Arbeitswilligkeit alleine sichert nicht den Lebensunterhalt

Foto: Nurith Wagner-Strauss

Karin Heitzmann vom Institut für Ungleichheitsforschung der WU-Wien erklärt, warum die aktuelle Covid-Krise bestehende Ungleichgewichte verstärkt, welche Rolle Bildung dabei spielt und wie soziale Investitionen helfen können, das System stabil zu halten.

KOMPETENZ: Welche Effekte hat die COVID-19-Krise auf die Verteilungsgerechtigkeit und die Ausprägungen der Ungleichheit am Arbeitsmarkt in Österreich.

Karin Heitzmann: Bereits die Gegenwart vor COVID war herausfordernd, nun haben sich die Problemlagen potenziert. Viele arbeitsmarktpolitische Herausforderungen bestehen weiterhin, manches ist noch schwieriger geworden. Die Arbeitslosigkeit ist stark angestiegen, viele sind in Kurzarbeit und etliche von den sogenannten SystemerhalterInnen haben zwar einen Job, sind aber oft sozial schlecht oder gar nicht abgesichert.

KOMPETENZ: Wer war von der Krise am Arbeitsmarkt besonders betroffen?

Karin Heitzmann: Viele Solo-Selbstständige, die ein unregelmäßiges Einkommen haben oder nicht in die Arbeitslosenversicherung integriert sind, waren im Frühjahr sehr plötzlich mit einem totalen Entfall ihrer Einnahmen konfrontiert. Der Härtefallfonds konnte zwar einiges abfedern. Eine nachhaltigere Lösung brächte aber eine Integration der Selbstständigen ins System der Arbeitslosenversicherung bzw. neue Anreize, Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen aus der Scheinselbstständigkeit in ordentliche Arbeitsverhältnisse zu bringen. Aktuell werden viele Selbstständige auf die Mindestsicherung zurückgreifen müssen.

KOMPETENZ: Eine verpflichtende Arbeitslosenversicherung für Selbstständige wäre ein Systembruch.

„Aktuell werden viele Selbstständige auf die Mindestsicherung zurückgreifen müssen.“

Karin Heitzmann

Karin Heitzmann: Hohe Flexibilität, also ein einfacher Einstieg aber auch wieder Ausstieg aus der Versicherung könnte das System auch für SkeptikerInnen attraktiv machen und brächte dieser Gruppe ein hohes Maß an sozialer Absicherung. Denn die aktuelle Krise hat uns deutlich gezeigt, dass Arbeitswilligkeit alleine oft nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu sichern. Die Abhängigkeit des Arbeitsmarktes von externen Entwicklungen ist und bleibt hoch.

KOMPETENZ: Wer sind die VerliererInnen der COVID-19-Krise?

Karin Heitzmann: Die Krise hat uns alle, global betroffen. Zu Beginn waren alle Gruppen von erhöhter Arbeitslosigkeit betroffen, unabhängig vom Ausbildungsstand oder der Dauer der Firmenzugehörigkeit.

Mittlerweile hat sich der Arbeitsmarkt teilweise erholt aber es zeigt sich, dass diese Erholung nicht gleichförmig verläuft. Die ökonomischen Konsequenzen sind sehr ungleich verteilt, weil nicht alle ArbeitnehmerInnen gleichermaßen von Arbeitslosigkeit, Lockdown und Kurzarbeit betroffen sind bzw. waren. Grundsätzlich werden bestehende Ungleichheiten in einer Krise eher verfestigt. Die Armutsbetroffenheit wird in so einer Situation tendenziell größer.


Karin Heitzmann erforscht gesellschaftliche Ungleichheiten in all ihren Facetten. Im KOMPETENZ-Interview erklärt sie, warum auch die ökonomischen Folgen der Krise sind ungleich verteilt sind.
Fotos: Nurith Wagner-Strauss

KOMPETENZ: Wer ist hier im Nachteil?

Karin Heitzmann: Viele Regionen in Westösterreich erholen sich nur schwer, dort sind die Arbeitslosenzahlen deutlich überproportional. Tourismus und Baubranche sind schwer getroffen, auch die Gruppe der ausländischen Beschäftigten findet viel langsamer in den Arbeitsmarkt zurück als andere Beschäftigtengruppen. Das liegt daran, dass diese Menschen überproportional in Branchen arbeiten, in denen viele Arbeitsplätze verloren gingen: Wirtschaftsbereiche, die direkt an den Tourismus gekoppelt sind, beispielsweise Hotels, Gastronomie, Museen, Verkehrsanbieter oder Logistikunternehmen.

KOMPETENZ: Welche Rolle spielt die Bildung bei der Krisenbewältigung?

Karin Heitzmann: Grundsätzlich gilt, dass Arbeitslosigkeit viel mit dem Bildungsniveau zu tun hat. Arbeitnehmergruppen mit hohem Ausbildungsgrad haben sich aktuell ein wenig rascher erholt als schlechter Ausgebildete. Da die COVID-Krise allerdings ein exogener Schock ist, also eine Gesundheitskrise, die alle Menschen gleichermaßen betrifft, ist das Bildungsniveau nicht der einzig bestimmende Faktor.

KOMPETENZ: Wer ist in der Verantwortung gegenzusteuern?

Karin Heitzmann: Wir sind noch mitten in der Krisenbewältigung. Der öffentliche Sektor versucht hier viel beizutragen um Härtefälle abzufedern. Einmalzahlungen oder Kurzarbeit sind sinnvolle Interventionen, die akute Arbeitslosigkeit abfedern können. Mittel- und langfristig wird es weitere Unterstützungen geben müssen.

KOMPETENZ: Wäre nun der Zeitpunkt für tiefer gehende, soziale Investitionen?

Karin Heitzmann: Das Konzept der Sozialinvestitionen wird international forciert, um die öffentliche soziale Sicherung neu zu denken. Der Hintergrund ist ein ökonomischer. Man weiß aus wissenschaftlichen Studien sehr genau, wie man Wohlstand sowohl individuell als auch gesamtgesellschaftlich sicherstellen kann: Das passiert aktuell am verlässlichsten über eine Arbeitsmarktbeteiligung.

Wenn man an diesem System also nicht grundsätzlich etwas verändern möchte, müsste man versuchen, die Menschen möglichst gut dazu zu befähigen, am Arbeitsmarkt teilzunehmen. Man muss schauen, dass alle Gruppen mitspielen können, dass die Menschen in den Arbeitsmarkt einsteigen können, es schaffen drinnen zu bleiben und möglichst hohe Einkommen zu erzielen.

„In unserer Wissensgesellschaft ist der Mensch das wichtigste Kapital, das wir haben.“

Karin Heitzmann

KOMPETENZ: Wie kann das gelingen?

Karin Heitzmann: Man setzt auf Investitionen in Menschen, die eine Integration am Erwerbsmarkt ermöglichen und macht die Menschen so unabhängiger von anderen sozialen Sicherungssystemen.

In unserer Wissensgesellschaft ist der Mensch das wichtigste Kapital, das wir haben. Je besser dieses „Humankapital“ ausgebildet ist, je mehr Wissen bzw. Kompetenzen es in der Vorbereitung angesammelt hat, umso leichter fällt es dem Individuum im konkreten Fall, Einkommen über Erwerbsarbeit zu erlangen.

Auch die aktuellen Arbeitslosenzahlen zeigen: besser Ausgebildete sind weniger gefährdet in der Krise ihren Job zu verlieren. Das muss kein Hochschulstudium sein, jeder Abschluss ist von Vorteil, etwa eine abgeschlossene Lehre. Besonders hoch ist und bleibt die Arbeitslosigkeit von Personen, die maximal über einen Pflichtschulabschluss verfügen.

KOMPETENZ: Können Sozialinvestitionen helfen, bestehende Ungleichheiten zu verringern?

Karin Heitzmann: Sozialinvestive Maßnahmen wirken meist erst mittel- bis langfristig. Zumindest könnte bewirkt werden, bestehende Ungleichheiten nicht noch weiter zu verfestigen.

In einer Krise kumulieren bestehende Ungleichheiten, weil benachteiligte Personengruppen meist auf mehreren Ebenen betroffen sind. Zu einer schlechten Ausbildungssituation kommen häufig Sprachprobleme oder Schwierigkeiten hinzu, überhaupt wichtige Zugänge zum System zu finden.

„Investitionen in die Qualität und das Niveau der Ausbildung vor allem von einkommensschwachen Personengruppen könnten also dabei helfen, Menschen aus der Armut zu bringen.“

Karin Heitzmann

KOMPETENZ: Verstärkt die COVID-Krise bestehende Ungleichheiten am Arbeitsmarkt?

Karin Heitzmann: Wissenschaftliche Studien belegen, dass Armut sehr viel mit einer geringen Arbeitsmarktbeteiligung zu tun hat, die ihrerseits wieder mit dem Bildungsstatus verknüpft ist. Investitionen in die Qualität und das Niveau der Ausbildung vor allem von einkommensschwachen Personengruppen könnten also dabei helfen, Menschen aus der Armut zu bringen.

Wir wissen ebenfalls, dass soziale Ungleichheiten über Generationen hinweg weitergetragen werden: SchülerInnen aus einkommensschwachen Familien wird der soziale Aufstieg in unserem System erschwert. Benachteiligungen zeigten sich etwa auch in der Phase des Home-Schooling.

Sozialinvestitionen können dabei helfen, eine Generation aus diesem Ungleichgewicht sozusagen „herauszuheben“ und damit auch die sozialen Chancen der nachfolgenden Generation zu verbessern, ihr Einkommen über eine Arbeitsmarktbeteiligung zu sichern.

KOMPETENZ: Verstehen Sie sich als Mahnerin für eine Arbeitsmarktpolitik, die langfristig sicherstellt, dass Menschen über ihre Erwerbstätigkeit ihre Existenz sichern können, ohne von sozialen Sicherungssystemen abhängig zu sein?

Karin Heitzmann: Niemand kann in die Zukunft blicken: Eine offene Frage ist etwa, ob es künftig so viele bezahlte Arbeitsplätze wie Arbeitssuchende geben wird. Schon heute existiert da ja ein Ungleichgewicht. Wenn dies der Fall ist, dann braucht es jedenfalls alternative Einkommensmöglichkeiten. Als Wissenschafterin versuche ich, aufbauend auf vorhandenen Daten, langfristige Perspektiven mitzudenken und unterschiedliche Lösungsansätze für die Zukunft zu entwickeln.

Schon in der aktuellen Situation brauchen viele Beschäftigte staatliche Unterstützungen, eine Weiterentwicklung der Sozialsysteme auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse ist daher jedenfalls wünschenswert. Sozialpolitisch würde es etwa Sinn machen, sich Varianten einer Qualifizierungsoffensive zu überlegen: in welche Richtung sollte man ausbilden oder umbilden um die Nachfrage nach Arbeitskräften künftig abzusichern.

KOMPETENZ: In Ihren Forschungsarbeiten fordern Sie eine gewisse Resilienz, also Widerstandsfähigkeit der Unterstützungssysteme ein. Ist unser Sozialsystem fit für die Zukunft?

„Wir können unsere Sozialsysteme widerstandsfähiger machen, indem wir Lücken, die aufgrund der aktuellen Krise erkennbar geworden sind, schließen.“

Karin Heitzmann

Karin Heitzmann: Ein System ist dann resilient, wenn es ausreichend schützt und nicht an bzw. über seine Grenzen kommt. Die aktuelle Krise hat etwa gezeigt, dass in unserem Gesundheitssystem bislang alle notwendigen Behandlungen durchgeführt werden konnten und es letztlich nicht überfordert war.

Wir können unsere Sozialsysteme widerstandsfähiger machen, indem wir Lücken, die aufgrund der aktuellen Krise erkennbar geworden sind, schließen. Ein Beispiel wäre die bessere Absicherung für Selbstständige in der Arbeitslosenversicherung.

Aus jeder Krise kann man also etwas lernen und sie dazu benutzen um das System noch besser und zielgenauer zu gestalten. Es geht hier um ein Gesamtkonzept, das soziale Risiken in einer Krise abfedern kann ohne insgesamt das System zu überlasten.

KOMPETENZ: Wen sehen Sie hier in der Pflicht, Regelungen zu schaffen?

Karin Heitzmann: Wir alle sind in der Pflicht aktuelle Problemlagen aufzuzeigen und Maßnahmen vorzuschlagen. Die Entscheidung darüber, welche Maßnahmen umgesetzt werden, liegt bei der Politik. Österreich ist im Hinblick auf das Erarbeiten von Lösungsvorschlägen gut aufgestellt, das Arbeitsmarktservice arbeitet etwa aktuell gemeinsam mit Gewerkschaften und ArbeitgebervertreterInnen an Lösungen für aktuelle Probleme am Arbeitsmarkt.

Als Grundlage für derartige Entscheidungsprozesse brauchen wir jedenfalls genügend Wissen über aktuelle Benachteiligungen. Informationen müssen rasch und transparent öffentlich gemacht werden – das ist leider noch nicht selbstverständlich.

Zur Person:
Karin Heitzmann erforscht am 2015 gegründeten Institut für Ungleichheitsforschung an der Wiener Wirtschaftsuniversität die vielen Facetten gesellschaftlicher Ungleichheiten, ihre Ursachen und Auswirkungen. Aktuell beschäftigt sie sich mit den Zusammenhängen rund um Covid, Armut und Erwerbstätigkeit.
Infos unter: www.wu.ac.at/ineq/

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