„Herr Dörre, wie wollen Sie einen Mechaniker überzeugen, in die Pflege zu gehen?“

Soziologe Klaus Dörre
Foto: Edgar Ketzer

In ihrer Arbeit müssten Gewerkschaften mehr in die Breite gehen und künftig nicht nur Lohnzuwächse, sondern auch Arbeitszeitverkürzungen erstreiten, fordert der Soziologe Klaus Dörre im KOMPETENZ-Interview.

KOMPETENZ: In Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Portugal, Spanien erleben wir derzeit die größten sozialen Proteste seit Jahren. Was passiert da?

Klaus Dörre: Es gibt nicht das eine übergreifende Thema. In Portugal sind es die LehrerInnen, die streiken, in Frankreich ist es die Rentenreform, die die Menschen auf die Straße treibt, in Großbritannien und Deutschland spielt der Verkehrssektor eine große Rolle. Man muss genau hinschauen, aber die übergreifenden Themen sind Inflation und die Folgeschäden der neoliberalen Politik: Privatisierung, Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeit. Das Ganze ist nach wie vor verbunden mit einer deutlichen Abwertung aller sorgenden, pflegenden, erziehenden und bildenden Tätigkeiten, also den personenbezogenen Dienstleistungen oder Dienstleistungen generell. Und da gibt es ein Erwachen, da Gruppen, wie die ErzieherInnen, ein „Facharbeiterinnen-Bewusstsein“ entwickeln: „Wir klagen ein, was wir der Gesellschaft eigentlich wert sein müssen!“. Da geht es nicht nur um Lohn- und Gehaltsfragen, das sind Fragen nach gesellschaftlicher Anerkennung, der Bedeutung der eigenen Tätigkeit in der Gesellschaft.

Wenn man sich anschaut, wer die Streiks trägt, beispielsweise der 24-stündige Verkehrsstreik in Deutschland, hat man gesehen, welche Power da drinsteckt. Die Gewerkschaften sind in der Lage, das ganze öffentliche Leben nahezu lahmzulegen, wenn sie koordiniert und solidarisch handeln. Eine neue Entwicklung ist, dass diese Streiks von den schlecht entlohnten Gruppen getragen werden.

KOMPETENZ: Das sind alles Gruppen, die nicht unbedingt dafür bekannt sind, besonders streikfreudig zu sein …

Klaus Dörre: Ja, gerade im sozialen Dienstleistungsbereich ist das eine Entwicklung, die einen langen Vorlauf an Organizing-Maßnahmen hat, also auch an neuen Formen gewerkschaftlicher Interessenspolitik. Beispielsweise hat ver.di gemerkt, dass es auf dem konventionellen Weg immer weniger funktioniert. Man kann nicht einfach warten, bis die Leute von selbst in die Gewerkschaft eintreten. Die Voraussetzung für die Erfolge, die die deutschen Gewerkschaften im Gesundheitssektor einfahren konnten, war gezieltes Organizing auch außerhalb der Gewerkschaftsstrukturen, Bündnisarbeit in die Gesellschaft rein. Das wird immer wichtiger, die gesellschaftliche Macht von Gewerkschaften ist ein entscheidender Faktor.

KOMPETENZ: Gewerkschaftliche Arbeit soll also mehr in die Breite gehen?

Klaus Dörre: Gewerkschaften können über soziale Bewegungen nicht alles ausgleichen, was sie institutionell ausmacht, aber das Bewegungselement wird immer wichtiger. Man muss festhalten: Gewerkschaften verzeichnen derzeit allein aufgrund der neuen Verhältnisse am Arbeitsmarkt, durch den Fach- und Arbeitskräftemangel, einen Machtzuwachs. Qualifizierte Beschäftigte können derzeit individuell entscheiden, dorthin zu gehen, wo die Bedingungen für sie am günstigsten sind. Das führt dazu, dass manche Unternehmen die 35 Stunden Woche oder sogar 32 Stunden Woche einführen, weil sie um Arbeitskräfte konkurrieren.

Außerdem hängt die Organisationsmacht der Gewerkschaft nicht alleine von der Mitgliederzahl ab, sondern sie steigt in dem Maße, wie man bewusst handelnde Mitglieder hat. Auch da hat sich einiges getan. Weil jetzt junge Leute nachkommen, auch in den Führungsriegen, die kämpfen wollen.

Klaus Dörre bei einer österreichweiten BetriebsrätInnenkonferenz der Gewerkschaft GPA unter dem Motto „Arbeit 2030: Megatrends – neue Chancen und was für uns zu tun ist“.
Foto: Edgar Ketzer

KOMPETENZ: Gewerkschaftliche Macht hängt stark an guten Lohnabschlüssen, das heißt an permanentem Wirtschaftswachstum. Die sozialpartnerschaftliche Logik wird durch die Klimakrise stark in Frage gestellt. Permanentes Wachstum ist nicht mit den planetaren Grenzen vereinbar. Was bedeutet das für die Gewerkschaften?

Klaus Dörre: Dass sie den Fokus der Interessenvertretung erweitern müssen. Es gibt Bereiche, in denen Gewerkschaften mit der Klimabewegung eng kooperieren können. Aber es gibt auch Bereiche, etwa in den Carbon Branchen, in der Industrie, wo es nicht einfach werden wird. Es ist wichtig, dass man das Gemeinsame in den Vordergrund stellt und das Trennende nach hinten rückt, ohne das Trennende zu verschweigen.

Bezogen auf die gewerkschaftliche Interessenspolitik werden Felder jenseits des Lohns wichtiger. Der Lohn ist bedeutsam, gerade unter Inflationsbedingungen. Aber die Frage der Arbeitszeitverkürzung ist ein wichtiger Punkt. Dass die IG Metall die Vier-Tage Woche in 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich fordert, bedeutet, dass Wohlstandszuwachs über die Reduktion der Arbeitszeit kommen soll. Das hat sich auch schon in anderen Tarifabschlüssen gezeigt, bei der Bahn und im Metallsektor. Das heißt, der Wohlstand bemisst sich in unseren Breitengraden, wenn ein bestimmtes Grundniveau an materiellen Gütern und Dienstleistungen gesättigt ist, stark an der frei verfügbaren Zeit.

KOMPETENZ: Sozialökologische Transformation bedeutet auch, dass Jobs in der Industrie verlorengehen werden. Konkret: Wie wollen Sie einen Mechaniker davon überzeugen, in die Pflege zu gehen?

Klaus Dörre: Erstens wird die Industriearbeit nicht aussterben, sondern im Zuge der sozialökologischen Transformation wird auch industrielle Arbeit neu entstehen, etwa in der Produktion von Batterien und der Recycling-Wirtschaft. Zweitens müssen Pflegetätigkeiten deutlich höher entlohnt werden und Qualifizierungs- und Umschulungsmöglichkeiten angeboten werden. Drittens müssten diese Tätigkeiten die gesellschaftliche Anerkennung genießen, die sie verdienen. In einem Opel-Werk in Eisenach (Thüringen; Anm. d. Red.) habe ich mal gefragt: Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, wollt ihr mir dann erzählen, dass ihr euch in der industriellen Bandarbeit, mit 52 Sekunden-Takten, zwei neun Minuten Pausen und einer 23 Minuten Pause, besser entfalten könntet? Es wird eine Menge Überzeugungsarbeit brauchen, aber es ist keine unmögliche Aufgabe.

KOMPETENZ: Zukunftsforscher Tristan Horx geht davon aus, Künstliche Intelligenz und Digitalisierung könnten uns zukünftig von monotoner Arbeit befreien und es bliebe mehr Raum für kreative, erfüllende Tätigkeiten. Der Sinn der Arbeit werde in den Vordergrund rücken. Entspräche das Ihren Vorstellungen?

Klaus Dörre: Ich stimme Horx in vielem zu, aber möchte an mindestens zwei Stellen kritisch einhaken. Erstens möchte ich fragen: Wer entscheidet über den Einsatz von Technik? Wir haben in Thüringen nach dem Recht auf Homeoffice gefragt. 77 Prozent der befragten Geschäftsführungen lehnen das ab. In den Chefetagen herrscht nach wie vor die Befürchtung vor, dass diejenigen, die im Homeoffice arbeiten, Urlaub machen. Das ist unbegründet, denn viele Studien belegen, dass die Arbeitsproduktivität im Homeoffice durchschnittlich um 4 Prozent wächst. Aber die GeschäftsführerInnen haben Angst, die Kontrolle über den Arbeitsprozess zu verlieren. Sie haben aber die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel, die mit darüber entscheidet, wie digitale Technik eingesetzt wird.

Zweiter Punkt: Welche Relevanz hat die Frage nach dem Sinn der Arbeit bezogen auf die konkreten Arbeitsprozesse? Wenn Sie bei VW im Baunatal (Hessen; Anm. d. Red) in einem 30 Sekunden Takt am Band arbeiten, dann ist der Geschäftsführung die Sinnfrage völlig egal – Sie haben ihre Stückzahlen zu erbringen. Damit ist nicht falsch, was Horx sagt, aber er blendet alle Machtfragen systematisch aus.

Zur Person:

Klaus Dörre, geb. 1957, ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. In seiner Forschung beschäftigt er sich u.a. mit der sozialökologischen Transformation und den dadurch entstehenden Herausforderungen für BetriebsrätInnen, Gewerkschaften und Beschäftigte.

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