EU-Richtlinie zur Plattformarbeit: Die letzte Hürde nicht genommen

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Bei der EU-Richtlinie zum Schutz der Plattformarbeiter:innen gab es nach langen Verhandlungen zwar zunächst eine Einigung, doch schließlich wollten die Mitgliedstaaten dem Kompromiss nicht zustimmen. Der Kampf gegen prekäre Arbeit und Scheinselbständigkeit geht also weiter.

In der letzten Plenarwoche 2023 des Europäischen Parlaments in Straßburg wurde eine vorläufige Einigung zwischen dem Parlament und dem Rat über die „Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten“ angenommen. Ein großer Schritt nach vorn für die Rechte der Plattformarbeiter:innen in Europa, fehlte nur noch die Zustimmung im Rat. „Wir waren optimistisch gestimmt, nach schwierigen Verhandlungen schien die Einigung endlich greifbar“, berichtet Sophia Reisecker, die Internationale Sekretärin in der Gewerkschaft GPA, von den Erwartungen in Brüssel. Doch anstatt den vereinbarten Text, wie sonst üblich, formell anzunehmen, fand sich beim Ministerrat zwei Tage vor Weihnachten letztendlich keine Mehrheit. Die Mitgliedstaaten stimmten nicht zu, da manchen das Gesetz zu weit ging: „Einigen Ländern war es zu arbeitnehmer:innenfreundlich“, zeigt sich Reisecker enttäuscht.

Die Richtlinie war im Rat schon länger umstritten gewesen. Spanien, unter sozialdemokratischer Führung, wollte sie während seiner Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2023 noch zu einem guten Abschluss bringen. Doch Ländern wie Schweden oder Frankreich ging die Regulierung zu weit. Insgesamt hatten zwölf Mitgliedstaaten Einwände.

Scheinselbständigkeit

Plattformarbeit ist eine Arbeitsform, bei der mittels Mobiltelefon, App und Algorithmus Online-Plattformen Dienstleistungen vermitteln. Dazu gehören beispielsweise Zustellung, Übersetzung, Nachhilfe, Dateneingabe, Kinderbetreuung, Altenpflege oder Taxifahrten. Der Sektor boomt und die Prognosen sagen weiterhin ein rasantes Wachstum voraus. In der EU arbeiten mehr als 28 Millionen Menschen über eine dieser digitalen Arbeitsplattformen. Im Jahr 2025 könnten es Schätzungen zufolge bis zu 43 Millionen sein.
Für die Plattformen, die sich als Vermittler und nicht als Arbeitgeber sehen, ist die Sache ein gutes Geschäft. Denn sie behalten Provisionen ein, ohne Sozialabgaben abzuführen oder KV-Löhne bezahlen zu müssen – die Beschäftigten sind nämlich nicht fest angestellt, sondern selbständig und somit für ihre Sozialversicherung und alle anderen Abgaben selbst verantwortlich.

„(Bei Plattformarbeit) handelt sich nämlich sehr oft um Scheinselbständigkeit, zum Nachteil der Arbeiter:innen. (…) Damit fallen die Arbeitsbedingungen dieser Beschäftigten hinter alle Standards zurück: kein Urlaubsanspruch, kein bezahlter Krankenstand, kein Kündigungsschutz.“

Sophia Reisecker

Auf diesem Weg kann leider das geltende Arbeitsrecht umgangen werden: „Es handelt sich nämlich sehr oft um Scheinselbständigkeit, zum Nachteil der Arbeiter:innen“, erklärt Reisecker, „Sie können nur sehr bedingt entscheiden, wann sie arbeiten wollen, wie sie arbeiten und ob sie z.B. einen Auftrag überhaupt annehmen wollen.“ Fahrer:innen oder Lieferdienste beispielsweise müssen meist viele Stunden zu niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen schuften, ohne Sozialversicherung und ohne die Möglichkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

„Damit fallen die Arbeitsbedingungen dieser Beschäftigten hinter alle Standards zurück“, argumentiert Reisecker. „Kein Urlaubsanspruch, kein bezahlter Krankenstand, kein Kündigungsschutz. Zugleich eine engmaschige Überwachung während der Arbeit und Algorithmen, die oft ziemlich undurchsichtig die Arbeitsleistung kontrollieren.“ Wer gut an diesem Modell verdient sind die Plattformbetreiber, da sie aufgrund solcher Arbeitsbedingungen Kosten sparen. „Als Gewerkschaften warnen wir daher seit Jahren schon vor den Folgen dieser Form der Prekarisierung der Arbeit!“ betont die Internationale Sekretärin.

Wer legt sich quer?

Einer der führenden Kritiker der Richtlinie in ihrer ursprünglichen Fassung war Frankreich. Die Regierung Macron befürwortet die Selbstständigkeit der Plattformarbeiter:innen, wenn auch mit zusätzlichen Arbeitsrechten. Auch die Tschechische Republik, die baltischen Staaten und Ungarn waren dem Vernehmen nach von dem Entwurf nicht begeistert.

Macron und seine wirtschaftsliberale Regierung waren wohl nicht zufällig Anführer der „Anti-Liste“. Auf welcher Seite Macron stand war seit den sog. „Uber-Files“ bekannt. Diese waren im Sommer 2022 den Medien zugespielt worden. Sie umfassten tausende vertrauliche Dokumente, darunter E-Mails und Nachrichten zwischen Führungskräften, die zeigten, wie das Unternehmen Einfluss auf Politiker:innen und den Gesetzgebungsprozess genommen hatte, um expandieren zu können. Insbesondere Emanuel Macron pflegte zu seiner Zeit als Wirtschaftsminister enge Kontakte mit dem Konzern. „Dieser Leak hat damals klar gezeigt, was für ein Unternehmen Uber wirklich ist. Mit seinen Lobbyist:innen setzt der Konzern alles daran, um die Regeln zu seinen Gunsten umschreiben zu lassen“, fasst Reisecker die Problematik zusammen. Entsprechend steht nun die Frage im Raum, ob die Lobbyist:innen der verschiedenen Plattformunternehmen auch diesmal wieder ganze Arbeit geleistet haben…

Beweislastumkehr

Bereits im Dezember 2021 hatte die Europäische Kommission auf der Grundlage eines Berichts einen Vorschlag für die Richtlinie vorgelegt. Dieser Entwurf wurde im Europäischen Parlament behandelt, im Februar 2023 verabschiedeten die EU-Abgeordneten offiziell ihren Bericht, im Sommer folgten Rat und die ersten Trilogverhandlungen. Mitte Dezember wurde schließlich die vorläufige Einigung zwischen den beiden Institutionen erzielt.

„Wir haben als Gewerkschaften den Gesetzgebungsprozess von Anfang an mitverfolgt und auf die für Arbeitnehmer:innen wichtigen Punkte hingewiesen“, betont Reisecker. „Bis zuletzt war jedoch offen, worauf genau sich EU-Parlament und Rat einigen würden. Es gab natürlich Änderungen, der Kompromiss wich vom ursprünglichen Text ab. Aus unserer Sicht wären trotzdem einige wichtige Punkte erreicht worden.“
Einer der zentralen – und auch umkämpften – Punkte dieses RL-Vorschlags war der Beschäftigungsstatus von Plattformarbeiter:innen: Eine Anzahl bestimmter Indikatoren sollte aufzeigen, ob ein Arbeitsverhältnis besteht oder Selbständigkeit (bei zwei von fünf ausgewählten Indikatoren würde ein Arbeitsverhältnis angenommen). Arbeitnehmer:innen – und auch deren Vertreter:innen – hätten die Möglichkeit, bei einem Verdacht auf Scheinselbständigkeit die zuständigen Behörden zu informieren. Die Plattformbetreiber müssten dann beweisen, dass es sich nicht um ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis handelt. „Die Beweislast liegt damit beim Arbeitgeber, das war für uns immer der Angelpunkt“, sagt Reisecker. Außerdem, fügt sie hinzu „könnten Gewerkschaften und KV-Verhandlungen endlich ermöglicht werden.“

Auch eine Regelung zum Umgang mit Algorithmen am Arbeitsplatz war vorgesehen. Derzeit bekommen Plattformarbeiter:innen oft keine Auskunft über den Einsatz bzw. das Funktionieren der Algorithmen, obwohl diese über wichtige finanzielle Gehaltsbestandteile wie z.B. die Auszahlung von Boni entscheiden. Die neue Richtlinie hätte vorgesehen, dass die Unternehmen diese Informationen mit den Arbeitnehmer:innen und ihren Vertreter:innen teilen müssen.

„Wir appellieren daher an die Mitgliedstaaten, möglichst rasch und noch während der belgischen Präsidentschaft an den Verhandlungstisch zurückzukehren! Wir als Gewerkschafter:innen werden sicher nicht locker lassen, die Plattformarbeiter:innen verdienen dringend bessere Rechte!“

Sophia Reisecker

Einigung bleibt ausständig

Ein Rückschlag also. „Ob es noch vor Ende der Legislaturperiode zu einer Einigung kommt, ist leider fraglich“, zeigt sich Reisecker verärgert. Am 9. Juni werden die Wahlen zum Europäischen Parlament abgehalten, davor wird der Wahlkampf viel Zeit und Energien binden. Auf die darauffolgende ungarische Ratspräsidentschaft kann leider nicht nur bei diesem Dossier der Sozialpolitik wenig Hoffnung gesetzt werden. „Wir appellieren daher an die Mitgliedstaaten, möglichst rasch und noch während der belgischen Präsidentschaft an den Verhandlungstisch zurückzukehren! Wir als Gewerkschafter:innen werden sicher nicht locker lassen, die Plattformarbeiter:innen verdienen dringend bessere Rechte!“ betont die Internationale Sekretärin.

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