Kommentar: Fürchtet euch vor den richtigen Flüchtlingen

Keine Krise: 40.000 Flüchtlinge mehr in der Mindestsicherung bringen das System nicht zum kippen. (Foto: ÖGB-Verlag, Michael Mazohl)
Keine Krise: 40.000 Flüchtlinge mehr in der Mindestsicherung bringen das System nicht zum kippen. (Foto: ÖGB-Verlag, Michael Mazohl)

Zu teuer! Zu wenig treffsicher! Und mit so vielen Flüchtlingen im Land nicht mehr finanzierbar. Der Sozialstaat muss sich derzeit einiges anhören.

Diese Debatte ist nicht neu. Schon im Jahr 2000 warnte die damalige schwarz-blaue Bundesregierung von ÖVP und FPÖ in ihrem Regierungsprogramm vor der „drohenden Unfinanzierbarkeit und geringer sozialer Treffsicherheit“ des Sozialsystems. Können wir uns den Sozialstaat tatsächlich nicht mehr leisten? Gefährden die vielen Flüchtlinge – allein 2015 kamen 90.000 nach Österreich – unseren sozialen Frieden? Österreich ist reich. 2015 war es laut World Economic Forum das zwölftreichste Land der Welt. 1.248,599.785 Euro betrug das Nettovermögen privater Haushalte. So lautete das Ergebnis einer 2013 veröffentlichten Reichtumsstudie der Universität Linz. Allerdings liegen diese Milliarden nicht auf den Bausparverträgen brav sparender Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern konzentrieren sich auf die obersten zehn Prozent im Land. Sie besitzen laut der Uni Linz 69 Prozent
des Reichtums.

Auch Reiche profitieren

Geld gibt es also genug. Es ist nur nicht fair verteilt. Denn vom Sozialstaat profitieren alle. Zwar haben Milliardäre einige der zahlreichen Leistungen des Sozialstaates nicht unbedingt nötig – zum Beispiel Familienbeihilfe, Kinderbetreuungsgeld, ein kostenloses Bildungssystem, die 40-Stunden-Woche, Krankengeld, Wohnbauförderung, ein hochwertiges Gesundheitssystem für alle und vieles mehr. Zugang dazu haben sie aber genauso. Aber auch abseits dieser Leistungen profitieren die Reichsten im Land von der sozialen Sicherheit, die in Österreich herrscht. Geht der milliardenschwere US-amerikanische Facebook-Chef Marc Zuckerberg joggen, wird er von Bodyguards umringt. In Österreich können selbst Superreiche unbeschwert im Kaffeehaus sitzen, schmökern selbst SpitzenpolitikerInnen völlig unbewacht im Buchgeschäft.

Als der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck aufgrund der Massenverelendung durch die industrielle Revolution 1883 zuerst die Krankenversicherung und ein Jahr später die Unfallversicherung einführte, war das eben nicht nur ein wohltätiger Akt. Der deutsche Politiker handelte auch im Eigeninteresse, soziale Aufstände
zu verhindern: „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.” Dieser Luxus, in einer sicheren Umgebung, statt hinter hohen Mauern leben zu können, sollte reichen Menschen auch heute etwas wert sein. Manche von ihnen haben das auch erkannt, etwa der Baulöwe und Neos-Unterstützer Hans Peter Haselsteiner, der offen
für eine Vermögenssteuer eintritt. „Dass Vermögen zum Steueraufkommen null beiträgt, ist in hohem Maße ungerecht”, erklärte Haselsteiner 2008 in einem Interview.

Weil es in Österreich keine Vermögens- und Erbschaftssteuern gibt, stammt der Großteil der Gelder für das Sozialsystem aus der Besteuerung von Einkommen aus Arbeit, nicht aus Steuern auf Immobilien oder sonstiges Vermögen. Darin liegt auch eine potenzielle Bedrohung für unser Sozialsystem: in der Zunahme prekärer Beschäftigungsformen. Die „Generation Praktikum“ und die vielen, vielen Scheinselbstständigen helfen zwar den Unternehmen, ihre Kosten zu senken. Sie haben aber nicht nur selbst viel weniger soziale Absicherung, etwa im Krankheitsfall, sie können auch viel weniger zur Finanzierbarkeit des Sozialsystems beitragen.

Steuerflüchtlinge

Es gibt neben den besonders wohlhabenden Österreicherinnen und Österreichern eine weitere Gruppe, die von den Vorteilen des Sozialstaates profitiert – und das extrem kostengünstig. Internationale Konzerne nützen die auf Kosten der Allgemeinheit gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land. Beim Steuern zahlen sind sie hingegen durchaus erfindungsreich. Während „normalen“ ArbeitnehmerInnen einfach die für die Allgemeinheit zu leistenden
Beiträge am Lohnzettel abgezogen werden, drückte etwa der Kaffeegigant Starbucks seine Steuerschuld in Österreich 2013 auf nur 1.311 Euro – bei einem Jahresumsatz von elf Millionen. Auch der Möbelkonzern Ikea sparte aufgrund von EU-weiten Steuerschlupflöchern zwischen 2009 und 2014 etwa eine Milliarde
an Steuern, davon in Österreich etwa vier Millionen.

Aber was ist nun mit den vielen Flüchtlingen? Ihnen wird ja besonders vorgeworfen, für den Untergang des Sozialstaats verantwortlich zu sein. In Oberösterreich haben ÖVP und FPÖ die Halbierung der Mindestsicherung für Flüchtlinge bereits beschlossen, auch auf Bundesebene fordert die Volkspartei die Kürzung von Sozialleistungen für Flüchtlinge. Eine Forderung, der auch der eine oder andere Sozialdemokrat nicht abgeneigt ist.

Die Zahlen zeigen aber ein anderes Bild. Derzeit beziehen etwa 256.000 Menschen die bedarfsorientierte Mindestsicherung, ein großer Teil davon sind sogenannte „Aufstocker“, die in ihrem Job zu wenig verdienen. Insgesamt macht die Mindestsicherung derzeit genau 0,7 Prozent aller Sozialleistungen aus. Für das Jahr 2016 wird erwartet, dass etwa 40.000 Flüchtlinge neu in die Mindestsicherung kommen werden. Diese Menschen bringen unser Sozialsystem nicht zum Kippen.

Legale Arbeit ermöglichen

Damit Flüchtlinge auch rasch ihren Anteil zum Sozialstaat beitragen können, statt diesen über längere Zeit zu belasten, braucht es einen raschen Zugang zum Arbeitsmarkt. Derzeit dürfen AsylwerberInnen während des Asylverfahrens nicht legal arbeiten. Sie werden vom Staat zum Nichtstun gezwungen. Dadurch gehen wertvolle Qualifikationen verloren. Oder sie weichen während der teilweise jahrelangen Asylverfahren in die Schwarzarbeit aus, was wiederum
die legalen Löhne drückt und den Staat Steuereinnahmen kostet.

Abgesehen davon ist Arbeit neben Bildung ein wesentlicher Schlüssel zur Integration in ein neues Land. Wenn sich aber jemand Sorgen macht, dass Flüchtlinge unseren Sozialstaat zerstören, dann sollte er oder sie sich vor Steuerflüchtlingen fürchten und nicht vor jenen, die zu uns flüchten, um Krieg und Verfolgung zu entkommen.

Nina Horaczek
ist Chefreporterin der Wiener Wochenzeitung Falter und gemeinsam mit dem Juristen Sebastian Wiese Autorin von „Gegen Vorurteile. Wie du dich mit guten Argumenten gegen dumme Behauptungen wehrst“ (Czernin-Verlag), das als Wissenschaftsbuch des Jahres 2016 ausgezeichnet wurde.

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