„Alles ist unmöglich – bis man es macht.“

Foto: Donau-Universität Krems

Die Politikwissenschafterin Ulrike Guérot beschreibt in ihrem neuen Buch „Nichts wird so bleiben, wie es war?“ die aktuelle Coronakrise als Chance. Mit ihr eröffne sich ein Fenster, das nicht nur Waren und Währung den gleichen rechtlichen Rahmen biete, sondern auch Europas BürgerInnen.

Ziele wären demnach eine europäische Staatsbürgerschaft und der gleiche Zugang zu Wahlen und Sozialleistungen in ganz Europa, erklärt sie im Interview mit der KOMPETENZ. Das würde dann auch die Einführung eines europäischen Arbeitslosengeldes bedeuten.

KOMPETENZ: Seit mehr als einem Jahr ist die Welt nun mit dem Coronavirus Covid-19 konfrontiert. In Österreich wurden im März 2020 die ersten Maßnahmen gesetzt, da kämpfte Italien bereits mit hohen Infektionszahlen. In Ihrem Buch schreiben Sie, diese Krise habe bei vielen wie eine Röntgenaufnahme gewirkt und ansonsten unsichtbare, schleichende Fehlentwicklungen ans Tageslicht gefördert. Können Sie hier Beispiele nennen?

Ulrike Guérot: Nehmen wir die Digitalisierung an Schulen: hier konnte man beispielsweise in Deutschland, Frankreich, aber auch Österreich feststellen, dass hier die Schulen sehr hinterherhinkten und nicht oder kaum digitalisiert waren. Ich bin zwar nicht der Meinung, dass Digitalisierung alleine eine Lösung ist, aber hier sieht man, dass die Krise etwas zu Tage gefördert hat, was nicht funktioniert hat. Ein zweiter Punkt: im ersten Lockdown gab es den unmittelbaren Reflex, die Grenzen zu schließen – als wenn Grenzschließungen etwas mit Virusbekämpfung zu tun hätten. Dadurch hat man sich dann mehr Schwierigkeiten eingehandelt als Probleme gelöst, denn nun kam es zu Versorgungsschwierigkeiten etwa in der Pflege.

Und dann die soziale Frage: nicht erst seit der Bankenkrise sprechen wir über die sozialen Verwerfungen. Einer, der das immer wieder aufzeigt, ist Thomas Piketty. Corona hat diesen Trend verstärkt. Die Rettungsmaßnahmen helfen Großunternehmen wie Fluglinien und greifen auch bei mittleren Betrieben wie Hotels. Aber im unteren Drittel funktionieren sie nicht. Sozialhilfeempfänger bekommen nicht mehr Geld und auch die Gehälter für Pflegepersonal wurden nicht strukturell erhöht.

KOMPETENZ: Diese Krise hat aber auch gezeigt, dass es möglich war, in Europa das Credo der Keine-Schulden-Politik über Bord zu werfen und viel Geld in die Hand zu nehmen, um die Ausbreitung der Pandemie zu bekämpfen, aber auch um für soziale Stabilität zu sorgen. Ist das ein Hoffnungsschimmer für ein künftig wieder stärkeres Europa?

Ulrike Guérot: Ja, Europa hat viel Geld in die Hand genommen. Im April 2020 wurde ein Rettungsschirm von knapp 1,8 Billionen Euro aufgespannt. Es ist gut, dass zum ersten Mal die Schuldenbremse ausgesetzt wurde – aber der fiskalische Transfer wurde gerade einmal um 0,5 Prozent erhöht. Und da kann man auch sagen: was sind 0,5 Prozent angesichts der größten historischen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg? Dass der Rettungsschirm gespannt wurde, ist ein Hoffnungsschimmer, dass sich etwas bewegt. Ich hätte mir aber gewünscht, dass wir dafür keinen Virus gebraucht hätten. Und es stellt sich auch die Frage – siehe oben: wen retten wir? Die, die schon bisher prekär lebten, die bekommen eben weiter nicht mehr Unterstützung. 

Vielmehr werden die ökonomischen Verwerfungen in der Gesellschaft noch weiter verstärkt. Wir nehmen sehr viel staatliches Geld in die Hand, haben Nullzinsen und fluten die Märkte. Und dann landet das Geld wieder in den Händen jener, die ohnehin viel davon haben. Wenn man viel Geld hat und es wegen Lockdowns nicht ausgeben kann, kauft man sich Wohnungen – und jene, die sich die Mieten nicht mehr leisten können, fliegen raus. Das erklärt auch, dass wir abgekoppelt von dieser großen gesundheitlichen und sozialen Krise eine Partystimmung an den Börsen haben. Denn es gibt ja auch wirtschaftliche Gewinner – von Biontech bis Amazon.

KOMPETENZ: Sie plädieren auch zum Beispiel für eine gemeinsame europäische Arbeitslosenversicherung und verweisen auf Pläne, die es dafür bereits gab. Wie ist das in einem Europa zu bewerkstelligen, wo es in den Nationalstaaten teils noch ein großes Gefälle bezüglich Einkommenshöhe und Kaufkraft gibt?

„Ich möchte gleiches Recht für europäische BürgerInnen.“

Ulrike Guérot

Ulrike Guérot: Wenn wir uns den Eurobarometer ansehen, gibt es unter den BürgerInnen Europas eine Zwei-Drittel-Mehrheit dafür. Die Bereitschaft wird nur im politischen Prozess nicht abgebildet und das Thema wird auch in nationalen Leitmedien nicht aufgegriffen. Sollten wir die Einführung einer europäischen Arbeitslosenversicherung diskutieren? Ich finde, wir sollten das. Der Schilling, die D-Mark, die Lira waren auch sehr unterschiedlich. 32 Jahre hat es von der Idee bis zur Umsetzung der gemeinsamen Währung Euro gebraucht und es war kein Ponyritt. Aber es ist gelungen.

Die Frage ist daher: schaffen wir es, für die BürgerInnen das zu machen, was wir für das Geld und die Güter schon gemacht haben – der Binnenmarkt bedeutet nämlich Rechtsgleichheit für Güter. Wir diskriminieren nicht mehr nach nationaler Herkunft, weil wir keine Zölle mehr einheben. Ich sage also jetzt: ein Markt, eine Währung und eine Demokratie. Ich möchte gleiches Recht für europäische BürgerInnen. Derzeit stellen wir sie leider in Konkurrenz – die GriechInnen bekommen etwa kein Arbeitslosengeld, die ItalienerInnen kein Grundeinkommen. Es gibt zwar die Personenfreizügigkeit, aber diese sorgt für eine völlige Verschiebung von sozioökonomischen Parameter. Das kann gut sein für die Pflegerin, die nun statt in Rumänien in Deutschland arbeitet, aber das ist schlecht für Staaten, die dann einen Mangel an Pflegekräften haben. Die Personenfreizügigkeit ist gut auf der individuellen Ebene, schafft aber Probleme auf der systemischen Ebene.

Wir müssten diese Freizügigkeit in eine Rechtsgleichheit für europäische BürgerInnen einbetten, sodass ein Umzug von Barcelona nach Köln dasselbe ist wie von Berlin nach Hamburg. Es geht um die Fragen: wo darf ich wählen, wo zahle ich Steuern, wo beziehe ich Sozialleistungen. Wenn alle dieselben Bürgerrechte hätten, könnte ich in Spanien Arbeitslosengeld beziehen, selbst wenn ich dort vorher nicht gearbeitet habe. Wenn wir über europäische Demokratie reden, müssen die BürgerInnen gleich vor dem Recht sein. Das wäre das Ziel. Und die Coronakrise könnte der Impuls sein, um diesen Paradigmenwechsel voranzutreiben.

KOMPETENZ: Weitere Konsequenzen wären: eine europäische Staatsbürgerschaft und ein europäisches Budget.

Ulrike Guérot: Die European Citizenship ist keine neue Idee, sie steht schon im Maastrichter Vertrag. Die Coronakrise könnte nun der Trigger sein, sie endlich umzusetzen. Ebenso die Fiskalunion. Wir könnten die großen Ambitionen, die wir einmal hatten, reaktivieren. Auch eine europäische Verfassung haben wir 2003 schon versucht. Wenn wir einen Platz in der Welt zwischen den USA und China wollen, brauchen BürgerInnen die gleichen Rechte bei Wahlen, Steuern und Sozialleistungen. Und dann stehen wir nur mehr einen Meter vor der europäischen Staatsbürgerschaft. Alles ist unmöglich – bis man es macht.

„Alles ist unmöglich – bis man es macht.“

Ulrike Guérot

KOMPETENZ: Sind solche radikalen Änderungen aber nicht doch nur Utopie oder sehen Sie da wirklich reale Umsetzungschancen?

Ulrike Guérot: Wie funktioniert Geschichte? Und: Hannah Arendt hat gesagt, radikal ist am Ende nur das Gute, das Böse wuchert. Radikal ist immer die Wurzel, wir müssen zurück zu den Wurzeln. Die Menschen wissen nicht, wie Europa funktioniert, was der Rat ist. Es wäre gut, wenn wir eine Demokratie hätten, in der die BürgerInnen rechtsgleich wären und über Wahlen entscheiden würden – und nicht der Rat, wie es derzeit der Fall ist.

Wie kommen wir dahin? In der Geschichte führen Krisen zu Veränderungen. Der Euro lag seit den 1970er Jahren in der Schublade, verwirklicht wurde er nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1989, der eine Bürgerbewegung mit den Montagsdemonstrationen in der DDR vorausging. Aber dann gab es diesen legendären Moment, in dem Günter Schabowski gefragt wurde, wann die temporäre Maueröffnung gelten solle und er es nicht recht wusste und dann sagte, ich glaube sofort. Das war ein Moment, der nicht gestaltet war. So ein Moment war auch 9/11. Geschichte passiert durch game changing events.

Die Coronakrise öffnet ein Fenster, das eine Neuordnung möglich machen würde. Der erste Schritt dorthin wäre zu begreifen, dass es nicht unmöglich ist – genauso wie die Wiedervereinigung Deutschlands und die Einführung des Euro nicht unmöglich waren.

Zur Person

Ulrike Guérot, geb. 1964 in Grevenbroich, ist Politikwissenschafterin, Publizistin und Europa-Expertin. Derzeit ist die Gründerin des European Democracy Lab in Berlin Professorin für Europapolitik und Demkratieforschung an der Donau-Universität Krems. 2019 wurde sie mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring und dem Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung ausgezeichnet.

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