeit oder die Klimakatastrophe.

KOMPETENZ: Wer instrumentalisiert hier das Thema Inflation?

Lea Steininger: Ich glaube, dass das zum Teil Kritik an der expansiven Geldpolitik durch die Hintertüre ist. Inflation ist vor allem Preissetzungsverhalten von Unternehmen und teilweise eine politische Entscheidung. Aber es gibt verschiedene konkurrierende ökonomische Theorien darüber, was der Grund für Inflation ist, wo sie herkommt. Eine weit verbreitete Theorie sagt, dass Inflation daherkommt, dass zu viel Geld in der Wirtschaft ist und dass dieses Geld zu wenige Güter „jagt“. Aber das stimmt nicht. Inflation ist ein spezifisches Phänomen mit spezifischen Gründen und die Ursache ist nicht reduzierbar auf lose Geldpolitik.

Fotos: Nurith Wagner-Strauss

Die interessantere Frage ist auch eher: wie geht man mit Inflation um, wenn sie denn kommt? Die Europäische Zentralbank, wenn gemessenen Inflationsraten längerfristig zu hoch liegen, hebt die Zinsen an. Das ist so, als würde man Sand ins Getriebe streuen, eigentlich ein recht grobes Instrument. Wenn das zu früh passiert, wird der Wirtschaftsaufschwung unnötig geschwächt und die Arbeitslosigkeit steigt.

„Wenn zum Beispiel Mieten zu stark ansteigen, kann man gut wirtschaftspolitisch dagegen vorgehen.“

Lea Steininger

KOMPETENZ: Es wäre also nun ein schlechter Weg, die Zinsen anzuheben.

Lea Steininger: Ja, dafür ist es zu früh. Besser wäre es, bei steigenden Inflationsraten genauer hinzuschauen. Wo gibt es vielleicht Engpässe? Warum gibt es in manchen Bereichen Preissteigerungen? Wen betrifft das und wie? Und wollen wir dagegen etwas tun?

Wenn zum Beispiel Mieten zu stark ansteigen, kann man gut wirtschaftspolitisch dagegen vorgehen. Man kann mehr Gemeindebauten errichten, man kann die in Wien sehr gut funktionierende Mietzinsdeckelung ausweiten, man kann Leerstand unterbinden. Das heißt also es spezifisch adressieren und sich wirklich im Detail die Ursachen anschauen.

Die Verteilungseffekte, wenn die Zinsen zu früh angehoben werden im Vergleich zu gezielteren Maßnahmen, sind nämlich komplett unterschiedlich. Wenn ich die Zinsen anhebe, verlangsamt sich typischerweise alles, die Arbeitslosigkeit steigt an, die Löhne sinken. Das letzte Mal, wo wir das zu früh gemacht haben, sind wir in die nächste Rezession geschlittert.

KOMPETENZ: Reden Sie von den Folgen der Finanzkrise von 2008?

Lea Steininger: Auf die Finanzkrise 2008 folgte in Europa im Jahr 2010 eine Staatsschuldenkrise. Im Jahr 2011 hat die Europäische Zentralbank dann unter ihrem damaligen Chef Jean-Claude Trichet die Zinsen angehoben. Sie hat zu früh auf die ansteigende Inflation reagiert – die so wie jetzt nur vorübergehend war – und zack, alles abgewürgt, die Staatschuldenkrise hat sich verschlimmert. Die Lage hat sich erst wieder unter dem neuen Chef Mario Draghi beruhigt, der dann 2013 unkonventionellere Maßnahmen eingeführt und die Geldpolitik gelockert hat. In den USA sind hingegen die Zinsen im selben Zeitraum niedrig gelassen worden, sie haben sich viel schneller erholt von der Wirtschaftskrise.

KOMPETENZ: Seitens der öffentlichen Hand wurde im Zug der Corona-Krise sehr viel Geld in die Hand genommen und sowohl in den Sozialstaat als auch in die Wirtschaft investiert, um etwa Kurzarbeit zu finanzieren, um die Existenz von Unternehmen, Geschäften, Lokalen, Hotels, die geschlossen bleiben mussten, zu sichern, aber auch um Tests und Impfungen durchzuführen. Wird man diese Kosten der Krise wieder hereinbekommen müssen?

„Nein, die Kosten der Krise muss man nicht wieder hereinbekommen.“

Lea Steininger

Lea Steininger: So viel Geld ist auch wieder nicht in die Hand genommen worden, leider. Für meinen Geschmack sind tatsächlich auch wichtige Maßnahmen unterlassen worden, die Ärmsten der Armen sind nicht genügend unterstützt worden. Und nein, die Kosten der Krise muss man nicht wieder hereinbekommen. So funktioniert das nicht. Oft gehen die Leute davon aus, dass ein Staatshaushalt wie ein Privathaushalt funktioniert, dass Schulden immer beglichen werden müssen, aber so ist das nicht. Es gibt die Möglichkeit, Staatsausgaben zu decken, indem man die Staatseinnahmen erhöht – oder aber, indem man Kredite aufnimmt. Und typischerweise, je nach Konditionen beziehungsweise institutionellem Rahmen, werden Kredite einfach erneuert.  Es ist also nicht zwangsläufig notwendig, beispielsweise Steuern zu erhöhen, um Ausgaben zu finanzieren.

Man muss auch dazu sagen, dass Staatsanleihen, die dabei ausgegeben werden, eine wichtige Rolle im Geldsystem spielen und für das Funktionieren moderner Finanzmärkte unerlässlich sind. In Japan beträgt die Staatsverschuldung beispielsweise 250 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, und das ist nicht nur möglich, sondern auch unproblematisch, weil die Koordination von Geld- und Ausgabenpolitik das zulässt. Das heißt, dieses Zusammenspiel lässt sich nicht trennen. In Europa versucht man es zu trennen, aber das schränkt die EU in ihrem Handlungsspielraum ein und ist ein Korsett, das so nicht notwendig wäre.   

„Der Sozialstaat ist eine Möglichkeit, sich gesellschaftlich gegen zukünftige Unsicherheit abzusichern, und wirkt wirtschaftlich stabilisierend.“

Lea Steininger

KOMPETENZ: Dennoch ist zu erwarten, dass eine Diskussion, wie diese Ausgaben wieder hereinbekommen werden sollen beziehungsweise wer die Kosten der Krise zu tragen hat, nicht ausbleiben wird. Was wäre die Gefahr, wenn es nun zu Sparpaketen kommt?

Lea Steininger: Wenn am Sozialstaat gekürzt wird, wird sich diese Krise, aber auch zukünftige Krisen, verschlimmern. Der Sozialstaat ist eine Möglichkeit, sich gesellschaftlich gegen zukünftige Unsicherheit abzusichern, und wirkt wirtschaftlich stabilisierend. Wie ein Rettungsnetz, das uns notfalls auffängt, wenn etwas schiefgeht. Man sieht am Beispiel des öffentlichen Gesundheitssystems während der Corona-Pandemie, wie wichtig diese Institution für eine Gesellschaft ist. An dieser Stelle zu sparen ist nicht nur unnötig, sondern auch kurzsichtig.

KOMPETENZ: Es gibt ja aber auch andere Wege als Sparpakete – zum Beispiel Vermögenssteuern. Wären solche Steuern nicht ein möglicher Ansatz?

Lea Steininger: Ich befürworte an und für sich Erbschafts- und Vermögenssteuern. Es macht demokratiepolitisch absolut Sinn zu verstehen, dass nicht nur Wohlstand gesellschaftlich produziert wird, sondern auch, dass einzelne Überreiche nicht so viel Macht in einer Gesellschaft haben sollen – auch das wirkt destabilisierend. Ich würde das auf der Prioritätenliste aber nicht ganz oben ansiedeln.

KOMPETENZ: Wo würden Sie ansetzen?

Lea Steininger: Ich würde sagen, der wichtigste Ansatz ist, arme Leute reicher zu machen. Armut begreife ich als komplexes Phänomen, das unter anderem daraus besteht, dass einem gesellschaftliche Teilhabe verwehrt wird, dass man keinen Zugang zu Ressourcen hat, dass man überhaupt in der individuellen Freiheit, über das eigene Leben zu entscheiden, eingeschränkt ist. Man müsste also fragen: welche Leistungen müssen allen Menschen zugänglich sein, um ein würdevolles Leben zu leben? Was sind Grundbedürfnisse, die auf jeden Fall universell und kostenfrei abgedeckt werden müssen?

KOMPETENZ: Würde man bei dieser Herangehensweise alles über Kredite finanzieren?

Lea Steininger: Nein, aber auch. Aber es ändert sich ja viel durch gute Ausgabenpolitik. Wenn man beispielsweise Mindestlöhne anhebt, haben die Leute auch mehr Kaufkraft, dadurch geht es den Unternehmen gut, die stellen mehr Leute ein, die Arbeitslosigkeit geht zurück, alle haben mehr. Es ist kein Nullsummenspiel.

„Nichts ist teurer, als nichts zu tun.“

Lea Steininger

KOMPETENZ: Nun befinden wir uns eben in der Klimakrise. Sie würden also dafür plädieren, hier für die Bewältigung ganz viel Geld in die Hand zu nehmen.

Lea Steininger: Nichts ist teurer, als nichts zu tun. Da geht es aber nicht nur um Geld, da geht es vielmehr darum, sich zu überlegen, was sind sinnvolle Maßnahmen. Wie können wir unsere Wirtschaftsordnungsform transformieren auf eine nachhaltige Art und Weise, und diese Fragen brauchen viel mehr Aufmerksamkeit. Ein kollabierendes Ökosystem interessiert sich nicht für buchhalterische Größen. 

Ein Punkt in der sozial-ökologische Reform wäre eine Arbeitsplatzgarantie letzter Instanz, also zu sagen, dass jede Person, die eine Arbeit sucht, eine bekommt. Die Herausforderung der Klimakrise ist so massiv, es gibt genug zu tun, natürlich haben wir genug Arbeit. Warum sollte da irgendjemand arbeitslos zu Hause sitzen und nicht arbeiten gehen können? Und das sind typischerweise auch Jobs, die sehr nachhaltig sind, weil dazu gehört Pflege, Recycling, Umweltschutz, Kunst, Dinge, die nicht unbedingt unternehmerisch profitabel sind, aber trotzdem gesellschaftlich befürwortenswert. Das bedeutet gleichzeitig eine automatische Konjunkturstabilisierung, weil die Arbeitslosigkeit sich während Rezessionen nicht erhöhen würde, wenn Unternehmen Leute entlassen, sondern dass dann Leute trotzdem sinnstiftende Tätigkeiten ausführen, Einkommen beziehen und gesellschaftlich integriert sind. Insofern Win-Win.

Zur Person:

Lea Steininger: ist Volkswirtin und lehrt und forscht seit 2019 an der Wirtschaftsuniversität Wien. Zuvor war sie in der Forschungsabteilung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geldtheorie und –politik sowie angewandte Ökonometrie. Sie arbeitet zudem an ihrer Dissertation zum Thema „Abhandlungen monetärer Ökonomie“.

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