Wir müssen eine soziale Krise in Europa verhindern!

Foto: Nurith Wagner-Strauss

EU-Abgeordnete und Gewerkschafterin Evelyn Regner über den Aktionsplan der EU gegen die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise und über Bedrohungen für die Demokratie.

Das Interview fand am 7. April statt.

KOMPETENZ: Wie wird die EU die Corona-Krise wirtschaftlich verkraften können?

Evelyn Regner: Mit nationalstaatlichen Alleingängen kommen wir wirtschaftspolitisch jetzt nicht weiter – wir brauchen in Europa Solidarität, alle müssen an einem Strang ziehen! Damit meine ich, dass die Regierungen der Mitgliedsländer gemeinsam handeln müssen.

Denn diese Krise bedroht massiv unser Wirtschaftssystem und unsere Demokratien. Meine oberste Priorität als Gewerkschafterin ist: Wir müssen in Europa eine soziale Krise verhindern! Was sich aktuell bei den Arbeitslosenzahlen abzeichnet, ist äußerst alarmierend. Das ist erst der Anfang einer Dynamik, die sich noch verschärfen wird. Die Folgen der Krise werden ungleich verteilt sein, wir müssen daher immer die Schwächsten am meisten schützen. „Koste es, was es wolle“ muss für die gesamte EU gelten!

KOMPETENZ: Welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen sind derzeit am dringendsten?

Evelyn Regner: Wir müssen die Beschäftigten schützen, und auch die Scheinselbständigen und die Klein- und Kleinstunternehmen. Nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa muss dies jetzt die Stunde der Sozialpartnerschaft sein. Die Kurzarbeit, so wie sie in Österreich die ArbeitnehmerInnen vor Arbeitslosigkeit schützt, ist vorbildhaft für die EU. Weil sie unbürokratisch und einfach funktioniert und dabei maximalen Schutz bietet. Andernfalls stehen zu viele Arbeitsplätze und damit die Existenz von Millionen Menschen auf dem Spiel.

„Und natürlich brauchen wir ein Verbot von Dividendenausschüttungen, wenn staatliche Förderungen in Anspruch genommen werden.“

Evelyn Regner

KOMPETENZ: Letzte Woche hat Ursula von der Leyen „SURE“, ein Modell zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Einführung von Kurzarbeit, vorgestellt. Entspricht das deinen Forderungen?

Evelyn Regner: Ja, SURE ist ein ganz wichtiger Schritt, hier haben auch die Gewerkschafter in Brüssel viel Druck gemacht. Ganz wesentlich für die Kurzarbeit ist eine hohe Nettoersatzrate, wie sie das österreichische Modell vorsieht. Darüber hinaus fordere ich eine Behaltefrist nach der Kurzarbeit, damit die Menschen nicht direkt nachher entlassen werden. Und natürlich brauchen wir ein Verbot von Dividendenausschüttungen, wenn staatliche Förderungen in Anspruch genommen werden. Das sind für mich die Mindestanforderungen, um staatliche Hilfe zu gewähren.

KOMPETENZ: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich für massive Investitionen in den EU-Haushalt ausgesprochen und einen Marshall-Plan* für Europa gefordert. Unterstützt du diese Forderung?

Evelyn Regner: Ja, natürlich! Im neuen EU-Budget müssen massive Investitionen zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft vorgesehen werden. Für akute Hilfe läuft derzeit alles auf ein 3-Säulen-Modell hinaus: Wir benötigen sowohl die Mittel des Euro-Rettungsschirms ESM, die Absicherung durch die Europäische Investitionsbank, als auch die bereits erwähnte Kurzarbeit, denn es geht hier um enorme Summen.

Dabei dürfen wir eins nicht vergessen: Hilfsprogramme und Solidarität nützen allen, nicht nur den reicheren Ländern. Es ist wie bei einer Versicherung, wo Risiken verteilt werden. Auch für die USA war die Hilfe nach dem Krieg eine gute langfristige Investition in ihre Handelspartner und Märkte.

KOMPETENZ: Wie viel Hilfsgelder stellt die EU als Ersthilfe zur Verfügung?

Evelyn Regner: Bereits im März wurden 8 Milliarden aus dem Europäischen Strukturfonds zur Verfügung gestellt, und durch Kofinanzierung aus dem Budget konnten so rund 37 Milliarden Euro als erste Direkthilfe zur Bekämpfung der Krise freigesetzt werden.

Der Krisenfonds des ESM wird mehr als 200 Milliarden Euro bereitstellen, für kurzfristige Kredite für den Notfall. Zugleich wollen wir nach wie vor auch die Schaffung von Corona-Bonds. Das sind gemeinsame europäische Anleihen zur Finanzierung der Krisenfolgen. Hier herrscht leider viel Uneinigkeit zwischen den Mitgliedsländern.

Wichtig dabei ist vor allem: Der Rettungsschirm darf nicht mit Sparpaketen einhergehen, denn sonst verpufft seine Wirkung.

KOMPETENZ: Wird es auf europäischer Ebene Steuererleichterungen für Unternehmen geben?

Evelyn Regner: Es ist klar, dass viele Unternehmen in dieser Krise von staatlicher Unterstützung profitieren werden, unter anderem in Form von Steuerbefreiungen oder Steuerstundungen. Diese Unterstützung muss jedoch mit erhöhter Transparenz einhergehen! Die Antwort auf die massive Unterstützung des Bankensektors in der Finanzkrise 2009 war die Einführung einer öffentlichen länderbezogenen Berichterstattung für Banken. Das gleiche muss jetzt für die multinationalen Unternehmen gelten, damit die Öffentlichkeit überwachen kann, ob Unternehmen einen angemessenen Beitrag zur Wiederherstellung leisten und ob diese Unternehmen auch ihren gerechten Anteil an Steuern zahlen.

Anders gesagt: Die Hilfsgelder müssen Arbeitsplätze sicher und nicht die Dividenden bezahlen! Es ist klar, dass wir verhindern müssen, dass Unternehmen pleite gehen – aber wir müssen auch verhindern, dass Konzerne, die zuvor ihre Gewinne mittels Steuervermeidung erwirtschaftet haben, nun ihre Verluste mit Steuergeldern kompensieren, um die Aktionäre zu bedienen.

Evelyn Regner zur Kürzung der Familienbeihilfe für 24-Stunden-BetreuerInnen: „Ich appelliere an die Regierung in Österreich: Begrabt dieses Projekt aus schwarz-blauen Tagen endlich!“
Fotos: Nurith Wagner-Strauss

KOMPETENZ: Ein anderes Thema, das die EU seit der Schwarz-Blauen Regierung beschäftigt, ist die Indexierung der Familienbeihilfe. Jetzt, wo die Pflegerinnen aus Osteuropa dringender denn ja benötigt werden, wäre das nicht der Moment, diese Regelung endlich zu kippen?

Evelyn Regner: Diese unsoziale und EU-rechtswidrige Maßnahme war von Anfang an eine Scheindebatte auf dem Rücken der Schwächsten. Für die Pflegekräfte bedeutet es eine empfindliche Kürzung und das, obwohl sie in Österreich Abgaben leisten und ins System einzahlen. Dabei geht es nicht mal um ein sonderlich großes Einsparungspotential. Hier werden EU-Bürgerinnen diskriminiert – ich möchte fast sagen: sekkiert – und Kinder gegeneinander ausgespielt. Jetzt in der Krise wird sichtbar, dass diese Pflegekräfte Systemerhalterinnen sind und extrem wertvoll für Österreich.

Die Kommission hat zwar schon ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, weil die Indexierung den Gleichheitsgrundsatz verletzt. Doch die Klage beim EuGH steht noch aus. Ich appelliere daher an die Regierung in Österreich: Begrabt dieses Projekt aus schwarz-blauen Tagen endlich!

„Orbán nutzt die aktuelle Krise, um Ungarn endgültig in einen autoritären Staat umzubauen.“

Evelyn Regner

KOMPETENZ: Du hast eingangs erwähnt, dass die Corona-Krise auch eine Gefahr für die Demokratie darstellt. Denkst du dabei an Ungarn?

Evelyn Regner: Ja, wenn auch nicht ausschließlich. Orbán nutzt die aktuelle Krise, um Ungarn endgültig in einen autoritären Staat umzubauen. Er kann nun zeitlich unbegrenzt per Dekret regieren, ohne demokratische Kontrolle des Parlaments und durch die Presse. Andere europäische Regierungschefs beobachten, wie weit Orbán zu gehen erlaubt wird.

Gerade jetzt müssen wir ganz besonders auf die Einhaltung von Gewaltenteilung und rechtsstaatlichen Prinzipien achten. Jede Einschränkung muss zeitlich und rechtlich klar begrenzt sein und unter Einbindung von Parlament und Opposition erfolgen. Das betrifft auch Themen wie den Datenschutz, ich denke da z.B. an Handydaten. Hier dürfen keine Breschen in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger geschlagen werden, die nachher womöglich nicht rückgängig gemacht werden.

KOMPETENZ: Wird es für Orbáns Vorgehensweise Konsequenzen auf EU-Ebene geben?

Evelyn Regner: Die bisherigen Reaktionen sind mir eindeutig zu wenig. Ich frage mich, warum die EVP Orbán und seine Partei nicht ausschließt, das wäre aus meiner Sicht das mindeste, um sich von den Vorgängen in Ungarn zu distanzieren.

Alle Mitglieder der Union mussten beim Beitritt bestimmte Kriterien betreffend die europäischen Grundwerte erfüllen. Ein offener Bruch mit diesen Werten muss Konsequenzen nach sich ziehen. Ich denke da an den Ausschluss von finanziellen Mitteln und EU-Förderungen. Die EU ist kein Selbstbedienungsladen, wo sich jeder Geld abholt und sonst macht was er will. Gerade die Rechtsstaatlichkeit darf unter keinen Umständen unter die Räder kommen, sie ist das Herzstück unseres gemeinsamen Wertesystems.

(*Der Marshall-Plan war ein milliardenschweres Hilfsprogramm der USA, mit dem Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Beine kam.)

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