Eine Pandemie der Armut verhindern

Foto: Adobe Stock


Hilfsorganisationen schlagen Alarm: Wer schon vor Corona arm war, den trifft die Krise mit voller Wucht. Und wer davor gerade so über die Runden kam, schafft es jetzt nicht mehr.

Die Coronakrise verstärkt soziale Ungleichheiten und legt den Finger auf die Schwächen des Sozialstaates. Arbeitslose, Beschäftigte in Teilzeit, NiedrigverdienerInnen und prekär Beschäftigte – die Lasten des Lockdowns treffen bestimmte Gruppen stärker als andere. Viele, die schon vor Corona mit wenig auskommen mussten, kommen noch stärker in Bedrängnis. Mit den Arbeitslosenzahlen steigt auch die Armut, und Menschen, die damit nie gerechnet hätten, suche um Unterstützung an oder warten in der Schlange vorm Sozialmarkt.

Mehrere Faktoren beeinflussen die Armutsgefährdung noch zusätzlich: Nicht nur die Arbeitslosenzahlen steigen, die Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes ist viel zu niedrig. Die Mindestsicherung wird abgeschafft und durch die Sozialhilfe nur unzureichend ersetzt. Unterstützungsleistungen wie der Familienhärtefonds erreichen die Betroffenen oft mit großer Verspätung und vielen Hürden. Hilfsorganisationen sehen sich mit steigender Nachfrage und sinkenden Spendenzahlungen konfrontiert.

Eine Umfrage der Volkshilfe und eine Studie der Armutskonferenz dokumentieren, wie es armutsbetroffenen Familien und ihren Kindern geht. „Wie schlecht sie ihre eigene Lebenssituation seit Corona einstufen, hat selbst uns erschüttert“, kommentiert Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe Österreich, die Ergebnisse.

Was heißt ‚Armut’ in Österreich?

Knapp 17 Prozent der ÖsterreicherInnen – das sind über 1,4 Mio. Menschen – waren laut Statistik Austria schon 2019 armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Armut misst sich immer am Wohlstand des jeweiligen Landes und wird über eine Schwelle definiert, die derzeit in Österreich bei 1.636 Euro für einen Haushalt mit einem Erwachsenen und einem Kind liegt. Für jedes weitere Kind sind 377 Euro, für jeden weiteren Erwachsenen 629 Euro hinzuzurechnen.

Konkret bedeutet dies: Menschen, die unter dieser Schwelle leben müssen, sind oft mit ihren Zahlungen für Miete, Strom und Heizung im Rückstand. Sie wohnen unter schlechteren und manchmal auch unter gesundheitsschädigenden Bedingungen. Extraausgaben wie z.B. für einen Schulausflug der Kinder bereiten bereits Kopfzerbrechen. Urlaub können sie sich keinen leisten. Eine kaputte Waschmaschine reparieren lassen zu müssen, ist finanziell nicht drin. Zugleich sind sie öfters krank, haben kaum Zukunftsperspektiven. Sie sind keineswegs alle arbeitslos, viele von ihnen gehen einer Beschäftigung nach – und dennoch bleibt am Ende des Monats nicht genug Geld übrig.

Studie der Volkshilfe

Die Auswirkungen der Pandemie treffen diese Menschen umso heftiger. Die Befragung der Volkshilfe von armutsbetroffenen Familien zeigt, dass sich Corona auf 50 Prozent der Familien finanziell negativ ausgewirkt hat. Familien mit ohnehin geringem Einkommen leiden unter zusätzlichen Einbußen. Punktuelle Bonuszahlungen, kritisiert Fenninger, kommen in vielen Fällen zu spät und übersehen Härtefälle.

Die Ergebnisse der Volkshilfe-Umfrage zeigen deutlich, wie sehr verletzliche Familien unter den finanziellen und emotionalen Mehrbelastungen durch die Krise leiden. Von den Familien, die ihre Lebensqualität in Schulnoten angeben sollten, beurteilten die Hälfte der Befragten ihre Lebensqualität in Zeiten von Corona mit den negativen Schulnote 4 oder 5. Vor Corona hat keine dieser Familien ihre Lebenssituation mit einem Fünfer bewertet und nur ganz wenige mit einem Vierer.

Diese Bewertungen sind auch ein Gradmesser für die verstärkte Benachteiligung von Kindern, die in Armut leben. Sie bilden zugleich die Sorgen um die Zukunft dieser Familien ab: Auf eine von zwei Familien (51 Prozent) hat sich die Corona-Krise finanziell negativ ausgewirkt. Mehr als Dreiviertel (79 Prozent) gaben an, sich jetzt noch mehr Sorgen über die Zukunft zu machen. Und über die Hälfte (55 Prozent) sorgen sich auch, dass ihre Kinder in der Schule nicht gut abschließen werden. Düstere Aussichten, wenn man bedenkt, dass das Einkommen dieser Menschen auch schon vor Corona unter der Schwelle zur Armutsgefährdung lag!

Pandemie der Armut

Auch die Caritas warnt: Die dramatischen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie verstärken die Not, die es schon vorher längst gab. „Nicht nur das Virus ist ansteckend. Auch die Not kann es sein. Wir müssen eine Pandemie der Armut unter allen Umständen verhindern“, appelliert Caritas-Präsident Michael Landau. Steigende Hilfsanfragen in der täglichen Arbeit der Caritas können als deutliches Alarmsignal gewertet werden: In den Sozialberatungsstellen wurden um bis zu 41 Prozent mehr Erstkontakte als im Vorjahr registriert, immer häufiger von Menschen, die noch nie auf die Hilfe der Organisation angewiesen waren.

Die sozialen Folgen der Krise werden sich nicht so rasch aus der Welt schaffen lassen wie die Pandemie selbst, sobald es einen Impfstoff gibt, gibt Landau zu Bedenken. Entsprechend fordert die Caritas zusätzliche Maßnahmen, besonders bei der Bekämpfung der Rekordarbeitslosigkeit und der Kinderarmut.

Was es nun brauche, fordert Landau, seien mehr Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik, um zu verhindern, dass Menschen nun in die Langzeitarbeitslosigkeit abrutschen. Die Einmalzahlung sei „gut und wichtig, es braucht aber eine langfristige Erhöhung des Arbeitslosengeldes bei gleichzeitiger Beibehaltung der Notstandshilfe.“ Nur so können Arbeitslose die Kosten für Lebensmittel, Heizen und Miete bestreiten.

Arbeitslosigkeit

Mitte November waren 437.421 Personen ohne Job, das waren 79.000 mehr als zum gleichen Zeitpunkt im Vorjahr. Die Arbeitslosigkeit wird voraussichtlich, befeuert durch den zweiten Lockdown, bis Jahresende auf über 500.000 Menschen steigen.

Oliver Picek, Chefökonom des Momentum Instituts, hat ausgerechnet, dass die Hälfte aller Arbeitslosen in Österreich unter 927 Euro an Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe erhält. „Der Grund dafür, dass dieser Bezug so niedrig ausfällt, ist der Umstand, dass Personen, die arbeitslos werden, bereits vor ihrer Beschäftigungslosigkeit deutlich weniger verdienten, als der österreichische Durchschnitt“, analysiert Picek.

Sowohl Arbeitslosengeld als auch Notstandhilfe bemessen sich an den vorangegangenen Gehältern. Als Folge davon bekommen knapp 70 Prozent der BezieherInnen unter 1.000 Euro an Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe im Monat, ein Drittel sogar unter 800 Euro. Ausgezahlt wird das Arbeitslosengeld außerdem nur zwölf Mal im Jahr, während Erwerbstätige auch ein 13. und 14. Gehalt beziehen.

Mindestsicherung

Erschwerend kommt hinzu, dass ausgerechnet im heurigen Jahr die bedarfsorientierte Mindestsicherung von der neuen Sozialhilfe abgelöst werden soll. Sowohl die Armutskonferenz und die Hilfsorganisationen, als auch die Gewerkschaften, opponierten von Anfang an gegen die Einführung der neuen Regelungen, weil es sich dabei um einen Rückbau der sozialen Absicherung, sprich: einer deutlichen Verschlechterung für die Betroffenen handelt.

Denn die neue Sozialhilfe ist nicht armutsfest. Viele der Richtsätze sind deutlich niedriger angesetzt sind als die bisherigen Leistungen aus der Mindestsicherung. (Ehe-) Paare, Familien mit mehreren Kindern und Migrantlnnen verlieren durchaus beträchtliche Summen – und das in der jetzigen Krisensituation.

Kinderarmut

Die Not trifft ganz besonders auch Kinder. Laut Berechnungen der Volkshilfe sind aktuell 19 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren armuts- und ausgrenzungsgefährdet – das ist jedes 5. Kind in Österreich! Besonders häufig betroffen sind Kinder und Jugendliche in Haushalten mit mehr als drei Kindern, in Ein-Eltern-Haushalten oder in Haushalten ohne österreichische Staatsbürgerschaft.

Im Kampf gegen die Kinderarmut fordert die Volkshilfe die Einführung einer eigenen Kindergrundsicherung, die sich an den monatlichen Kinderkosten orientiert, bei gleichzeitigem Ausbau sozialer und kostenfreier Infrastruktur (darunter Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulstandorte). Das Neue dabei: Die Kindergrundsicherung wäre eine Selbstermächtigung der Familien anstelle von Sachleistungen.

Wie würde eine solche österreichweite Kindergrundsicherung aussehen? Armutsbetroffene Familien erhalten eine monatliche kindbezogene Leistung, gestaffelt nach Einkommen, von maximal 625 Euro. Sie entscheiden gemeinsam mit ihren Kindern, wie sie deren soziale Teilhabe sichern. Ziel ist es, dass die Kindergrundsicherung als staatliche Leistung eingeführt und auf ganz Österreich ausgebreitet wird.

Die geforderte Kindergrundsicherung wurde von der Volkshilfe bereits in einem Modellprojekt getestet, es liegen daher auch Machbarkeitsanalysen vor. „Unsere intensive Forschung der letzten beiden Jahre belegt: Die Kindergrundsicherung wirkt. Eine monatliche Unterstützung, gestaffelt nach Einkommen, kann die negativen Auswirkungen von Armut für ein Kind aufheben,“ erklärt Erich Fenninger von der Volkshilfe.

Angesichts der steigenden Zahlen an Hilfeansuchen fordert Fenninger neben solchen strukturellen Reformen auch eine bessere Umsetzung der Akuthilfe, insbesondere was den Familienhärtefonds angeht. Fenninger kritisiert die zu langsame Bearbeitung der Anträge durch das Arbeitsministerium. Außerdem haben vormals geringfügig Beschäftigte keinen Anspruch auf diese Hilfeleistung.

Gewerkschaften

Einig sind sich alle Hilfsorganisationen in ihrer Forderung nach einer höheren Ersatzrate beim Arbeitslosengeld, eine Forderung, die auch die Gewerkschaften und Arbeiterkammern seit Anfang der Krise erhoben haben. Finanzierbar wäre dies problemlos über eine stärkere Besteuerung der Reichen und Superreichen. Barbara Teiber, Vorsitzende der GPA-djp, bekräftigt einmal mehr den Appell an die Regierung, endlich große Vermögen stärker zu besteuern: „Während die Armut in der Pandemie größer wird, erreichen die Einkommen und Vermögen der Superreichen neue astronomische Höhen. Alles spricht für die rasche Einführung einer Millionärssteuer.“

Spendenaufruf
Die Gruppe jener Menschen, die Hilfe benötigen, wächst stetig an – zugleich sinken jedoch die Spenden, weil aufgrund der Krise weniger Menschen die Ressourcen dafür haben. Die Hilfsorganisationen bitten daher dringend um Spenden!
Caritas
Volkshilfe

Scroll to top