Arbeitslosengeld rauf

Foto: Nurith Wagner-Strauss

Die Initiative „Arbeitslosengeld rauf!“ sammelt Unterstützungserklärungen für ein höheres Arbeitslosengeld und will für ihr Volksbegehren mindestens 100.000 Unterschriften sammeln. Im Interview erklärt Mitinitiator Emmerich Tálos, wieso das Thema Arbeitslosigkeit uns alle etwas angeht.

KOMPETENZ: Der Arbeitsmarktservice (AMS) vermeldet derzeit Monat für Monat, dass die Arbeitslosigkeit sinkt. Warum will die Regierung gerade jetzt den Druck auf Arbeitslose erhöhen?

Emmerich Tálos: Die Pandemie hat uns gezeigt, dass es auch in Österreich unter bestimmten Bedingungen eine Massenarbeitslosigkeit geben kann. Vor eineinhalb Jahren waren es mehr als 500.000 Erwerbslose. Es ist erfreulich, dass aktuell die Zahl der Arbeitslosen sinkt, aber ich finde es ungeheuerlich, bei einem Stand von ca. 340.000 Betroffenen davon zu reden, dass das Problem schon weitgehend gelöst ist. Es sinkt zwar die Arbeitslosigkeit insgesamt, aber die Zahl der Langzeitarbeitslosen kaum.

KOMPETENZ: Die Regierung plant, dass Arbeitslosenbezüge mit der Dauer der Arbeitslosigkeit sinken sollen, ein sogenanntes degressives Arbeitslosengeld. Aktuell haben wir rund 340.000 Arbeitslose und 112.000 sofort verfügbare Stellen. Könnte ein degressives Arbeitslosengeld da nicht ein wirksames Mittel sein?

„Wenn ich furchtbare Arbeitsbedingungen anbiete, dann läuft das nicht. Warum sollen sich Menschen solchen Bedingungen unterwerfen?“

Emmerich Tálos

Emmerich Tálos: Mit Sicherheit nicht! Mit einem degressiven Modell wird erstens der Druck auf die Betroffenen enorm erhöht und zweitens das Leistungsniveau für einen Teil der Arbeitslosen gekürzt. Das heißt, die Problematik, die wir heute haben, würde nur noch verschärft. Mit einer im internationalen Vergleich sehr niedrigen Nettoersatzrate von 55 Prozent steht für viele erwerbsarbeitslose Menschen das Problem der Verarmung unmittelbar in der Tür. Wenn Arbeitsminister Martin Kocher davon ausgeht, dass ein degressives Arbeitslosengeldmodell einen höheren Arbeitsanreiz biete, wird dabei eine Frage vergessen: warum sind diese Stellen offen? Wenn ich furchtbare Arbeitsbedingungen anbiete, dann läuft das nicht. Warum sollen sich Menschen solchen Bedingungen unterwerfen? Mit einem degressiven Modell werden nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen, nicht offene Stellen besetzt, sondern es wird der Druck auf die Arbeitslosen erhöht, weniger gute Arbeitsplätze zu akzeptieren. Und zugleich wird für einen Teil der Erwerbslosen die materielle Sicherung noch prekärer als sie schon jetzt ist.

KOMPETENZ: Was bedeutet das konkret?

Emmerich Tálos: Ein Beispiel: Viele Frauen verdienen in Teilzeit kaum mehr als 800 Euro. Schon mit einer Nettoersatzrate von 55 Prozent reicht das nicht zum Überleben. Eine Untersuchung des Momentum Instituts hat gezeigt, dass 9 von 10 befragten Arbeitslosen von Verarmung bedroht sind. Wenn die Nettoersatzrate noch weiter abgesenkt wird, erhöht sich damit das Armutsrisiko.

„Eine Untersuchung des Momentum Instituts hat gezeigt, dass 9 von 10 befragten Arbeitslosen von Verarmung bedroht sind.“

Emmerich Tálos

KOMPETENZ: Mit dem Volksbegehren „Arbeitslosengeld rauf!“ möchten Sie genau an dieser Situation etwas ändern. Was sind Ihre Forderungen?

Emmerich Tálos: Mit der Pandemie gingen eine Reihe von Problemen einher, nicht nur wirtschaftliche, auch soziale Probleme wie die enorm gestiegene Erwerbslosigkeit, das erhöhte Risiko der Verarmung. In unserem Volksbegehren steht die Verbesserung der materiellen Situation von Erwerbslosen im Fokus. Daher fordern wir erstens die Anhebung der Nettoersatzrate auf mindestens 70 Prozent. Zweitens wollen wir, dass die Zumutbarkeitsbestimmungen, die vor allem unter Schwarz-Blau restriktiver wurden, entschärft werden. Und drittens treten wir dafür ein, dass es weiterhin Zuverdienstmöglichkeiten für Betroffene gibt, weil für viele das Arbeitslosengeld ohnehin nicht reicht.

Fotos: Nurith Wagner-Strauss

KOMPETENZ: Die Erhöhung der Nettoersatzrate von 55 auf 70 Prozent würde den Staat etwas mehr als eine Milliarde Euro kosten. Ist das in der jetzigen Situation zu stemmen?

Emmerich Tálos: Was ist in dieser Situation alles gestemmt worden! Wenn ich nur daran denke, wie viele Unterstützungsleistungen Unternehmen im Vergleich dazu bekommen haben. Für 340.000 erwerbslose Menschen würde damit die materielle Sicherheit verbessert werden. Auf Wirtschaftsseite wird es als selbstverständlich erachtet, dass Unternehmen in wirtschaftlich schwierigen Situationen mit beträchtlichen Förderungen unterstützt werden. Aber wenn Arbeitslose, deren Geld ohnehin nicht reicht, eine Anhebung fordern, dann auf einmal wäre das nicht zu stemmen. Das ist zu stemmen! Es ist eine Frage des politischen Wollens – nicht des ökonomischen Könnens!

KOMPETENZ: Wo steht ihr mit eurem Volksbegehren gerade und was ist das Ziel?

Emmerich Tálos: Derzeit haben wir ca. 18.000 Unterstützungserklärungen. Inklusive Eintragungswoche wollen wir mindestens auf 100.000 kommen! Das würde bedeuten, dass sich das Parlament damit befassen muss. Das schafft auch Öffentlichkeit. Damit könnten wir deutlich machen, dass das Anliegen für die materielle Verbesserung von Arbeitslosen von vielen geteilt wird. Je mehr Unterstützung wir haben, desto mehr Druck können wir auf politisch Verantwortliche ausüben. Ohne diesen Druck wird’s nicht laufen!

KOMPETENZ: Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Wieso solidarisieren Sie sich persönlich, als emeritierter Professor, eigentlich ausgerechnet mit Arbeitslosen? Da ist doch eine beträchtliche sozioökonomische Distanz vorhanden …

Emmerich Tálos: In sozialer und ökonomischer Hinsicht gibt es diese Distanz zweifellos. Aber ich habe mein Wissenschaftserleben zu einem großen Teil der sozialen Entwicklung und dem Sozialstaat gewidmet. Von daher ist es für mich eine Selbstverständlichkeit, mich auch mit Arbeitslosigkeit und Arbeitslosen zu befassen. In diesem Zusammenhang sind AktivistInnen an mich herangetreten, ob ich bei einem Volksbegehren mitmachen möchte. Und das mache ich sehr gerne, da ich damit meine wissenschaftliche Arbeit auch politisch umsetzen kann. Das ist das Gute am Status eines Menschen im formellen Ruhestand: ich kann mir immer aussuchen, was ich mache!

Zur Person:

Emmerich Tálos, geb. 1944, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Mitinitiator des Volksbegehrens „Arbeitslosengeld rauf!“. Er veröffentlichte mehrere Bücher zum österreichischen Sozialstaat, zu welchem er über mehrere Jahrzehnte forschte.

Volksbegehren Arbeitslosengeld rauf!

Das Volksbegehren Arbeitslosengeld rauf setzt sich für eine deutliche Erhöhung des Arbeitslosengeldes ein. Gerade angesichts der Pandemie und dem damit verbundenen Verlust an Arbeitsplätzen darf niemand zurückgelassen werden.

Das Volksbegehren kann auf jedem Gemeinde- bzw. Bezirksamt (nicht nur der Heimatgemeinde) oder online mittels BürgerInnenkarte unterschrieben werden.

Spendenaufruf:

Die Arbeit des Volksbegehrens „Arbeitslosengeld rauf!“ wird rein durch Spenden finanziert. Wir freuen uns, wenn Sie unsere Arbeit mit einer solchen unterstützen!
Unsere Kontodaten lauten:
IBAN: AT45 3477 7000 0627 7099
BIC: RZOOAT2L777

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