Günther Gallistl hat nicht nur die Verwandlung der Chemie Linz von einem Staatsbetrieb in viele kleinere private Betriebe miterlebt. Der Vorsitzende des Angestelltenbetriebsrats von Thermo Fisher Scientific kann auch viel über die Veränderung der Arbeitswelt erzählen. Heute ist er auch Chefverhandler des Kollektivvertrags der Chemischen Industrie und kämpft dabei für mehr Freizeit für die Beschäftigten.
„In den 1990er Jahren, in denen ich als Betriebsrat aktiv geworden bin, haben wir kaum Fluktuation gehabt“, erzählt Gallistl. Im Unternehmen hätten fast ausschließlich österreichische MitarbeiterInnen gearbeitet, die meisten seien über Jahrzehnte für den Betrieb tätig gewesen. Heute ist das Werk in Linz, in dem pharmazeutische Wirkstoffe für die Medikamentenproduktion hergestellt werden, Teil eines internationalen Konzerns mit weltweit 100.000 Beschäftigen, in Österreich sind es rund 800, davon 440 Angestellte. Sie sind hauptsächlich als ChemikerInnen, TechnikerInnen oder LaborantInnen entweder im Bereich Forschung eingesetzt oder optimieren die Produktion von Wirkstoffen. Der AkademikerInnenanteil sei daher sehr hoch und die Belegschaft wesentlich internationaler als vor einigen Jahrzehnten, so Gallistl. Das führe auch zu einer höheren Fluktuation.
Gegen Selbstausbeutung
Aus Betriebsratssicht bedeutet das aber auch: MitarbeiterInnen zu vertreten, die aus Ländern kommen, in denen die Kollektivvertragsdichte nicht so hoch ist wie in Österreich und in denen gewerkschaftliche Arbeit einen niedrigeren Stellenwert hat. In Verbindung mit den in der Branche für AkademikerInnen üblichen All-in-Verträgen bedeutet das für Gallistl das Bohren dicker Bretter. Er muss einerseits der Belegschaft immer wieder vermitteln, dass er zwar versteht, dass man sein Projekt im vorgegebenen Zeitplan zu Ende bringen möchte, das aber nicht bedeutet, Selbstausbeutung zu praktizieren. „Ich verstehe schon: Es ist eine interessante Tätigkeit, es gibt immer wieder neue unterschiedliche Produkte und Problemstellungen“, so der Betriebsratsvorsitzende. Durch die Matrixorganisation – die Arbeit wird also vorrangig über Projekte organisiert – würden MitarbeiterInnen allerdings immer wieder über die Arbeitszeit hinausschießen. „Aber das hältst du nur durch, wenn du jung bist. Die Älteren stöhnen unter dem Arbeitsdruck.“
Gallistl bemüht sich daher, sich dieser immer stärker werdenden Arbeitsverdichtung entgegenzustellen. Auch MitarbeiterInnen mit All-in-Verträgen müssten Arbeitszeitaufzeichnungen führen, das erfolge im Betrieb über Terminals, bei denen man mit seinem Ausweis ein- und auschecke, im Home-Office bald über eine entsprechende Software. „Das wird vom Betriebsrat stichprobenartig kontrolliert. Außerdem gibt es am Jahresende auch bei All-in-Verträgen eine Deckungsprüfung, wer mehr als die Überzahlung im Kollektivvertrag gearbeitet hat, bekommt eine Nachzahlung.“
Problematische Konzernvorgaben
Aufklärungsarbeit muss der Betriebsrat bei Thermo Fisher allerdings nicht nur bei manchem und mancher MitarbeiterIn leisten. Das Unternehmen ist nun in US-amerikanischer Hand, dort ist die Beziehung zwischen Arbeitgeber- und -nehmerInnenseite eine andere. „Da herrscht die Hire-and-Fire-Mentalität.“ Entsprechend laufe das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung „nicht immer konfliktfrei“. Hauptproblem seien immer wieder Konzernvorgaben. Aber auch den Sinn und Zweck von Betriebsvereinbarungen gelte es jedesmal wieder aufs Neue zu erklären und zu verteidigen. Österreich sei gesegnet mit einem guten Arbeitsrecht, das dann eben einzuhalten sei.
„Die Arbeitgeber werden sich auf die Ukraine-Krise herausreden, aber Fakt ist: die Chemische Industrie hat 2021 sehr, sehr gut verdient. “
Günther Gallistl
Das Thema Arbeitsverdichtung sei allerdings nicht nur bei Thermo Fisher ein Thema, sondern in der gesamten Chemischen Industrie mit rund 47.000 Beschäftigten. Ende März beginnen hier die diesjährigen Kollektivvertragsverhandlungen, Gallistl ist seitens der GPA Chefverhandler, für die ArbeiterInnen sitzt die PRO-GE am Tisch. Zentrale Forderung: eine Erhöhung deutlich über der Gesamtinflationsrate des abgelaufenen Wirtschaftsjahres von voraussichtlich knapp unter vier Prozent. „Die Arbeitgeber werden sich auf die Ukraine-Krise herausreden, aber Fakt ist: die Chemische Industrie hat 2021 sehr, sehr gut verdient. Die MitarbeiterInnen haben sich enorm hineingetigert und auch sie spüren die Teuerungsrate.“
Entsprechen will das Verhandlungsteam aber auch dem Wunsch vieler Beschäftigten nach mehr Freizeit. Genau das werde von Arbeitgeberseite nie gewährt, weil die Branche an Personalmangel leide. Gallistl will dennoch nicht locker lassen und auch heuer eine leichtere Erreichbarkeit der sechsten Urlaubswoche und mehr Freizeit in Form von zusätzlichen Urlaubstagen fordern. Das geeignete Modell dazu, das auch bei All-in-Verträgen greifen würde, sei das Umwandeln einer durch den Kollektivvertrag vorgegebenen prozentuellen Gehaltserhöhung in freie Tage, wie dies etwa der Kollektivvertrag der Elektroindustrie bereits vorsieht.